Magazinrundschau
Die Magazinrundschau
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
09.12.2002. Der New Yorker staunt über Berlins byzantinische Kulturpolitik. Der Nouvel Obs wundert sich über das Schweigen der Intellektuellen zum Verlagskonzern "Super-Hachette". L'Express würdigt das theologische Dynamit im neuen Buch des Erzbischofs von Paris Jean-Marie Lustiger. Der Economist fordert mehr Chancen für Kinder armer Eltern. Die NYT Book Review jubelt über eine Süßigkeiten-Bibel.
New Yorker (USA), 12.12.2002
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Weitere Artikel: Jeffrey Toobin porträtiert den demokratischen Senator Joseph Lieberman aus Connecticut und dessen Ambitionen, ins Weiße Haus einzuziehen. Wir lesen die Erzählung "The Bare Manuscript" von Arthur Miller.
In einer ausführlichen Rezension würdigt Ruth Franklin die Neuübersetzung einer Biografie (Norton) über den polnisch-jüdischen Schriftsteller und Künstler Bruno Schulz (mehr hier), der 1941 im Ghetto von Drohobycz von einem SS-Mann erschossen wurde. Die Suche nach verschwundenen Wandbildern von Schulz hat der Dokumentarfilmer Bruno Geissler in seinem Projekt "Bilder finden" festgehalten, literarisch begleitet von seinem Vater Christian Geissler ("poetische Informationen") (mehr hier).
Besprochen werden außerdem: Bücher - darunter eine "brutale und brillante" Reportage von Charles Bowden über den Drogenschmuggel an der amerikanisch-mexikanischen Grenze (Simon & Schuster), Theaterstücke - Thornton Wilders "Our Town" und "Crowns" in einer Bearbeitung von Regina Taylor und neue Filme - die diesjährigen Cannes-Beiträge "About Schmidt" von Alexander Payne mit Jack Nicholson in der Hauptrolle und "Russian Ark" von Alexander Sokurov. Außerdem lesen wir ein TV-Kritik der letzten Staffel von "The Sopranos".
Nur in der Printausgabe: Viktor Jerofejew schreibt über den "russischen Gott" Wodka.
Nouvel Observateur (Frankreich), 05.12.2002
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Der ehemalige französische Innenminister Jean-Pierre Chevenement fordert, Frankreich solle sich "unverzüglich" von der Idee einer Unterstützung des Kriegs gegen den Irak trennen, weil sie "allen nationalen und europäischen Interessen" widerspreche. Er lobt statt dessen Schröders "deutschen Weg" in der Außenpolitik als "gute Neuigkeit für Frankreich", weil Frankreich "eine selbstsichere deutsche Nation" brauche. Denn Chevenement glaubt: "Ein deutsch-französisches Paar, auf gegenseitigem Vertrauen beider Nationen beruhend, ist die einzige Chance eines europäischen Europas."
Anne Crignonet und Olivier Tosceront berichten über die ansonsten kritikfreudigen französischen "Intellos", die angesichts des neuen französischen Verlagskonzerns "Super-Hachette" derzeit offenbar lieber "klug" schweigen. Durch die Fusion der Verlags- und Vertriebsgruppe Hachette mit seinem Hauptkonkurrenten Vivendi Universal Publishing (Vup) entstanden, werde dieser "Leviathan" künftig "eines von zwei französischen Büchern sowie acht von zehn Taschenbüchern" herausgeben. Angesichts dieser Fakten sei "die Stille" geradezu "betäubend". Man müsse "sehen, wie sich die Herolde der republique des lettres verrenken" und eher an "friedlich weidende Schafe in der besten aller Bücher-Welten" erinnerten. Neben einer detailreichen Analyse der Auswirkungen von Super-Hachette auf den französischen Buchmarkt haben die Autoren auch einige Stellungnahmen eingesammelt, u.a. von Philippe Sollers, Bernard-Henri Levy und Frederic Beigbeder. Der beschied: "Schriftsteller äußern sich in Büchern, nicht in Zeitschriften."
