Literarischer Rettungsschirm für Europa

Die Katze

Von Anatolij Grinvald
23.09.2012. Anatolij Grinvald, in Kasachstan geboren, lebt in Leipzig und macht sich wenig Illusionen über ein europäisches Haus: "Die Geschichte kennt da einige Präzedenzfälle. Der älteste ist wohl der Turmbau zu Babel. Was Gott damals tat, das wissen wir alle. Nun, solange Europa keine einheitliche Staatssprache hat, wird daraus nichts werden."
1. Die Völkerschlacht bei Leipzig

Du tratst auf die Straße und begannst, Verse vorzutragen. Die Straße befand sich in Leipzig und das erste Gedicht handelte von dieser Stadt:

Arm ist mein Leipzig. Und der arme Bach
schleppt sich durch Leipzig im zerlumpten Hemd.
Unpopulär. Gejagt. Unglücklich in der Ehe.
Redet Touristen an, schnorrt Zigaretten.
Goethe im schmutzigen Keller trinkt Kadarka.
Faust stürmt herein, die beiden prügeln sich.
Ein Sanitäter kommt mit einem Rollstuhl.
Mit Gurten wird, wie ein Geschenk mit Bändern,
Goethe umschnürt und dann hinausbefördert
und in ein Krankenhaus gebracht am Stadtrand.
Dort die Luft so klar, die Sterne sichtbar.
Dort wird ein netter Arzt mit spitzem Bärtchen,
der stark an Mephistopheles gemahnt
durch seine Art, die Seele und die Haut
mit Wort und Nadel zu zerpicken, nachts
erscheinen und verrückte Fratze schneiden.
Dort ist es schlimm. Der Leib vom Krampf geschüttelt.
Dort fließen alle Formen ineinander,
werden zu einem matten Fleck im Spiegel.

Niemand schmiss etwas in deinen blank geputzten Hut eines vom Leben gebeutelten Gentleman. Es blieb nicht einmal jemand stehen, bis auf ein Mädel, das in Eile über die Schulter "Scheiße" keuchte. Aber Russen geben so schnell nicht auf, nicht wahr? Insbesondere die Deutschrussen. Ihnen ist es schnurz, wo sie sterben sollen - ob bei Moskau, bei Stalingrad, bei Berlin oder bei Leipzig. Also hast du weiter und weiter gelesen. Bis dir klar wurde, dass Straßenpoesie wohl bessere Orte kennt als Leipzig.


2. Fatalismus als treibende Kraft der Dichtung

Das Hungern hast du dir angewöhnt. Schon im früheren Leben, in Kasachstan, kehrtest du oft dieser ganzen provinziellen Zivilisation den Rücken und fuhrst zur Datscha eines treuen Freundes - was wiederum bedeutete: vier, fünf Tage lang ohne Futter. Nur mit Tee und Zigaretten. So schriebst du einmal: "Zigaretten unterdrücken den Gedanken ans Essen wie Pornos den Gedanken an echte Liebe". Das Hungergefühl legte sich am dritten Tag. Am sechsten Tag packte dich ein furchtbarer Durst. Also fuhrst du vom schneebedeckten Außenbezirk zu einem anderen, nicht weniger treuen Freund. Und: ein Liter Wodka für zwei. Auf leeren Magen haute es einen schon nach dem ersten Stamper um. Oder waren etwa die Stamper so groß? Wir lasen uns eigene Verse vor. In der Art: "Küsse, die ohne Liebe gezeugt sind, liegen wie Raureif auf den Lippen." Und gingen die dritte Flasche holen. Nach der dritten eilte der Freund gewöhnlich, sich vor den nächsten Zug zu schmeißen. Und natürlich liefst du ihm anfangs noch hinterher und bewahrtest ihn davor. Dann warst du es leid, ihm nachzuhetzen. Er kam auch so jedes Mal zurück. Ein wenig platt, aber nicht durch die Räder, und mit wildem Flackern in den Augen. Wahrscheinlich hatte der Zug andauernd Verspätung oder es war jedes Mal der verkehrte. Oder er hatte es endlich kapiert, dass der Stoff seit "Anna Karenina" abgenudelt ist. Aber es blieb nicht bei dem Spiel mit dem Zug. Manchmal wurde auch eine Patrone genommen und - in Ermangelung einer Pistole - auf den heißen Herd gesetzt. Und die Kugel sauste noch lange herum, von allem abprallend, durch die kleine Küche, wie eine Hummel, die ins Fenster hereingeflogen war, und erstarb schließlich unter dem faszinierten Blick des Freundes. Er aber saß und rauchte beglückt. Und das, obwohl Rauchen schädlich ist. Ja, dort war Selbstmord Nationalsport. Der Freund hatte immerzu Pech in der Liebe. Außerdem wurde er nie gedruckt. Du wurdest gedruckt. Manche städtische und regionale Zeitungen haben sogar mal was springen lassen. Ein Honorar reichte meistens für ein paar Brote oder drei Flaschen Wodka oder einige Schachteln Billigzigaretten. Du entschiedst dich für Letzteres. Und blicktest dann sinnend zum Fenster hinaus, dem Freund nach, der sich abermals vor den Zug werfen wollte. Echte Poesie.
Apropos. Eine für dich passende Definition von Poesie hattest du damals noch nicht gefunden. Erst hier, in Deutschland (das weißt du noch ganz genau), zwischen der fünften und der sechsten Flasche Bier hast du mit zitternden Händen notiert: "Poesie ist die Konzentration und die Weitergabe positiver Energie (Energie plus) von Mensch zu Mensch mittels eines äußerst kompakten Texts (das heißt, durch eine große Anzahl assoziativer Lösungen)."


