Literarischer Rettungsschirm für Europa

Grenzland

Von Norbert Scheuer
22.09.2012. Julia lebt in einem Dorf in der Westeifel, direkt an der belgischen Grenze. Hier verlief Hitlers Westwall, hier wurden während des Kriegs Juden über die Grenze geschmuggelt und nach dem Krieg Kaffee und Zigaretten. Heute machen hier die Kraniche Rast auf ihrem Weg in den Süden. Eine Geschichte aus dem Grenzland.
Ende Oktober 2011 fuhr Karl mit dem Zug in Richtung Westeifel; er wollte in ein Dorf, direkt an der belgischen Grenze, wo er beabsichtigte, einige Tage in einem abgelegenen Gasthof zu verbringen. Der Gasthof gehörte Julia, einer Freundin, die Karl lange nicht mehr gesehen hatte. Karl hatte Julia im Sommersemester 1979 an der Universität kennengelernt. Julia hatte sich in einem Seminar neben ihn gesetzt, ihre ledernen Handschuhe ausgezogen und sie sorgfältig auf das Pult gelegt; Handschuhe waren eine ihrer Marotten, ihr persönlicher Stil, wie sie zu sagen pflegte. Ihre Hände waren klein und zart. Obwohl sie nicht verheiratet war, trug sie einen altgoldenen Ehering an der rechten Hand. Karl hatte erst ihre schmalen Hände betrachtet, dann in ihre Augen geblickt. Sie hatte blaugrüne Iris und blondes, strähniges Haar, das über ihre Schultern fiel. Sie waren eine Zeit lang zusammen gewesen. Julia verlangte, dass er ihr den Ring abzog, bevor sie sich liebten. Sie hatte ihm einmal erzählt, es sei der Ehering ihres Großvaters, der Zöllner an der belgischen Grenze gewesen war. Es war wunderbar gewesen, mit Julia zu schlafen, sie war unkomplizierter als alle Frauen, die er nach ihr kennengelernt hatte. Je länger die Zeit mit Julia zurücklag, desto schöner erschien sie ihm. Er blickte entgegen der Fahrtrichtung aus dem Zugfenster. Was in seinem Blickfeld erschien, war bereits Vergangenheit. Kieshalden, ausrangierte Container am Rande der Gleise, Silos hinter einem Durchfahrtsbahnhof, ein Schrottplatz, rostige Autos aus den siebziger und achtziger Jahren, aus der Zeit, in der er jung gewesen war. Karl dachte daran, dass die Griechen das Reich der Toten, den Hades, auch rückwärts betraten, was sie vor sich gehabt hatten, war ihre Vergangenheit. Auf den Höhenrücken drehten sich Windräder, am Himmel schwebten Kranichzüge zu ihren Winterquartieren, die Wälder leuchteten berauschend bunt, der Zug fuhr in einen Tunnel, danach ein Industriegebiet, vom Bahndamm sah er auf dicht aneinandergedrängte Hausdächer einer Ortschaft hinunter.

Julias Eltern starben kurz nacheinander und sie kehrte in ihr Heimatdorf zurück, das nicht weit von hier, irgendwo direkt an der belgischen Grenze, lag. Julia hatte, wie Karl später von Freunden hörte, ihr Studium abgebrochen, hatte geheiratet und war in der Eifel geblieben, um die Gaststätte ihrer Eltern weiterzuführen. Achtundzwanzig Jahre später, Karls damalige Frau Miriam hatte ihn nach vielen Ehejahren verlassen, rief er Julia an. Karl hatte abends im Büro auf die Ergebnisse eines noch laufenden Testprogramms gewartet, als er sie anrief. Sie hatte während des Telefonats hinter der Theke gestanden. Im Hintergrund hörte Karl Musik und laute Gesprächsfetzen. Julia schien wenig überrascht über seinen Anruf. "Heute Abend sind der Musik- und Kegelverein hier, dann ist immer viel los." Sie bat ihn, zu warten, da sie in die Küche musste. "Ich rufe später wieder an", sagte Karl. Er hatte sie nicht mehr angerufen - vielleicht wegen Sandra, die er einige Tage später kennengelernt hatte und mit der er sich über Miriam hinwegtröstete. Sandra und Karl trafen sich seit seiner Trennung an den Wochenenden, besuchten Konzerte, hatten zusammen eine Kreuzfahrt gemacht, auf der sie sich zu oft wegen Kleinigkeiten gestritten hatten.

