Jens Balzer ärgert sich in der Zeit (leider verpaywallt), dass insgesamt 17 Acts beim Berliner CTMFestival wegen "StrikeGermany" ihren Auftritt abgesagt haben und damit "wie die letzten Idioten auf schlimme antisemitische Narrative hereinfallen. ... Warum wendet sich eine solche Kampagne gerade gegen ein Festival, das jahrelang alles darangesetzt hat, Künstlern und Künstlerinnen aus dem Globalen Süden Sichtbarkeit und Auftrittsmöglichkeiten zu verschaffen? Das auch viel Zeit damit verbracht hat, Visa und Reisen zu organisieren für all jene, denen der deutsche Staat nicht gerade einen roten Teppich ausrollt, wenn sie innerhalb seiner Grenzen Musik machen wollen? Es ist - wie zuvor schon bei den Aktionen der BDS-Kampagne - ein 'postkolonialer' Boykott, der sich zunächst gegen Kulturschaffende richtet, die sich selber als 'postkoloniale' Akteure verstehen und die - so hatten sie es zumindest bislang gedacht - nichts anderes wollen als diejenigen, von denen sie nun boykottiert werden. Es ist wie so oft in der Geschichte von Menschen, die sich in kultureller und politischer Weise für progressiv halten, schon wieder so, dass diese Menschen irgendwann damit beginnen, einander die Solidarität aufzukündigen und sich gegenseitig zuzerfleischen."
Über 1000 schwedische Künstler fordern den Ausschluss Israels vom EurovisionSongContest, meldet Kira Kramer in der FAZ. Das sieht "doch stark nach einer selbstgerechten Profilierungsaktion von Musikern aus", kommentiert Nadine Lange im Tagesspiegel: "Wenn sie von den ESC-Organisator*innen fordern 'konsequent gegen Teilnehmerländer vorzugehen, die demokratische Werte und Menschenrechte verletzen', fragt man sich, warum sie nicht auch zum BoykottAserbaidschans aufrufen." Auch Jan Feddersen von der tazhat den offenen Brief der Künstler genau gelesen, die ihre Initiative unter anderem damit begründen, dass ja auch Russland vom Wettbewerb ausgeschlossen wurde: "Im Schriftlichen dieser Initiative gibt es, wie in den meisten propalästinensischen Statements seit dem 7. Oktober, keinen Hinweis auf den Anlass der militärischen Einsätze im Gazastreifen durch die Armee: die Hamas-Massaker an eben jenem ersten Samstag im Oktober vorigen Jahres. Dass Russland die Ukraine am 22. Februar 2022 anlasslos zu bombardieren begann, bleibt als Unterschied ausgespart."
SZ-Kritiker Helmut Mauró hört neue Bruckner-Aufnahmen zum Jubiläumsjahr (mehr dazu bereits hier) und macht dabei einige Entdeckungen: Christian Thielemann "entfaltet einen klanglichenZauberwald, in dem man staunend und manchmal auch ein bisschen ehrfürchtig umherblickt. Es ist ein symphonisches Neverland, in dem verspielte und auch gewaltige Ungeheuer auftauchen, die sich aber allesamt als zahm erweisen. ... Neue Wege beschreiten François-Xavier Roth mit dem Gürzenich-Orchester und RémyBallot mit dem Altomonte-Orchester St. Florian, der einstigen Wirkungsstätte Bruckners. Beide suchen den schlanken Klang mit einem kleiner besetzten Ensemble, wollen nicht überrumpeln und manipulieren, sondern vertrauen der Musik in ihrer klarsten und gleichsam reinsten Form. Der neue Bruckner-Klang entwickelt sich frei, losgelöst von erdenschwerer Tradition."