3. Der Sonnenmaler

Mit Arbeit sieht es in Leipzig übel aus. Vor allem für einen russischen Dichter. Zig Versuche, irgendwo als Copyrighter unterzukommen, sind allesamt glänzend gescheitert. Obwohl das Portfolio gar nicht mal schlecht war:

Portfolio

Napoleon: "Vereinigtes Europa".
Stalin: "Unvergessliche Reisen nach Kolyma".
Putin: "VIP-Urlaub im Norden Russlands".
Stolypin: "Reisen mit Komfort".
Dschingis Khan: "Reise entlang des Goldenen Rings".
Boris Becker: "Verwenden Sie Kondome von Durex".
Michael Jackson: "Duf-Seife macht Sie wirklich weiß".
Galileo: "Sie würde sich nicht drehen, hätte ich kein Omegon-Teleskop".
Väter der Heiligen Inquisition: "Fäsch-Entflammer für Feuer und Grill".
Maria Scharapowa: "So stöhne ich unter dem Vaginal-Stimulator Big-Bob!"
Santana: "Ich habe mir bloß ein Gitarrenlehrbuch gekauft".
Lenin: "Küchengeräte für Hausfrauen zum Regieren eines Staats".

Russische Zeitungen zahlten auch nichts. Obwohl du sogar den verzweifelten und für einen Dichter ganz und gar ungehörigen Schritt unternahmst und an Hochglanzmagazine für Herren eine Auswahl von Gedichten mit eindeutig erotischem Inhalt schicktest:


Matura

wer fiel wer viel vergoss an blut
hat roten mohn auf seiner iris
wie weh gedichte schreiben tut
der oberfläche des papiers
gebrandmarkt auch das schulterblatt
ein schnapsglas-auge blickt verdrossen
wo man auf uns gewartet hat
ist wegen inventur geschlossen
glimmstängel durch die wolken ziehn
ein wenig chatten kaffee breakfast
den göttern haben wir verziehn
wir waren selber götter etwas
heißt können vor dem scheiß-TV
grimassen schneiden und da unten
die mädels lecken fast schon wie
ein straßenköter seine wunden


Und abends lasen wir Tschechow

Püppchen, lebendes, zartes, kleines;
bis zum Himmel die Schleife und der Sommer noch nicht zu Ende.
Zurück kehrt die Nacht und näht in ihr schwarzes Leinen
einfach alles ein: Umrisse, Stimmen, Atem und Hände.
Ein Datschenroman mit bunten Bildern und Regen,
samt Schaukelstuhl und einem alten Empfänger ...
Live-Übertragung von Adams Fall aus dem Garten Eden ...
Er braucht sehr lange ... Er braucht viel länger ...
Und dann - erinnerst du dich - beim Abendessen -
an den rassigen Streuner - den braven?
Du trugst Wrangler, du warst noch ein Mädchen, eine Prinzessin,
ganz eingeengt, dort wo die Nähte sich trafen.