Zwei Jahre waren seit jenem Telefonat vergangen, Karl saß im Zug, der eine Gegend durchquerte, die er nur aus Julias Erzählungen und von Fotografien kannte. Damals interessierte sich Julia sehr für Fotografie, hatte ihm erklärt, für sie sei eine Fotografie ein Tropfen aus dem Meer der Wirklichkeit. Auf guten Fotos könne man Umrisse einer Wahrheit erkennen, die sonst unsichtbar bliebe. Karl wusste nicht, warum er seiner Vergangenheit hinterherfuhr. In einer Woche musste er wieder im Rechenzentrum sein, wegen einer schon seit einem Jahr geplanten Softwareumstellung. In den letzten Monaten hatte er fast ohne Unterbrechung gearbeitet. Er war jetzt Mitte fünfzig und musste aufhören, jeder technischen Neuerung hinterherzujagen. Während der Zugfahrt bemerkte er zum ersten Mal, wie viel Zeit vergangen war, Zeit, die sich in seiner Erinnerung weiter veränderte, von der er fälschlicherweise geglaubt hatte, sie verschwinde spurlos.

Die Busse fuhren vom Kaller Bahnhofsvorplatz zu den großen Stauseen des Nationalparks und weiter bis zur belgischen Grenze. Auf den Treppenstufen vor dem Bahnhofsgebäude hockten Jugendliche, in der Bahnhofsstraße drängten sich Geschäfte, eine kleine Spielhalle und ein Reisebüro, gegenüber vom Bahnhof lehnte eine Frau mit kurzem rotem Haar an ihrem Taxi und rauchte. Karl ging an ihr vorüber zur Bushaltestelle. Bis sein Bus fuhr, hatte er eine halbe Stunde Zeit. Er kaufte in der Cafeteria des Supermarkts einen Becher Kaffee und setzte sich an einen Terrassentisch, seinen Rucksack mit Kulturbeutel, Unterwäsche und Strümpfen stellte er an das Tischbein. Neben ihm saß ein Junge mit seiner Mutter. Wie man an ihrem Kittel erkennen konnte, arbeitete sie im Supermarkt. Sie sprach mit ihm über die anstehenden Abiturprüfungen. Der Junge weckte in Karl Erinnerungen an seine Jugend, er glaubte, etwas von sich in ihm zu erkennen. Vor dem Supermarkt lag ein großer Parkplatz, auf der anderen Seite der Bahngleise ragten hinter den Häusern rote Sandsteinfelsen auf, in die sich das herablaufende Regenwasser über die Jahrzehnte kleine Rinnen gegraben hatte. Auf dem Plateau wuchsen dürre Kiefern. Als Karl auf der Terrasse in der Sonne saß, sah er Hunderte Kraniche nach Westen fliegen. Er erinnerte sich daran, wie er am frühen Morgen in der Stadt von ihrem Kreischen geweckt worden war. Der Junge interessierte sich nicht für das, was seine Mutter sagte, er blickte gespannt zum Himmel und sah den Kranichen nach. Als sie aus seinem Blickfeld verschwanden, nahm er sein Fahrrad und radelte hinter ihnen her; seine Mutter stand auf, bezahlte und ging wieder zur Arbeit in den Supermarkt.