Hingerissen ist in der Welt auch Elmar Krekeler (online nachgereicht) von "Tractus", dem neuen Album von ArvoPärt: Zu erleben "ist eine gestische, eine sprechende Musik. Eine, die deswegen so unmittelbar wirkt, weil sie Sprache nicht nur begleitet, sondern sie gewissermaßen inhaliert hat. ... Sie lebt die Worte, bringt sie zum Leben, auch wenn man sie gar nicht hört, wenn sie nur als Inspiration dienten wie ein altes, kirchenslawisches Gebet für 'These Words'. Darin scheinen Streicher-SchraffurenausdemNichts auf, etwas pulst, klingelt, Klangflächen heben zu singen an, reden, erzählen von Bedrohungen, Verfehlungen der Menschen und rufen den Schutzengel um Hilfe an." So "entsteht etwas, das man selten so dringend brauchte wie heute", nämlich "eine kleine Philosophie des Menschseins, gewonnen aus schwieriger Zeit für eine schwierige Zeit, eine sanfte, stets hymnenbereite Handreichung der Kunst des gelungenenLebens."
Weitere Artikel: Deutsche und französische Verwertungsgesellschaften rechnen nach einer Studie mit einem Umsatzverlust von 2,7 Milliarden Euro durch KI in der Musik und berichten von grassierender Angst unter Musikern, meldet Andrian Kreye in der SZ. Bernhard Uske berichtet in der FR von einem Abend der Frankfurter "Happy New Ears"-Reihe des EnsembleModern über JohannesKalitzkes Komposition "Werckmeister Harmonies", die auf BélaTarrs gleichnamigem Film basiert. Die Berliner Band Pankow geht auf Abschiedstour, meldet Andreas Hergeth in der taz.
Besprochen werden das Debütalbum "Preludes to Ecstasy" von The Last Dinner Party (Standard), Andrew Peklers neues Album "For Lovers Only / Rain Suite" (FR) und Papooz' neues Popalbum "Resonate" (tazler Detlef Diederichsen wird "das Gefühl nicht los, dass der Weg in den Mainstream, unter Zurücklassung persönlicher Merkwürdigkeiten, nicht der Weg ist, der dieses Duo auf den Popolymp führt")
Maxi Broecking porträtiert für die taz die US-Jazzpianistin MyraMelford, deren neues Album "Hear the Light Singing" (wie auch schon das zuvor entstandene Album) von den Lichtstimmungen in CyTwomblys in Gaeta bei Neapel enstandendem Bilderzyklus inspiriert ist. Melford habe auf "die Energie der Zeichnungen ... sofort reagiert, 'als spürbare kinästhetische Reaktion, die mich dazu bringt, Klavier zu spielen und Musik zu komponieren'. ... Das intervallische Kompositionssystem von Henry Threadgill hat Melfords Kompositionsweise definitiv beeinflusst, und wie Butch Morris in seinen 'Conductions' durch Gestik improvisierte Stücke gestaltet habe, präge bis heute, wie sie über das Komponieren und improvisatorische Räume nachdenke. Dazu John Zorns Überlegungen, Improvisation zu lenken und den Beteiligten trotzdem künstlerische Freiheit zu lassen, ihr je eigenes Vokabular zu benutzen. Doch sie sei keine Kopistin: 'Ich synthetisiere all diese Ideen auf meine eigene Weise.'" Das hört Broecking auch auf dem neuen Album, "dessen illuminierter Klang und gezeichnete Musik wirklich das Licht zum Singen bringt".
Weiteres: Ziemlich fassungslos steht Philipp Bovermann in der SZ vor dem Deepfake-Pornoskandal rund um TaylorSwift auf Twitter, von einigen auch X genannt: Die Plattform wurde der Schwemme überhaupt erst Herrin, nachdem sie einfach jede Suchanfrage nach dem Popstar ins Leere laufen ließ. Wolfgang Sandner resümiert die viertägige Jazz-Residenz des Trompeters TillBrönner in Frankfurt. Ane Hebeisen schreibt im Tagesanzeiger zum Tod des Luzerner Sängers BrunoAmstad. Besprochen wird der Netflix-Film "The Geatest Night on Earth" über die Entstehung der Benefiz-Kitschapotheose "We are the World" (Welt).