*

Wir tranken Bier und ich erzählte dir von Konfuzius.
Ich erzählte: Konfuzius habe gesagt, es sei schwer,
eine schwarze Katze in einem dunklen Zimmer zu finden,
vor allem dann, wenn sie gar nicht dort ist.
Danach löschten wir das Licht
und im Zimmer wurde es sehr, sehr dunkel.
Ich küsste dich so heftig,
dass mein Nachbar von deinem Gestöhn
nicht einschlafen konnte.
Und du küsstest mich so heftig,
als hätten deine Lippen nur auf mich gewartet.
So waren wir bemüht, Liebe zu finden -
eine schwarze Katze in einem dunklen Zimmer,
die möglicherweise gar nicht dort war.


Offenbar war der erotische Inhalt dieser Gedichte nicht eindeutig genug. Denn eine Antwort erhieltst du nicht. Dafür zeigte eine russische Zeitung Interesse an deinem Essay "Der Deutsche":

Der Deutsche

Es wird behauptet, die Deutschen hätten keinen Sinn für Humor.
Ich treffe meinen Professor von der Uni. Und sage ihm: Hallöchen, Herr Professor! Ich hab Sie erst vor Kurzem gesehen. In einem Video-Chat. Sie trugen Damenunterwäsche und masturbierten. Da läuft er rot an und wird aus irgendeinem Grund verlegen. Als wäre er das wirklich gewesen. Aber nein, Herr Professor, der war ohne Brille. Es war ein anderer. Also ehrlich jetzt. Mensch, es war doch nur ein Scherz. Die Deutschen haben keinen Sinn für Humor. Sie glauben mir nicht? Ich gehe zur Post, will etwas absenden. Frage: Geht das auch per Brieftaube? Das Fräulein runzelt verwundert die Stirn. Und beginnt zu erklären, Brieftauben seien schon seit mehreren Jahrhunderten außer Betrieb. Es gehe nur per Auto. Verdirbt mir einfach die ganze Romantik ... Dabei war der Brief für meine Liebste gedacht. So etwas geht nur mit Taubenpost. Oder Folgendes: Ich stehe an der Kasse, um Wodka, Socken, ein Schachspiel und Präservative zu erwerben. Zahle mit der Karte. Unterschreibe. Die Verkäuferin vergleicht die Unterschriften. Sieht täuschend echt aus, nicht wahr?, frage ich sie. Ich hab auch die ganze Nacht geübt ... Aber nein, auch sie hat keinen Sinn für Humor. Ruft die Bullen. Die fragen mich auf dem Revier: Warum machen Sie solche Witze? - Tja, ich wollte nur aufs Revier gelangen, ihr Herren Polizisten. In meinem Magen stecken drei Kilo Sprengstoff. Allahu akbar. Die prügelten mich noch ziemlich lange. Aber erst nachdem die Spezialabteilung abgerückt war. Nein, dieser Sinn ist den Deutschen einfach nicht gegeben. Später im Krankenhaus fragen die mich: Was möchten Sie frühstücken? - Gebratene Grashüpfer, antworte ich. Hab ich bekommen. Aber dafür muss ich jetzt nach Feierabend Sozialdienst leisten, um die Grashüpfer abzubezahlen. Die kamen nämlich, wie sich herausstellte, aus einem China-Restaurant. Grashopferus seltenus. Eine aussterbende Art. Bei der Arbeit frage ich: Sag mal, Ramona, im Bankomaten, da sitzt doch so ein lieber Onkel drin und gibt armen Leuten Geld, nicht wahr? Hat's nicht kapiert. Rief die Klapse an. Da liege ich also in der Klapse. Warum auch immer, in der Abteilung für Drogensüchtige. Wird ein Neuer eingeliefert. Der hängt zwei Tage lang am Tropf und schweigt. Am dritten wacht er auf, macht große Augen und fragt: Sag mal, Bruder, wo sind wir eigentlich? - Wir fliegen zum Mars, antworte ich. Als Freiwillige. Sechs Jahre sind bald um. Langsam erwachen wir aus der Anabiose. Geh mal und hol dir beim Expeditionsleiter einen Raumanzug. Um das Raumschiff verlassen zu können. Den Flur entlang, die vorletzte Tür rechts. Das heißt, ich schicke ihn geradewegs zum Chefarzt. Er glaubt mir. Marschiert also los. Und tschüss, auf Nimmerwiedersehen. Hat wohl das Raumschiff verlassen können ... Als ich entlassen wurde, haben alle geweint. Vor Glück und Freude. Komm ich also aus der Klapse raus und stehe an der Haltestelle. Warte auf die Straßenbahn. Neben mir eine junge Frau. Ich will sie kennenlernen. Klarer Fall: Das geht am besten mit einem Scherz. Oder mit einem Kompliment. Ich beschließe, beides zu kombinieren. Also komm ich näher und sag ihr: Du bist so schön wie eine Kalaschnikow ... Und gleich dazu, bevor sie antworten kann: Erkennst du mich etwa nicht wieder? Haben zusammen in Tschetschenien gekämpft. Seite an Seite. Waren beide Scharfschützen. Weiß Gott. - Hat's nicht kapiert. Ist abgehauen. Und ich hinterher: Sei vorsichtig, Schwester! Die Tschetschenen sind uns auf der Spur ...
Nein, die Deutschen haben keinen Sinn für Humor. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Schließlich bin ja selbst ein Deutscher. Oder beinahe. Meine Oma hat mit einem deutschen Schäferhund geschlafen.