Die letzten Kilometer von Schleiden bis zur Grenze war Karl der einzige Fahrgast im Bus. Äcker und Wiesen erstreckten sich ins Tal und wurden nur von einzelnen Feldgehölzen und Wäldern unterbrochen, ein Rumpfhochland, das sich aus dem durch Erosion abgetragenen Urgebirge, aus der variszischen Gebirgsbildungsphase und späterer erneuter Hebung entwickelt hatte. Reste gesprengter Bunkeranlagen. Aus den Wiesen ragten die Betonzähne einer Panzersperre, die Teil von Hitlers Westwall, einer Grenzbefestigung, gewesen war. Der Frontverlauf hatte sich in dieser Gegend ständig verändert. Julia hatte erzählt, die Amerikaner seien schon in ihrem Dorf gewesen, als die Ardennenoffensive losbrach. Sie erwähnte eine Fotografin, die jedes Jahr einige Wochen bei ihnen gewohnt hatte. Sie sei viel gewandert, habe abends am Tisch in der Gaststätte gesessen und Julia ihre Fotografien gezeigt. Jahre nach dem Krieg hatte die Fotografin die alte Dorfschule gekauft und dort gewohnt. Sie hatte ein Verhältnis mit einem der belgischen Zöllner und dieser Zöllner sei Julias Großvater gewesen. Die Fotografin hatte den Grenzverlauf aufgenommen, alte Verstecke der jüdischen Flüchtlinge in Erdkellern und Heuschobern, sie hatte Bauern porträtiert, die ihr erzählten, dass sie noch vor der Besetzung und der Verschiebung der Grenze nach Eupen Juden nach Brüssel geschleust hatten, von wo sie nach England, Amerika oder Argentinien emigrierten. Sie hatte das Schmuggeln von Kaffee und Zigaretten in Beinprothesen dokumentiert. Fotografien von Viehherden, die im Winter durch die Grenzwälder nach Belgien getrieben wurden, Bilder vom Schneetreiben und von Kranichen, die im Herbst auf der anderen Seite der Grenze rasteten, um dann zum Überwintern an die Talsperren der Champagne und weiter nach Andalusien zu ziehen.

In der Gaststätte saßen Waldarbeiter - Kettensägen, Arbeitshandschuhe und Helme lagen auf dem Boden vor der Theke. Der Gastwirt kam aus der Küche. Er war ungefähr in Karls Alter, einige Zentimeter kleiner, hatte ein rundes Gesicht, einen Schnauzbart und nur wenige graue, dünne Haare. Karl wusste nicht, ob Julia mit diesem Mann verheiratet war, wusste nicht, wie er rechtfertigen sollte, dass er gekommen war. Er fragte nach einem Zimmer. Der Mann nahm einen Schlüssel vom Brett hinter der Theke, bat Karl, ihm zu folgen, und stieg die knarzenden Treppenstufen hinauf. Die Fotos, die im Treppenhaus an der Wand hingen, zeigten Grenzhäuschen, von Granaten zerstörte Gebäude und Wälder, Zöllner, an einem Schlagbaum stehend, amerikanische Soldaten, die auf ihren Panzern posierten und Schokolade an Kinder verteilten. Der Wirt schloss ein Zimmer am Ende des Flurs auf. Der Raum hatte eine kleine Dachgaube, ein dicht an die Wand gerücktes schmales Bett, ein Sessel stand an einem kleinen runden Tisch. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Waschbecken.

"Toilette und Dusche befinden sich auf dem Flur, den meisten Wanderern genügt das", erklärte der Gastwirt. "Wollen Sie auch zu den Kranichen?" Der Wirt erzählte, die Leute kämen zu dieser Jahreszeit, um die Kraniche an ihrem Rastplatz auf den Feldern hinter der Grenze zu beobachten. Er schwärmte von ihrem Aufbruch im Morgengrauen, wie anmutig sie sich im Nebel über den flachen Gewässern erhöben, um sich über den Birken zu sammeln und Formationen für ihre Reise zu bilden. Nachdem der Wirt gegangen war, setzte Karl sich auf das Bett. Die Abendsonne schien durch die dünne Gardine auf den Teppichboden. Er ging zum Fenster und sah über die Felder, die direkt an die Gärten des Hauses grenzten. Weiter unten im Tal lag ein kleines belgisches Dorf. Die Kraniche waren nicht zu sehen, aber er hörte ihre Rufe, einen Wirbel aus seltsamem Schreien und Trompeten. Karl setzte sich in den Sessel, legte seine Hände auf die Lehne, stand nach einiger Zeit wieder auf, ging zum Bett, sah in die Schublade der Nachtkommode, in der eine Bibel und ein zerlesener Roman lagen. Er streckte sich auf dem Bett aus, blätterte durch die Romanseiten, bis er eine verblasste, sepiafarbene Fotografie von einer jungen Frau entdeckte, die mit einem Mädchen neben einem Zöllner am Schlagbaum stand. Die Aufnahme schien am frühen Morgen entstanden zu sein, Nebelschwaden stiegen aus dem Wald, in den der Weg jenseits des Schlagbaums führte. Im anliegenden Grenzpostenhäuschen saß ein weiterer Zöllner über einen Schreibtisch gebeugt. Die Personen waren zu weit entfernt, als dass man ihre Gesichter hätte erkennen können. Karl betrachtete die Fotografie lange, schlief schließlich darüber ein und wurde von Geräuschen im Nebenzimmer geweckt, jemand ging dort auf knarrenden Dielen auf und ab, sprach unaufhörlich. Karl überlegte kurz, ob er Sandra anrufen sollte, sie hatten seit zwei Wochen nicht miteinander gesprochen, hatten abgemacht, sich eine Zeit lang nicht zu sehen. Sie würde sich über seinen Anruf wundern und Fragen stellen, die er nicht beantworten wollte. Er stand auf, ging zum Waschbecken, drehte den Hahn auf, hielt seine Hände unter das kalte Wasser und wusch sein Gesicht, befeuchtete seine Haare, kämmte sie nach hinten, setzte sich wieder auf das Bett, zog seine Schuhe an. Er nahm den Roman vom Nachttisch, legte die auf den Boden gefallene Fotografie hinein, steckte das Buch in seine Jackentasche und ging nach unten in den Gastraum.