Gerald Felber hört sich für die FAZ durch aktuelle Bruckner-Neuaufnahmen von ChristianThielemann und François-XavierRoth, die besonders aufschlussreich sind, da Thielemann sich auf die finalen Partituren Bruckners bezieht, während Roth die Erst-Partituren wählt - mitunter zeigen sich dabei erhebliche Unterschiede. Die Letztfassungen zeigen "eine Tendenz zur zunehmend besseren Fasslichkeit und Überblickbarkeit der Strukturen. Doch die oft kaleidoskopisch und gestrüppartig wuchernden, wilden und ungebändigten Ur-Varianten haben daneben ihre eigene raueSchönheit und Eindruckskraft. Roth lässt sich in seinen Produktionen ... voll darauf ein, versucht gar nicht erst, unausgewogene Proportionen, Knicke und Brüche zu glätten, sondern begreift sie als Teile eines Montageprinzips, das unseren modernen Zeiten der Dystopien, Scheinwelt-Alternativen und Interessenzersplitterungen sogar angemessener sein mag als Bruckners eigener damaliger Lebenswelt." Was Thielemann betrifft: "Bruckners grandiose Architektonik ist kaum je besser verdeutlicht worden; für das Nacherleben der existenziellen Zerrissenheiten, denen sie abgerungen wurde, greift man freilich besser zu den Angeboten Roths."
"Die Musikkritik wurde noch nie so sehr gedemütigt" wie jetzt mit der Liquidierung des Onlinemusikmagazins Pitchfork, dessen Reste ins Männermagazin GQ eingehen sollen, schreibt Michael Pilz online vorgereicht in der Welt. "Die Algorithmen des Musikkonsums verändern die Musik. Vor allem aber haben sie die Kritiker entmachtet mit ihren volkstümlichen Kategorien wie 'Chillen' und 'Workout', ihren demokratischen Bewertungstools und ihrer schieren Masse."
Weitere Artikel: Eine Studie wirft einen Blick auf die gesundheitlichen Probleme von Berufsmusikern, schreibt Sven Bleilefens in der taz. FalcosFender-Jazz-Bass wird versteigert, meldet Josef Engels in der Welt. In der FAZgratuliert Philipp Krohn Achim Reichel zum 80. Geburtstag. Marco Frei (NZZ), Max Nyffeler (FAZ) und Reinhard J. Brembeck (SZ) erinnern an den Komponisten LuigiNono, der vor 100 Jahren geboren wurde.
Besprochen werden ein von JoanaMallwitz dirigiertes Konzert der WienerPhilharmoniker in Salzburg (Standard), ein Konzert der Rapperin Noname in Berlin (taz), Arvo Pärts neues Album "Tractus" (Welt), Igor Levits "Fantasia" mit Kompositionen von unter anderem Johann Sebastian Bach, Franz Liszt und Ferruccio Busoni (FAZ) und das Album "Wall of Eyes" des Radiohead-Nebenprojekts TheSmile ("Yorke/Greenwood sind längst ein legendäres britisches Kreativgespann wie Lennon/McCartney oder Jagger/Richards", schreibt Wolfgang Schneider in der FAZ).
Beim Luzerner Festival "Le Piano Symphonique" ist Klavierkunst auf höchstem Niveau zu bestaunen, schreibt Albrecht Selge in der FAS, so "gletschersicher ist das technische Niveau auch schon sehr junger Musiker", gegenüber denen sogar die eine oder andere Aufnahme der Altvorderen zusehends Blässe entwickelt. Beim chinesischstämmigen US-Amerikaner KitArmstrong etwa, gerade mal knapp über 30, darf man sogar mal von einem Genie sprechen, findet Selge: "Auch wenn Armstrong findet, das 'Reproduzieren von Partituren' sei keine Kunst: Seine Wiedergabe von Franz Liszts '12 Études d'exécution transcendante', eines einschüchternden Hochgebirgswerks der Klavierliteratur, ist nicht nur von atemberaubender Fingerfertigkeit, sondern auch solebendig, wie es nur geht. Da gibt es auch im heftigsten Forte noch dynamische Abstufungen, die man eigentlich für unmöglich hält. Und inmitten der grotesken Artistik etwa der 'Mazeppa'-Etüde in d-Moll, bei der Liszt einen als Hörer geradezu physisch attackiert, blüht stets unerhörte Farbigkeit. Welche gewaltigen Empfindungen sich aus dem verhaltenen Beginn der Etüde 'Harmonies du soir' auftürmen, wird ebenso zum Natur- und Seelenereignis wie das Tonflockentreiben der finalen 'Chasse-neige'-Etüde." Hier eine frühere Liszt-Aufnahme von ihm:
Außerdem: Julian Weber spricht für die taz mit dem Dirigenten IlanVolkov über dessen Eindrücke nach dem 7. Oktober. Thomas Venker spricht für Kaput mit MaximilianHecker über dessen neues Album (mehr dazu bereits hier). Ebenfalls in Kaput, allerdings schon ein paar Tage älter, findet sich ein von Mario Lasar geführtes Gespräch mit AndreasDorau, der gerade ein neues Album veröffentlicht hat. Georg Rudiger berichtet in der NZZ vom Auftakt des Mizmorim-Festivals in Basel. Jan Feddersen (taz) und Harry Nutt (FR) schreiben Nachrufe auf die Folkmusikerin MelanieSafka. Jakob Biazza erzählt in der SZ von seiner Begegnung mit dem Songwriter TomOdell.