Aber die Korrespondenz mit dem Sekretär des Redakteurs brach abrupt ab, sobald du das Honorar erwähnt hast. Auch die Russen haben keinen Sinn für Humor.


4. And a Bottle of Rum

Deutsche Katzen sind wohlgenährt. Wenn ich auf der Straße eine wohlgenährte Katze erblicke, erinnere ich mich an eine Geschichte, die mir meine Oma erzählt hat. "Ich war sieben Jahre alt, als der Krieg begann. Wie alle Russlanddeutschen wurden wir vertrieben. Wir waren drei Kinder in der Familie: ich, mein Bruder Konstantin und meine Schwester Elvira. Was haben wir Kinder uns gefreut, als uns die Eltern sagten, wir müssten verreisen. Denn wir waren bis dahin nie fort gewesen und hatten auch keine Ahnung, dass wir niemals zurückkehren würden. Nach einem kleinen Zwischenhalt im Kaukasus wurden alle Deutschen auf ein vierstöckiges Schiff verfrachtet, das ins Kaspische Meer stechen sollte. Es hieß, es sei eine Jungfernfahrt, sodass niemand von der Leitung wusste, ob der Tanker überhaupt seetauglich ist. Darum folgte ihm ein anderes, kleineres, auf jeden Fall sturmfestes Boot. Die Leute sagten, es sei für die Leiter bestimmt, falls unser Schiff doch sinken sollte. Dabei war es Herbst, es hat stark gestürmt, der Tanker neigte sich bei jeder Welle und jedes Mal schien es, gleich geht er unter. Die Menschen hatten Angst, sie weinten, und dann ließ man das Schiff anhalten. Wenn es stand, wurde es nicht mehr so hin und her geschaukelt. Ich weiß nicht genau, wie lange wir unterwegs waren, aber es kam mir sehr lange vor. Etliche Menschen starben auf dem Schiff vor Hunger und Krankheit. Die wurden dann über Bord geworfen. Greise und Kinder ... Dem Tanker folgten immer einige Schweinswale. Eine Frau wollte sich von der Leiche ihrer Tochter nicht trennen, während die Schweinswale den Geruch des toten Mädchens witterten und gegen die Flanken des Schiffs trommelten, um es umzustoßen. Also rissen die Leiter ihr die Tochter aus den Armen und warfen sie über Bord. Kaum war der Leib im Wasser, verschwand er. Nur der schwarze Rücken eines Schweinswals blitzte kurz auf.
In Astrachan mussten wir in einen Zug steigen, der war eigentlich für den Viehtransport gedacht. Es gab weder Toiletten noch Schlafgelegenheiten. Die Menschen schliefen und aßen am Boden, hier verrichteten sie auch ihre Notdurft. Die Fahrt dauerte über einen Monat. Auch hier starben etliche unterwegs. In Kasachstan wurden wir immer wieder in fremden Häusern untergebracht (das nannte man Umsiedlung). Nach diesen Schikanen landeten wir in einem kleinen Badehaus. Vater wurde schon damals zum Arbeitsdienst einberufen. Ein Überlebender erzählte mir später, Vater hätte einen Fluchtversuch unternommen. Dabei wurde er gefangen und zu Tode geprügelt. Wir aber mussten die ganze Zeit hungern. Wir zogen von Hof zu Hof und bettelten um wenigstens ein paar Kartoffelschalen. Mutter briet und zerstampfte sie und kochte daraus eine Suppe. Jeder von uns bekam eine kleine Schöpfkelle von dieser Brühe, allein Konstantin, der große Bruder, bekam zwei Schöpfkellen. Wir weinten und fragten, warum er mehr bekomme als wir, und die Mutter erklärte, er sei ein Junge und brauche mehr, sonst müsste er sterben. Wir antworteten, wir müssten auch sterben. Und bei unserer Nachbarin starb tatsächlich der Junge ... Auch sie hatte zwei Töchter und einen ältern Sohn. Doch war die Suppe gerecht unter den Kindern aufgeteilt worden. Später weinte sie und sagte unserer Mutter: Warum hast du mich nicht gewarnt, dass der Junge zwei Schöpflöffel bekommen soll, vielleicht wäre er nicht gestorben! Mutter wusste darauf nichts zu erwidern. Eines Tages gingen Oma und ich in ein Nachbardorf, um dort zu betteln. Da bewarfen uns die Kinder mit Steinen und riefen uns "Faschisten" nach. Ein Stein traf Oma am Kopf. Sie schaffte es eben noch nach Hause, legte sich hin, aber stand nicht mehr auf. Und im Winter haben die Wölfe den Hund unserer Nachbarn angegriffen. Jemand kam ihnen wohl dazwischen, sodass noch etwas übrig blieb. Diese Reste gaben die Nachbarn uns.
Einmal kam in unser Badehaus eine Katze. Sie sah Konstantin und dachte sich wahrscheinlich, wo ein Mensch ist, da ist auch Futter. Während Konstantin seinerseits dachte, eine Katze bedeutet etwas zu essen. Er rief sie vorsichtig, und als sie kam, begann er sie zu würgen. Aber die Katze wollte nicht sterben. Sie kratzte ihm ein Auge aus, doch er ließ sie immer noch nicht los und drückte umso fester zu. Er schrie vor Schmerz, aber ließ nicht locker, bis sie tot war. Mama brachte Matlina Paas, eine Medizinfrau, mit. Die hielt einen Löffel in die Flamme und presste ihn dann gegen das auslaufende Auge. Dann pflegte sie die Wunde mit irgendwelchen Kräutern und gab Konstantin etwas zu trinken, was ebenfalls aus Kräutern gemacht war - das sollte seine Schmerzen lindern. Als wir die Katze aßen, fragte Konstantin zufrieden: Nicht wahr, Mama, jetzt bin ich ein echter Pirat? Alle Welt kannte ihn damals. Konstantin? Der mit nur einem Auge? Ein guter Mann. So redeten über ihn die Leute."