An der Theke standen Arbeiter, die ein Haus in der Nähe renovierten, sie sprachen über den Käufer, einen Holländer, dessen Landsleute alle leer stehenden Häuser in der Gegend aufkauften. An einem Tisch in der Ecke saß eine Gruppe Wanderer über eine Karte gebeugt, die sie zusammenfalteten, als das Essen von Julia serviert wurde. Karl bestellte bei ihr ein Bier, ein Schnitzel und einen Salat. Sie hatte ein schmales, gealtertes Gesicht, lange blonde Haare, die mit einem Haargummi zusammengebunden waren. Wäre Karl ihr irgendwo in der Stadt begegnet, hätte er sie nicht wiedererkannt, so, wie sie ihn jetzt nicht erkannte. Julia notierte seine Bestellung auf einem Block, ging zur Theke und reichte den Zettel in die Küche. Ein Bauer kam in den Gastraum. An der Theke erzählte er von seiner Kuh, die am Nachmittag von einer Weide ausgebüxt war, in einem Nachbardorf im Fenster einer Terrassentür ihr Spiegelbild entdeckte, zum Angriff überging, durch das Glas ins Wohnzimmer sprang und dann verstört im Haus herumlief. Es war schwer, sie zu überwältigen. Sie bekam vom herbeigerufenen Tierarzt eine Beruhigungsspritze, rannte aus dem Haus auf ein benachbartes Grundstück, fiel dort ins Gras und schlief ein. Der Bauer nahm sein Handy aus der Hosentasche und zeigte eine Fotografie von der Kuh im Wohnzimmer. Nach dem Essen las Karl im Roman. Er hatte seit Jahren keinen Roman mehr gelesen. Die Geschichte spielte im 19. Jahrhundert, in einem Eifeldorf, in dem ausschließlich Frauen, Kinder und Alte lebten. Die jungen Männer arbeiteten monatelang in den Städten des Ruhrgebiets und kamen nur zur Erntezeit für einige Wochen nach Hause. Julia zapfte Bier hinter der Theke. Sie erschien ihm älter, als er sich selbst vorkam. Als Julia an seinen Tisch trat, sagte er, er gehe spazieren und komme später wieder. Er ließ das Buch auf dem Tisch liegen.