Wir lesen außerdem Rezensionen von zwei Biografien über Jean Cocteau (mehr hier) und seine Beziehungen: zu Raymond Radiguet (Fayard) und zu Jean Marais (Editions du Rocher) sowie einer Gesamtausgabe (Gallimard) der Werke von Francis Ponge.
Express (Frankreich), 05.12.2002
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Sechs "Persönlichkeiten" nehmen Stellung zu Lustigers Buch - leider nur in der Printausgabe.
Außerdem gratuliert Annick Colonna-Cesari dem Kunst- und Politikmagazin "Art Press" zum dreißigsten Geburtstag und fragt sich, inwiefern die von Catherine Millet (man erinnert sich an ihren Skandalroman "La vie sexuelle de Catherine M.") geleitete Veröffentlichung ihren "kämpferischen" Idealen treu geblieben ist.
Economist (UK), 06.12.2002
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Wer sitzt in den hundert Top-Positionen in Großbritannien? Welche Ausbildung haben diese Leute durchlaufen? Dies hat der Economist schon zweimal gefragt: 1972 und 1992 (siehe hier). Jetzt ist es wieder soweit. Während das Durchschnittsalter gleichgeblieben ist und jetzt bei 57 Jahren liegt, gab es in manch anderer Hinsicht Überraschungen: Die Zahl der Public-School- (Privatschul-) und Oxbridge- (Oxford- oder Cambridge-) Absolventen ist allgemein rückläufig, und besonders bei sakrosankten Institutionen wie der BBC, der Church of England und der Times sind jetzt andere am Ruder. Pikantes Detail: Außer bei der Labour Party hat kein politischer Spitzenmann eine public school und/oder Oxbridge durchlaufen. Und nicht zu vergessen: die ironisch bestaunten Frauen! "Der Frauenanteil unter den 'top people' ist um massive 25 Prozent gestiegen - von vier auf lediglich fünf. Zwanzig Prozent des gegenwärtigen Kontingents stellt die Queen."
Diese Studie nimmt der Economist gleichzeitig zum Anlass, sich für die Wiedereinführung der "grammar schools" auszusprechen, die wieder mehr "soziale Beweglichkeit", sprich Aufstiegschancen für Kinder aus sozial schwächeren Familien, ermöglichen sollen.
Das Establishment, tot? Ja und nein, wenn man dem Economist glaubt. Er hat entdeckt, dass die Briten "korrekt sprechen" wollen. Doch was heißt korrekt? Lange Zeit, so lesen wir, schien es, als würde die britische Standardaussprache, genannt RP (Received Pronunciation), das Zeitliche segnen, weil sie mit "Brutalität, Arroganz und Dummheit" assoziiert wurde. Doch tatsächlich, so der Economist, "gibt es eine große und wachsende Nachfrage nach 'besserem Sprechen'". Allerdings nicht um des RP willen, sondern eher um den Anforderungen einer globalisierten Handelswelt zu genügen, zur besseren Verständigung vor allem mit ausländischen, "Standard-Englisch" sprechenden Handelspartnern.
Weiterhin kann man einen Nachruf lesen auf den Philosophen John Rawls, der beinahe, glaubt man dem Autor, zum "perfekten dritten Baseman" beim Baseball geworden wäre, ein Posten, der blitzschnelles Reaktionsvermögen und kein langes Nachdenken verlangt? Amüsant, wenn man bedenke, wie vergleichsweise "langsam" und bedächtig Rawls sich auf dem Gebiet der "stringenten Argumentation" bewegt habe.
Der Economist verleiht den diesjährigen Freedom of the Press Award an Lira Baysetova, die kasachische Journalistin und Herausgeberin der oppositionellen Zeitung "Respublica 2000", für ihre "mutige Berichterstattung".