Besprochen werden ein von KirillPetrenko dirigierter Schönberg-Abend der BerlinerPhilharmoniker mit dem RundfunkchorBerlin (Tsp), ein neues Album von FutureIslands (TA), das neue Turbobier-Album "Nobel geht die Welt zugrunde" (Standard) und das neue Album der Musikerin Torres (Tsp).
Mit seinem neuen, im Quintett und in nur einem Take aufgenommenen Album "Spiritual Healing: Bwa Kayiman Freedom Suite" setzt sich der kanadische Jazz-Saxofonist JoweeOmicil mit dem Beginn der Haitianischen Revolution um 1800 auseinander, schreibt Sven Beckstette in der taz. Trotz seines historischen Bezugs "vermeidet Omicil jedes heroische Pathos. Das Spiel seiner Blasinstrumente erinnert eher an einen vielstimmigen Dialog. Mal scheinen die Töne hell zu singen und zu tanzen, dann wiederum zu grübeln und zu fragen, in 'Lament 4 Ayiti' wiederum betet Omicil mit seinem Saxofon wie einst John Coltrane auf seinem Meisterwerk 'A Love Supreme' (1964). ... Es ist Musik, die sich nur durch konzentriertes Hören erfahren lässt. Erst dann offenbart sie ihre volle Wirkung. Wie der Glanz der Sterne, deren Leuchtkraft uns Lichtjahre später als leuchtende Punkte am Nachthimmel erreicht, gelingt es Omicil, die Geschichte der Befreiung von einem fernen Ereignis aus der Vergangenheit in ein musikalisches Glimmen und Pulsieren zu transzendieren."
Mit dem Ende von Pitchfork (das lange Zeit maßgebliche Onlinemagazin für Popmusik geht nach dem Willen des Eigentümers Condé Nast ausgerechnet im Männermagazin GQ auf, verbunden mit zahlreichen Kündigungen) "setzt sich der traurige Trend des Dahinschwindens des kritischen Popjournalismus fort", seufzt Nadine Lange im Tagesspiegel. "Da die Fachmedien aussterben, muss sich die Popkritik in Mainstream-Medien einen Platz suchen. Doch dort können sich in der täglichen Flut von Politik,- Sport- und Wirtschaftsmeldungen nur die großen Namen behaupten. Experimentelle Bands und schräge Sängerinnen werden es noch schwerer haben, Gehör zu finden." Johann Voigt findet in der taz allerdings auch: "Obwohl Condé Nast in dieser Geschichte das ultimative Böse darstellt, weil es das immer queerer und weiblicher werdende Biotop in ein Medium eingliedert, das für eine eher konservative Männlichkeit steht, hätte Pitchfork ohne den großen Geldgeber womöglich gar nicht den Journalismus liefern können, für den es in den letzten Jahren auch stand. Einen Journalismus, der sich nicht nur mit der Exegese von Musik selbst, sondern in Essays und Recherchen auch mit den Machtstrukturen drumherum auseinandersetzte. ... Andererseits: Ein launiger Essay über die unsichtbare Arbeit von Müttern im Pop-Betrieb, wie ihn die Autorin Allison Hussey im letzten Jahr für Pitchfork schrieb, ist bei GQundenkbar."