5. Die Kunst, Steine bewegungslos zu machen

Anfangs hast du in Deutschland als Möbelpacker gearbeitet. Dann als Elektriker. Bis heute ist es dir schleierhaft, wie du, völlig untauglich für solcherlei Tätigkeiten, nicht an einem Stromschlag gestorben bist. Welches Kabel durchschneiden? Das blaue? Das rote? Wie, ein Minenentschärfer, Teufel noch mal! Dann hast du eine russische Zeitung herausgegeben. Die einzige Einnahmequelle waren die Werbeanzeigen. Eines Tages brachte ein Reklameagent die Anzeige eines russischen Autoverkäufers. Eine Woche nach dem Erscheinen des Blattes wurde der Händler verhaftet. Er hatte wohl mit gestohlenen Fahrzeugen gehandelt. An dem Einsatz nahmen etwa zweihundert Polizisten teil. Sowie einige Hubschrauber. Damit war die Zeitung erledigt. Sprachkurse hast du keine bekommen, schließlich hattest du sie schon zuvor besucht. Und zwar ein ganzes halbes Jahr lang. Das schimpfte sich Stufe A 1. Und so kamst du zur Uni: ohne Deutschkenntnisse. Die Dozenten freuten sich von Herzen, als dein Studium abgeschlossen war. Jetzt hast du den Titel eines MA in Slawistik und Schulden bei der Bank.