New York Times (USA), 08.12.2002
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Zuerst war der Honig, so könnte der erste Satz von Tom Richardsons Süßigkeiten-Bibel "Sweets" lauten. Richardson erzählt nicht nur die Geschichte der Süßigkeiten bis zum heutigen High-Tech-Riegel, er befasst sich auch mit den kulturgeschichtlichen Dimensionen des Naschwerks. Und das in einer profunden, eloquenten und witzigen Art, wie Jane und Michael Stern in ihrer Besprechung jubeln. "Während das Buch seine Struktur aus seriöser Forschung bezieht, besteht sein Fundament aus purer Lust. 'Ich mag Süßigkeiten', sagt er auf Seite 1 und erinnert uns, dass bis zum späten 20. Jahrhundert die Liebe der Menschheit für Süßes mit 'gutem Charakter und Vergnügen' assoziert wurde. Naschwerk ist außerdem eine der wahrhaft universellen Facetten menschlicher Kultur - 'der einzige Aspekt der Küche, der fast immer von Ausländern geschätzt und verstanden werden kann'."
"I Want That" lautet der programmatische Titel der Untersuchung von Thomas Hines über die Faszination des Konsums. Wie auf einem Basar fühlt sich auch Laura Shapiro, wenn sie sich durch Hines etwas konfuses Sammelsurium an Einsichtungen und Beobachtungen, Fakten und manchmal nie beantworteten Fragen wühlt. Am besten ist Hines, findet Shapiro, wenn er kleine persönliche Geschichten rund um den Konsum erzählt. "Der Gemüseverkäufer, der eine Limone nicht erkannte, der Freund, der erheitert feststellte, dass ein Online-Shop ihm nach dem Erhalt seines Kundeprofils eine Sammlung erotischer Zeichnungen empfahl - solche Porträts erzählen uns mehr über zeitgenössiches Einkaufen als der Großteil der Analysen, die drumherum platziert wurden." (Hier das erste Kapitel)
Ansonsten: Patrica T. O'Conner hofft, dass "Rumpole Rests His Case", die neuen Geschichtensammlung John Mortimers rund um seinen legendären Londoner Rechtsanwalt Horace Rumpole (hier mehr) mit ihrem gelungenen Mix aus liebgewonnenen und liebenswürdigen Charakteren, doch nicht die letzte sein wird, wie der Titel ankündigt. Barry Gewen kann sich mit Jody Rosens flott geschriebener Historie von "White Christmas" (erstes Kapitel) einverstanden erklären - "denn wenn es ein Song verdient, dass man ein Buch über ihn schreibt, dann ist es dieser". Jeanine Basinger bescheinigt Simon Louvish, mit "Stan und Ollie" ein durchaus nützliches Referenzwerk und einen soliden Überblick über die Karriere der berühmten Stummfilm-Comedians (hier mehr) geschrieben zu haben, und Robert H. Boyle ist hingerissen von John McPhees "The Founding Fish" (erstes Kapitel), ein Buch über den "american shad" (ein großer Hering, mehr hier).
Schließlich, wie angekündigt, der Jahresüberblick: die sieben besten Bücher 2002 nach Ansicht der Herausgeber (hier ein Audio-Interview zur anscheinend recht lebhaften Diskussion davor), die Bestenliste zu Prosa, Lyrik und Sachbuch, Kinder-, Mystery- und Science-fiction-Literatur, die Auswahl an Paperbacks und zu guter letzt die Hitparaden zu Architektur, Kunst, Küche, Garten, Fotografie und Reisen.
Folio (Schweiz), 02.12.2002
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Zum Aperitif wird gereicht das Tischgespräch zwischen dem Schriftsteller E. Y. Meyer und dem Sänger und Filmemacher Dieter Meier. Bei deren Rezepte-Geplänkel läuft dem Leser unweigerlich das Wasser im Munde zusammen.