Außerdem: Leon Holly resümiert in der taz einen Solidaritätsabend im Berliner Club about:blank mit dem israelischenGeiseln in Gaza. Frederik Hanssen erklärt im Tagesspiegel, wie man Orchestermusiker wird. In der SZ gratuliert Alexander Gorkow dem Pink-Floyd-Drummer NickMason zum 80. Geburtstag. In der FRgratuliert Stefan Michalzik dem Jazzmusiker BobDegen zum 80. Geburtstag. Nachrufe auf die Folkmusikerin MelanieSafka schreiben Edo Reents (FAZ) und Willi Winkler (SZ).
Besprochen werden ein neues Album von ThomYorkes und JonnyGreenwoods Nebenprojekt TheSmile (Standard), ein Berliner Konzert des Countertenors PhilippeJaroussky mit dem Gitarristen ThibautGarcia (Tsp), ein von PhilippeJordan dirigiertes Konzert des Zürcher Tonhalle-Orchesters (NZZ), das Debütalbum der österreichischen Indierockband EndlessWellness (Standard) und das von Thesen der Philosophin DonnaJ. Haraway inspirierte Album "Chthuluzän" des Wiener Trios Zinn (Standard).
Morgen beginnt das Berliner MusikfestivalCTM, dem zuletzt reihenweise Künstler absagten, aus Protest gegen die Antisemitismusklausel des Berliner Senats, aber auch aus Unterstützung für die "Strike Germany"-Kampagne aus dem BDS-Milieu. Ersatz wurde zwar gefunden, schreibt Andreas Hartmann im Tagesspiegel, aber dass Joe Chialo die Antisemitismusklausel kurz vor Festivalbeginn dann doch wieder zurückzog, mache es nicht besser: "Rund um die Bewegung 'Ravers For Palestine', die sich erst vor ein paar Wochen gegründet hat und sich für den kulturellen Boykott Israels und nun auch Deutschlands stark macht, wird Chialos Rolle rückwärts bereits als Kampagnenerfolg gefeiert. Boykottandrohungen wirken also, heißt es dort. Womit Chialos Irrlichterei fatalerweise die Grundidee der sich gegen Israel richtenden BDS-Bewegung gestärkt hätte."
Die taz wirft Schlaglichter aufs Programm des Festivals: Beate Scheder stelltPisitakunKuantalaeng vor, der mit seinem Projekt "The Three Sound of Revolution" Protestsounds aus Thailand, Myanmar, den Philippinen, aus Portugal und Brasilien erforscht. Yelizaveta Landenberger wird von der experimentellen Musik von Jules Reidy "regelrecht betört" und "fühlt sich aufgehoben in dieser einzigartigen, bizarrenStimmung". Wir hören rein:
Außerdem: Manuel Brug (Welt) und Clemens Haustein (FAZ) gratulieren der Komponistin Unsuk Chin zur Auszeichnung mit dem Ernst-von-Siemens-Musikpreis. Clemens Haustein meldet in der FAZ, dass der Dirigent ChristophEschenbach künftig das PhilharmonischeOrchester in Breslau leitet, von wo dieser als kleiner Junge 1945 fliehen musste. Beim Berliner Klavierkonzert von JanLisiecki am vergangenen Wochenende klappte ja nun wirklich gar nichts, muss Frederik Hanssen im Tagesspiegel entgeistert feststellen. Im VAN-Magazin rankt Julia Conrad 15 Kompositionen von AugustaHolmès nach ihrer Männlichkeit. Und Arno Lücker macht sich für VAN an einen Interpretationsvergleich zu GeorgeGershwins "Rhapsody in Blue". Hier Gershwins eigene Aufnahme der vor 100 Jahren entstandenen Komposition:
Schlagersänger und Popproduzent FrankFarian ist tot. Erst mit BoneyM., später mit MilliVanilli trennte er im Pop die Studio-Stimme vom Bühnen-Look. Bei Boney M. ging das noch weitgehend gut, bei Milli Vanilli kam der ganz große Skandal, erinnert Jan Feddersen in der taz: "Ein Musikprodukt, dessen Gesichter nicht konnten, was sie vorspielten zu können, dafür aber schöner, sexier, begehrenswerter und cooler aussahen als eben der Produzent selbst: Das warf kulturelle Vorstellungen vom Echten, Authentischen und Natürlichen nicht nur über den Haufen, sondern machten sie lächerlich. Was auf der Verpackung stand, entsprach nicht dem, was die Verpackung verhieß. Frank Farian, zeitlebens nie eine männliche Beauty, war das egal, wie ihm auch die Pop- oder gar Popdiskurskritik gleichgültig war. Er wollte Erfolg, er wollte Villen und Wohnplätze auf Ibiza, er wollte ein Diskokönig sein."