Lastwagen brausten die Straße entlang. Die Tankstelle mit dem Bistro am Ende des Dorfes hatte die ganze Nacht geöffnet. Im Bistro kaufe Karl einen Kaffee und setzte sich an einen Tisch auf der Veranda. Immer noch hörte man leises Kranichrufen, ohne die Tiere in der Dunkelheit sehen zu können. Die Leute strömten in den Abendstunden in den Supermarkt auf der anderen Straßenseite. Sie tankten, nachdem sie ihre Einkäufe verstaut hatten, ihre Autos, denn in Grenznähe gab es billigeren Diesel. Karl fragte sich, ob er hier Arbeit bekommen würde, überlegte, wie lange er täglich in der Tankstelle oder im Supermarkt arbeiten müsste, um hier leben zu können. Vielleicht könnte er auch den Bauern bei der Ernte helfen. Er fragte sich, warum er nicht bereits vor dreißig Jahren hierhergekommen war, damals, als er Julia vermisst hatte. Der Junge, den er in Kall mit dessen Mutter gesehen hatte, kam mit zwei älteren Männern auf die Veranda und setzte sich mit ihnen an einen Tisch. Der Junge hatte ein Fernglas um den Hals hängen. Die beiden Männer trugen teure Fotoapparate, die sie behutsam vor sich auf den Tisch legten. "Über tausend Kraniche habe ich gezählt", sagte der Junge. "Du müsstest eigentlich längst schlafen, morgen ist doch deine Prüfung", sagte einer der Männer. Sie wollten statt in ihren Betten einige Stunden im Auto schlafen, um in der Nähe der Kraniche zu sein, die sie im Morgengrauen beobachten und fotografieren wollten. "Mein Enkel schafft das schon, der ist klüger als die anderen", sagte der ältere der beiden Männer. "Er ähnelt seinem Großvater, der hat auch immer alles notiert und keine Fotos gemacht, er meinte, beim Ansehen einer Fotografie würde er sich weniger an die Dinge erinnern, als wenn er sie niederschriebe." Es regnete jetzt und der Mann sagte, die Wolken bildeten sich am Tag über der belgischen Küste, stiegen auf und trieben zur Grenze, wo sie in der Nacht ankommen und in Eifelgebirgen abregnen würden. Vielleicht machen die Kraniche deswegen hier Rast. "Und vielleicht auch wegen der Wacholderbeeren, die sie gerne fressen", sagte der Junge.

Karl wechselte die Straßenseite. Holzlaster donnerten vorbei, es duftete nach frischem Harz. Er folgte einem Feldweg, der in einen Fichtenwald führte, zu einer verfallenen Grenzstation, die der auf der Fotografie glich. Da es nun heftig regnete, hatte Karl die Kapuze seines Parkas in die Stirn gezogen. Er trat in Pfützen, Wasser sickerte in seine Schuhe. Als er aus dem Wald auf die Hochebene kam, hatte es aufgehört zu regnen, silbriges Mondlicht schien auf vereinzelte Birken, Ginsterbüsche und flache Gewässer, in deren Nähe die Kraniche sich gesammelt hatten. Er hörte sie auffliegen und mit hohen, krächzenden Stimmlauten miteinander kommunizieren. Vielleicht hatten sie ihn bemerkt. Karl bekam Angst vor den vielen in der Dunkelheit schwirrenden Vögeln.

Er lief zum Gasthof zurück. An der Theke standen Fernfahrer, die im Haus übernachteten. Julia brachte ihm Schnaps. Er versuchte, ihre Hand zu berühren, und sagte leise ihren Namen. Das Buch lag noch auf dem Tisch. Er nahm es und ging nach oben. Im Zimmer zog er seine nassen Kleider aus, die Strümpfe legte er über den Waschbeckenrand, seine Hose zum Trocknen über die Sessellehne, dann hockte er sich auf die Bettkante, der Schnaps säuselte in seinem Kopf und wie immer, wenn er etwas getrunken hatte, sprach er leise mit sich selbst. Schließlich ging er zum Waschbecken, legte die noch nassen Socken beiseite, wusch sich, putzte seine Zähne und legte sich schlafen. Am frühen Morgen klopfte es an seine Tür. Er stand auf, stolperte durch den dunklen Raum. Als er die Tür öffnete, erlosch das Flurlicht und Julia flüsterte, sie habe nicht früher kommen können. Sie habe gewartet, bis ihr Mann mit Freunden zum Rastplatz der Vögel gefahren sei. Die Männer beobachteten dort jedes Jahr, wie die Kraniche mit dem Sonnenaufgang zu Tausenden aufflögen und weiterzögen. Karl umarmte und küsste Julia. Sie setzten sich auf die Bettkante. Karls Fuß stand auf dem Buch, das er vor dem Einschlafen auf den Boden gelegt hatte. Er schob es vorsichtig zur Seite, zog Julias Ring ab und hielt ihn in der Faust. Ein Auto auf dem Parkplatz startete, danach hörten sie wieder das Schreien der Kraniche.

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Norbert Scheuers Text erschien in der Reihe "Europe now: Ein literarischer Rettungsschirm für Europa", die das Internationale Literaturfestival Berlin organisiert hatte. Wir bringen in Kooperation mit dem Festival 19 Texte von 19 Autoren, jeden Tag einen.