Literarischer Rettungsschirm für Europa

Gib mir einen Kuss auf die Nase, Europäische Frage!

Von Sergej Timofejew
28.09.2012. Wenn der lettische Autor Sergej Timofejew versucht, sich Europa vorzustellen, steht er "vor einer kilometerlangen und stummen Mauer, der Europäischen Mauer, der Mauer meiner eigenen Unfähigkeit, der Mauer eines tiefen Unverständnisses". Nur die Alten wissen, was Europa für sie ist.
Wenn Sie sich entschließen, ein Haus zu bauen,
rufen Sie bei der Polizei durch. Wenn Sie sich mit der Absicht tragen,
einen Kuchen zu backen, lassen Sie einfach eine Strickleiter
aus dem Fenster herab. Wenn Ihnen die
Augen tränen, genügt es, drei Radkappen zu kaufen
und sie einen Hügel hinunterzurollen.

Der fernste Ort, den die Radkappen erreichen,
bezeichnen Sie mit Rom.

Die Rinde des gebackenen Kuchens bezeichnen Sie mit Athen.
Das Zimmer im Haus, wo ein Korbsessel und ein Radio stehen,
bezeichnen Sie mit Berlin.

Dann nehmen Sie am Fenster in der Küche Platz,
kneten melancholisch Brotkügelchen zwischen ihren Fingern
und machen sich so Ihre Gedanken zu Europa. Hat es eine Zukunft?
Sind die Europäer einander verbunden? Sollte ich mir einen neuen Herd anschaffen?

Gibt es Menschen, deren Hautfarbe dunkler ist als meine? Sollte man sie
überhaupt die Schwelle der Wohnung übertreten lassen? Wird das Jahr 2055 ein glückliches?
In mein eigenes europäisches Land jedenfalls rollen Lastzüge
aus Deutschland mit massiven Eichentischen, Stühlen mit gedrechselten Füßen,
Kästen mit Bierkrügen, Kerzenhaltern, Kaffeemühlen nebst Puppen
aus den Siebzigern.

Das alles wird zu Billigpreisen verramscht. Auch ich suche in diesen Haufen
nach Verstärkern und Geschirr für Picknick-Ausflüge im Sommer.

Versuche ich jedoch zu begreifen, welch ein Teil dieser Welt Europa ist
und wie wir diesen verstehen sollen, finde ich mich vor einer
kilometerlangen und stummen Mauer, der Europäischen Mauer, der
Mauer meiner eigenen Unfähigkeit, der Mauer eines tiefen Unverständnisses, wieder.
Ich frage mich: Was geschieht tatsächlich,
was verbirgt sich hinter den Ereignissen und wie erreichen wir trocken
das rettende Ufer?

Sollte ich etwa den gesamten Karl Marx durchlesen? Mich in die Werke
des heiligen Augustinus vertiefen? Auf die Straße gehen oder es mir
im Zimmer in meinem Korbstuhl vor dem Radio gemütlich machen?

Ich knabbere die Rinde des Kuchens auf. Das ist mein Athen.
Ich werfe mit Steinen auf die Radkappen. Das ist mein Rom.
Da taucht hinter dem Hügel ein Alter auf,
in Leinenhosen mit Hosenträgern.
In der einen Hand hält er eine Uhr an einer Kette, in der anderen -
einen Stapel weißer Flyer, worauf zu lesen ist:

"Europa ist eine Handvoll Regeln
des Zusammenwohnens
in dicht besiedelten Gebieten
(für die Millionen Menschen ihr Leben ließen).
PS. Vergesst das nicht.
PPS. Versucht, das nicht zu vergessen."

"Ist das nicht ein wenig naiv, Opa?", frage ich ihn.
"Die Zeiten haben sich geändert …"

Da fördert der Alte aus der Gesäßtasche
seiner Leinenhose eine Tüte mit billigen Bonbons zutage
und drückt sie mir in die Hand:
"Hier, mein Guter, mir fällt keine Antwort ein,
mir fällt einfach nichts Besseres ein …"

Übersetzt aus dem Russischen von Martina Jakobson


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Sergej Timofejews Text erschien in der Reihe "Europe now: Ein literarischer Rettungsschirm für Europa", die das Internationale Literaturfestival Berlin organisiert hatte. Wir bringen in Kooperation mit dem Festival 19 Texte von 19 Autoren, jeden Tag einen.