Aber Farian hat eben auch echte Hits geschaffen, unterstreicht Tobi Müller auf Zeit Online: "Die Kunst von Farian selbst lässt sich nicht spielen, nur hören. ... Die Basslinie in 'Daddy Cool', die von der Gitarre ein paar Takte verdoppelt wird, und die überdrehten Streicherakzente: Das ist schon ziemlich cool, auch wenn die dazwischen geschalteten Mariachi-Trompeten eher unfreiwillig uncool klingen. So wie die Wohnzimmer der Siebzigerjahre in vielen Kinder von damals heute gleichzeitig Wonne, Schaudern und Lachkrämpfe auslösen. Manchmal selbst bei den Kindern der Kinder. Rein musikalisch ist der Fall Milli Vanilli ähnlich komplex wie Boney M. Die ersten beiden Hits, die Frank Farian produzierte und zum Teil mitschrieb, bedienten sich zum einen klar bei den damals neuen Tanzkulturen, bei schwarzer Electro und House Music, auch bei britischem Rave." Weitere Nachrufe schreiben Nadine Lange (Tsp), Michael Pilz (Welt) und Willi Winkler (SZ).
Außerdem: Clemens Haustein berichtet in der FAZ vom UltraschallFestival in Berlin. Besprochen werden die ARD-Dokuserie "Hiphop - Made in Germany" (Zeit Online, SZ), das neue Album der Deutschpunkband WIZO (taz) und Sleater-Kinneys neues Album "Little Rope" (Jungle World).
In der tazberichtet Tim Caspar Boehme vom UltraschallFestivalin Berlin. Beim Eröffnungskonzert, der deutschen Erstaufführung von AlexandraFilonenkos Komposition "Memory Code" durch das Deutsche Symphonie-Orchester unter LinLiao, waren auch Teile eines NS-Propagandalieds zu hören, allerdings nur "in fragmentierter Form und als Teil eines elektronischen Zuspiels. ... Über weite Strecken komponiert Filonenko dabei so heftig ineinander verschlungene rhythmische Figuren der einzelnen Orchestergruppen, dass man zum Teil kaum unterscheiden konnte, was gerade auf der Bühne gespielt wurde und was als Konserve hinzukam. Ausgenommen das Marschlied, mit dem Filonenko erkennen ließ, dass zu diesem 'Gedächtniscode' auch die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs gehört, dessen Spuren in Berlin noch gegenwärtig sind. Und selbst wenn man in dieses Stimmendickicht ansonsten kaum hineinkam, sich horchend mehr darum herumbewegen musste, gab es stets neue Brocken kompakten Klangs, die einen bereitwillig diesem mahlendenFluss folgen ließen." Hier lässt sich das Konzert nachhören.
Außerdem: Lotte Thaler resümiert in der FAZ den Brahms-Schwerpunkt des HeidelbergerStreichquartettfests. Der Singer-Songwriter TomOdellwünscht sich im FR-Interview mehr Mitgefühl in der Welt. Besprochen werden zwei Ausstellungen in der Zürcher Photobastei zur Frühgeschichte des Techno (NZZ), das neue Album von GreenDay (Presse) und das neue Album von SarahJarosz (Welt).