6. Wir, die Europäer

Nichts bindet die Menschen stärker zusammen als gemeinsame Arbeit. Blut und Schweiß. Blut von den geplatzten Schwielen an den Händen. Schweiß (in Kasachstan haben wir im Winter oft eine Temperatur von minus fünfundvierzig Grad und der Schweiß gefriert im Gesicht zu einer dünnen Kruste). Da war es absolut egal, wer du bist: ein Russe, ein Kasache oder ein Deutscher. Der Arbeitseifer verband alle miteinander. In Deutschland herrscht Arbeitslosigkeit. Ein guter Teil der Russen, der Türken, der Deutschen sitzen zu Hause und hassen einander im Stillen. Die Deutschen hassen die anderen im Stillen dafür, dass sie Arbeitslosengeld kassieren. Wenn die anderen jedoch arbeiten gehen, dann heißt es, dass sie den Deutschen ihre Arbeitsplätze wegnehmen. Die anderen mögen die Deutschen nicht, weil diese so arrogant sind. Und auch nicht besonders kontaktfreudig. Ja, Deutschland ist eine geschlossene Gesellschaft. Die Fremden stehen verzweifelt im Abseits und rauchen. Verrauchen das ganze Geld der arbeitenden deutschen Steuerzahler. Und der Ausweg? Du glaubst, ihn gefunden zu haben: ein vierstündiger Arbeitstag. Zumal eine Volksweisheit sagt, die Sklaverei sei nicht aufgehoben, sondern lediglich durch achtstündige Arbeitstage ersetzt worden. Natürlich wurden über den vierstündigen Arbeitstag bereits unzählige Bücher geschrieben, die alle Vor- und Nachteile aufzeigen. Für den größten Vorteil hältst du zum Beispiel das inflationäre und abgenutzte Wort "Integration". Und wenn der Strom der Emigranten und Aussiedler aus Osteuropa allmählich nachlässt, so wird doch die Flut der Leute aus Afrika und dem Nahen Osten größer und größer. Aber Gott sei Dank bist du kein Politiker.
Europa will ein gemeinsames Haus Europa errichten. Die Geschichte kennt da einige Präzedenzfälle. Der älteste ist wohl der Turmbau zu Babel. Was Gott damals tat, das wissen wir alle. Nun, solange Europa keine einheitliche Staatssprache hat, wird daraus nichts werden. Dasselbe betrifft die Identität. Solange in deinem Ausweis steht, du bist ein Deutscher, ein Franzose, ein Türke oder ein Russe, wirst du kein Europäer sein. Ja, im Pass sollte "Europäer" stehen. Das ist ein unumgängliches Opfer. Denn alle Umbrüche geschehen zuerst im Bewusstsein. Dort beginnt auch die Integration eines jeden einzelnen Staatsbürgers in ein gemeinsames europäisches Bewusstsein.