Reto U. Schneider verrät, wie man sich so richtig vollstopfen kann, ohne dass sich Sättingungsgefühle querstellen. Wie wärs zum Beispiel mit "fasten, spritzen oder haschen"? (Rezept). Die Suppe hat es in sich. Doch Hans Peter Treichler wundert sich, warum die gute Suppe gerade für negative Redensarten herhalten muss. Herr Ober! Da ist ein Haar in der Suppe! (Rezept) Herbert Cerutti rümpft die Nase über die Methoden der Lachszucht und weiß - es geht auch anders. (Rezept)
Im Hauptgang wird serviert ein Interview mit Michel Bras, "dem derzeit vielleicht interessantesten Koch von ganz Frankreich". Dieser gibt sich als naturverbundener Mystiker: "Meine Herkunft ist einfach, und der Aubrac, meine Heimat, ist ein Ort, wo es eigentlich nicht viel gibt ganz im Unterschied zu anderen Regionen, etwa dem Burgund oder der Gegend um Lyon. Es ist ein karges Land, eine Hochebene, geprägt von Steinen, Wäldern, einem einzigartigen Licht. Mein Terroir sind nicht einzelne Produkte, sondern meine persönliche Erfahrung dieser Landschaft und ihrer Produkte. Ich versuche, die Emotionen, welche die Landschaft, das Licht, ein Windstoss in mir wecken, in ein Gericht zu übersetzen." (Rezept) Rudolf Trefzer berichtet besorgt, dass die italienische Käsevielfalt bedroht ist. (Rezept), und zum Dessert gibt es einen Text von E. Y. Meyer. (Rezept)
Das Digestif - nun ja, es ist die Verdauung selbst, in deren Abgründe Volker Stollorz eingetaucht ist. "Doch keine Angst! Auch wenn im Folgenden verdaut wird, soll dabei niemandem der Appetit vergehen. Eher handelt es sich um ein Plädoyer für ein wenig Ehrfurcht vor den Leistungen eines unterschätzten Organsystems. Denn die Reise in das mehr als acht Meter lange, verschlungene Dunkel der Verdauungsorgane ist in Wahrheit wundersamer als jede Küchenkreation."
Und hier noch einmal das ganze Menü zum Nachkochen.
Times Literary Supplement (UK), 06.12.2002
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Lawrence Norfolk (mehr hier) zeigt sich zugleich befremdet und angetan von Harry Mathews (mehr hier) Buch "The Human Country". Mathews ist der einzige Amerikaner in Oulipo ("Ouvroir de Litterature Potentielle") - einer französische Literatengruppe, die ausprobiert, wie sich mathematische Strukturen für literarische Texte benutzen lassen. Für seinen Text "Their Words, For You" etwa hat sich Mathews auferlegt, mit dem begrenzten Wortschatz von 46 Sprichwörtern auszukommen. Norfolk, dessen Besprechung leider nur auszugsweise im Netz steht, zitiert: "The good, for a dog, is a bone with meat on it. For a cat the good is little, shy dogs, and many mice. The good for mice is no cats, and eggs saved from cats and men. For a horse the good is new grass, and other horses, and a few good men. For man the good is no one thing." (Mehr über Oulipo finden Sie hier und hier, einen Text von Mathews über Oulipo hier.)
Weitere Artikel: Giles Foden sieht in Paul Theroux' "Dark Star Safari", das Theroux' Rückkehr nach Malawi beschreibt, wieder einmal die unverzichtbaren "Zwillingsthemen" seines Schaffens aufflackern: "Sex und Machtbeziehungen". Andrew Lambert schreibt viel - und Interessantes - über das anscheinend vermeidbare russische Feldzugs-Fiasko im Krieg gegen Japan und wenig über das Buch, das Constantine Pleshakov diesem Thema gewidmet hat.
Nur im Print zu lesen unter anderem, was Kathryn Sutherland über Jane Austens Porträts schreibt, Sarah Bakewells "Wild girls" und Katherine Duncan-Jones über "Power und Coriolanus".
Spiegel (Deutschland), 09.12.2002
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Weitere Artikel: der israelische Staatspräsident Staatspräsident Mosche Kazaw spricht im Interview über die Erwartungen seines Landes an die Bundesregierung, den Konflikt mit den Palästinensern und den Kampf gegen das Terrornetzwerk al-Qaida. Thomas Hüetlin schildert den politischen Kampf Sean Penns gegen das Bush-Amerika. Uwe Buse liefert eine Reportage über westliche Pazifisten, die im Irak auf den Krieg warten. Auch Deutsche sind dabei: "Sie verabscheuen das Embargo, sie hoffen auf den Erfolg der Waffeninspektoren, sie fordern eine OSZE für den Nahen Osten, und sie wollen dafür sorgen, 'dass der Kollateralschaden, falls es doch zum Krieg kommt, ein Gesicht erhält'." (Ihres?)
Nur im Print: ein Essay des Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer über den Niedergang des Nobelpreises.