7. Warum die UdSSR zugrunde ging oder: Hallo, Georgi Petrowitsch

In der UdSSR gab es alles. Fast alles. Es gab eine gemeinsame Sprache, es gab einen gemeinsamen Glauben - an Lenin und an seine Ideen. Der Glaube an eine ephemere Zukunft unter der Bezeichnung "Kommunismus" ersetzte den Glauben an Gott. Nur eine Kleinigkeit gab es nicht: Es gab keine Milch und keine Wurst. Diese Kleinigkeit aber war entscheidend. Du weißt es noch ganz genau, wie du morgens um fünf aufstehen musstest, um Milch für ein neugeborenes Brüderchen zu kaufen. Das Geschäft öffnete um sieben, aber es galt, schon viel früher dort zu sein, um sich einen Platz in der Schlange zu sichern. Denn für alle reichte Milch nur auf dem Papier: Es gab da entsprechende Tabellen in Erdkunde-Lehrbüchern. Tja, in Wirklichkeit mussten die Menschen draußen bei minus dreißig oder minus vierzig Grad über zwei Stunden lang frieren. Und sobald das Geschäft öffnete, wurde es im Sturm genommen, wie der Winterpalast 1917. Das Gedränge war derart stark, dass die Blechkanne deinen noch schwachen neunjährigen Händen von hungernden Volksmassen regelrecht entrissen wurde, sie verschwand dann im brodelnden Menschenstrudel. Wurst und Butter bekam man nur bei Vorlage von speziellen Lebensmittelkarten. Ein Kilo Wurst pro Person pro Monat. Und ein halbes Kilo Butter.
In der Schule warst du ein Politaufklärer. Einige entfernte Verwandte und Freunde der Familie lebten bereits, trotz des Eisernen Vorhangs, in Deutschland. Und eines Tages (da warst du dreizehn Jahre alt) führtest du eine Informationsveranstaltung durch, bei welcher du über die Vorzüge des Lebens im Kapitalismus am Beispiel einfacher Arbeiter sprachst. Eigentlich nichts Besonderes. Du hast bloß die Einkommenshöhe verglichen sowie einige Kostenfaktoren. Milch, Wurst, Fleisch, Kleidung. Das Ganze war dann ein Riesenskandal. Man wollte dich gleich der Schule verweisen. Aus dem Bund der Pioniere rauswerfen. Erschießen, erhängen, in den Gulag schicken. Doch leider warst du noch keine vierzehn. Und somit noch nicht strafmündig. Die darauffolgende politische Informationsveranstaltung wurde vom Historiker und Geografen Georgi Petrowitsch durchgeführt. Er bewies anhand von Tabellen sehr eindrucksvoll die Vorzüge des Lebens im Sozialismus. Bei dieser Veranstaltung waren sowohl der Schuldirektor als auch der pädagogische Leiter zugegen. Bei jedem Wort von Georgi Petrowitsch nickten sie zustimmend. Aber kaum war der Eiserne Vorhang gefallen, da reiste Georgi Petrowitsch nach Deutschland aus. Wohlgemerkt: als einer der Ersten. Es stellte sich heraus, dass seine Frau eine Russlanddeutsche war. Es heißt, er sei jetzt irgendwo hier in einer leitenden Position. Zwar in keiner besonders wichtigen, aber immerhin in einer leitenden.
Doch es waren nicht Wurst und Butter, woran die Sowjetunion zerbrach. Du vermutest (und es ist nicht nur deine Meinung), das Sowjetsystem mit seiner Propaganda wurde von den Beatles besiegt. Oder genauer: von jenem Geist der Freiheit, der in ihren Lieder wehte.


8. Die neue Religion zum privaten Gebrauch

Nun, der Kommunismus verlor für dich an Reiz, als du noch ein Teenager warst. Aber auch andere Religionen fanden keinen Platz in deinem Herzen. Also hast du dir eine eigene ausgedacht. Sozusagen: zur inneren Anwendung. Ra-Yoga oder Sonnenyoga. Yoga für Astralreisende. Im Prinzip überhaupt nichts Neues. Eine Synthese aus Agni-Yoga, einer Reihe tibetischer Übungen zum Erwecken des Kundalini und der Techniken zum Betreten der astralen Welt. Überhaupt nichts Neues. Im Prinzip. In alten Zeiten beherrschten das alle Jungs. So bist du dir sicher, dass die geheimnisvollen Zeichnungen aus der Wüste Nazca in Südamerika von den Burschen zur Orientierung während ihrer Astralreisen verwendet wurden. Dasselbe gilt für ägyptische Pyramiden. Du bist überzeugt, dass selbst Nostradamus dieses Wissen nutzte, als er seine Prophezeiungen schrieb. Keine Astrologie, allein die Astralwelt. Er verließ seinen Körper und tauchte in die Zukunft. Da liegt alles ganz offen auf der Oberfläche. Es ist, als würde er dort noch jetzt von seinem 16. Jahrhundert aus schreiben. Irgendwann muss ich ihn mal besuchen.


9. Russland

Im Grunde glaubst du, dass an allem, was gerade in Russland geschieht, die USA und Europa schuld sind. Denn wo bewahren diese Menschenartigen und der Tyrann selbst ihr Geld auf? Richtig, in europäischen Banken. Hier kaufen sie Immobilien en gros, hier erholen sie sich von ihrer netten Beschäftigung - dem Diebstahl. Hier schicken sie ihre Sprösslinge zur Ausbildung hin ...
Aber von Russland sollte man besser in Versen sprechen:

Ich habe dir den Weg gezeigt, oh Wanderer ...
Aber mein Finger schmerzt vor Eiseskälte ...
Du suchst nach Gott ... mein Gott ... dann sei es selber ...
Ich wär es selbst ... wär ich nur etwas jünger ...
Du suchst nach Wahrheit? Die ist schlicht, mein Junge ...
Hier ist sie, in zwei Worten, wenn ich mich
noch recht entsinne: Es ist Sturm ... eine Galeere ...
Es wankt der Mast ... und wir sind angekettet ...
Du fragst nach Liebe ... Gut, so höre zu:
Du brauchst dein Leben lang keinen zu lieben ...
Liebe ist schön, doch sind Hetären schöner ...
Vielseitiger, wenn auch ein wenig teurer ...
Der Sinn des Lebens? Nun, ein blanker Unsinn ...
So in der Art: Du sollst in Würde sterben ...
Und dann? Die Götter, die du angebetet,
die nehmen dich in ihrer Hölle auf ...
Zeter und Fluch ... Hier aber waltet Cäsar ...
Und wie ein Weib liegt unter ihm Judäa ...
Wir sind nur Pöbel, dem Visionen fehlen ...
Und Gott in Rom ist lasterhaft und böse ...
Und rings Visagen abgestumpfter Sklaven ...
Und römische geharnischte Kohorten ...
Was also tun? Geh, kauf dir eine Eselin ...
Steig auf und reite in die nächste Stadt ...


10. Liebe

Herrn
Dr. med Thomas Paschke
Schlehenweg 30
04329 Leipzig

Abteilung für innere Medizin,
Neurologie und Dermatologie

Universitätsklinik Leipzig
Reanimation
Leitender Arzt
Sirak Petros

Leipzig, den 23. April 2011

Patient: Anatolij Grinvald
Geburtsdatum: 30. Juni 1972
Vorgang: 0012837717

Sehr geehrter Herr Dr. Paschke,

anbei einige Informationen über den Patienten, der vom 22.04.2011 bis zum 23.04.2011 in stationärer Behandlung war.

Aktuelle Diagnose:
Koma vom übermäßigen Alkohol- und Betäubungsmittelkonsum
Alkohol- und Tablettenvergiftung

Prozedur
8-930

Verlauf:
Herr Grinvald wurde mit einem Verdacht auf Vergiftung in die Reanimation eingeliefert. Er wurde von der Polizei im unansprechbaren Zustand vor seiner Wohnungstür aufgefunden. Äußere Verletzungen wurden nicht festgestellt. In der Wohnung fand sich eine leere Packung Seroquel sowie eine leere Packung Zolpidem. Anfangs zeigte der Patient keine Reaktion auf äußere Reize. Dank der von uns durchgeführten Maßnahmen konnte sein Zustand deutlich verbessert werden. Dennoch blieb die Orientierungfähigkeit nach wie vor stark beeinträchtigt. Nach Aussage des Patienten hat er nach einem Streit mit seiner Freundin zwei Flaschen Wein getrunken, konnte nicht einschlafen und nahm 2-3 Zolpidem-Tabletten ein. Wie er das Bewusstsein verlor, daran erinnert er sich nicht. Bei seiner Befragung wies Herr Grinvald den Verdacht eines Selbstmordversuchs zurück. Bei einer Stabilisierung seines Zustands werden wir Herrn Grinvald zur weiteren Beobachtung an Sie überweisen.


11. Ein gewöhnliches Wunder

Ja, du bist nicht mehr der Jüngste. Früher konntest du mit Leichtigkeit fünf, sechs Tage ohne Essen auskommen. Jetzt schaffst du mit Mühe drei oder vier. Jesus kam auf vierzig Tage, so schreiben es seine Biografen. Cooler Typ. Den muss ich mal besuchen. Aber für den Anfang sollte ich leere Flaschen in Brot verwandeln. Im Supermarkt, fünf Minuten von hier. Sieben leere Bierflaschen. Fünfundsechzig Cent. Das reicht für eine Packung Brötchen.
Du gingst auf die Straße und da war sie. Eine Katze. Wohlgenährt. Genauso wie alle deutschen Katzen. "Mieze-Mieze", riefst du sie vorsichtig. Sie blieb einige Sekunden lang nachdenklich stehen und überlegte, ob sie kommen soll, und tat dann voll Grazie einen Schritt auf dich zu. Du wolltest sie doch nur streicheln. Nur streicheln.

Übersetzt aus dem Russischen von Alexander Nitzberg

---------


Anatolij Grinvalds Text erschien in der Reihe "Europe now: Ein literarischer Rettungsschirm für Europa", die das Internationale Literaturfestival Berlin organisiert hatte. Wir bringen in Kooperation mit dem Festival 19 Texte von 19 Autoren, jeden Tag einen.