Mit Maximilian Heckers neuem Album "Neverheart" im Ohr macht sichFAS-Kritiker Lukas Heinser gerne auf zum schneeverwehten Nachtspaziergang durch "anonyme Großstädte", um zu "zu beobachten, wie Natur und Zivilisation miteinander käbbeln. Perlende Klaviernoten, wabernde Klangflächen, zart gezupfte E-Gitarren-Saiten, Schlagwerk, für das eigentlich ein weniger martialischer Name gefunden werden müsste, weil die Trommeln und Becken die meiste Zeit eher getätschelt werden. ... So will Hecker sein Schaffen auch unbedingt als unpolitisch verstanden wissen: 'Mein Blick geht fast immer nach innen, eine beinah autistisch anmutende Widerspiegelung meiner selbst in Musik und Roman, da gibt's keinen Raum für Politisches.' Das wirkt als Pop-Biedermeier schon fast wieder radikal."
Weitere Artikel: Karl Fluch erklärt im Standard, warum Donald Trump Taylor Swift hasst und weshalb die Republikaner wenig mehr fürchten als ein Engagement des Popstars im kommenden Wahlkampf. Im Welt-Kommentar ist Michael Pilz skeptisch, was die Pläne der EU betrifft, Spotify und Co zu regulieren. Gregor Kessler schreibt in der taz einen Nachruf auf Frank Z von Abwärts (weitere Nachrufe hier). Besprochen werden ein von DanielBarenboim dirigierter Schönberg- und Beethoven-Abend mit dem Orchester der Barenboim-Said-Akademie (Tsp), ein Konzert des Pianisten JanLisiecki in Berlin (Tsp), ein von StefanAsbury dirigiertes Konzert des EnsembleModern in Frankfurt (FR) und eine Ausstellung in Oberhausen mit den legendären Plattencovern aus den Siebzigern der Designschmiede Hipgnosis (SZ, WDR).
Jakob Biazza schreibt in der SZ zum Tod von FrankZ, dem Sänger der legendären (Post-)Punkband Abwärts. Mit dem 1980 erschienenen Albumdebüt "Amok-Koma" hatte die Band "das Land, hatte die Welt, hatte die ganze wahnsinnig gewordene Zeit mit stahlkaltem Blick erfasst und vertont. ... Gitarren wie Krähengeschrei, ein sehr humorloser Bass, die Drums ganz und gar unbeirrbar und drum herum immer irgendein Firlefanz aus Synthies oder Kindertröten oder etwas anderem, das ganz wunderbar nervte. Und dann dieser Gesang. Erster Song, erste Zeilen: 'Linke Seite Supermarkt / Rechte Seite Abenteuerspielplatz / In der Mitte Autobahn / La, la, la-la, la ...' Vier Verse, die eine ganze Welt bauen - und direkt wieder einreißen." Einen weiteren Nachruf schreibt Thomas Kramar in der Presse. In seinem Reflektor-Podcast sprach Tocotronic-Bassist Jan Müller vor ein paar Jahren sehr ausführlich mit Frank Z über Leben und Werk. Und hier der Song "Computer-Staat" aus demselben Album, damals ein von allen Bands gecoverter Szenehit:
Daniel Gerhardt trauert auf Zeit Online um das MusikmagazinPitchfork, das nach einer Ankündigung des Konzerns Condé Nast liquidiert und dessen Reste beim Männermagazin GQ eingegliedert werden sollen. Damit geht eine Ära des Online-Musikjournalismus zu Ende, wie es sie wohl nie wieder geben wird: "Vor allem in den Nullerjahren galten Pitchfork-Rezensionen und das portaleigene Gütesiegel 'Best New Music' als Karrierestarter für Indierock-Gruppen und -Künstler. ... In der Frühzeit des Magazins kultivierte Pitchfork einen Schreibstil, den es zuvor höchstens in kleinteiligsten Fanzines gegeben hatte: ausufernde Texte, ungewöhnliche Perspektiven, autofiktionale Ansätze. Mit derbem Humor und jugendlicher Arroganz positionierten sich die Autoren (Autorinnen gab es kaum) gegen die alteingesessene, womöglich betriebsmüde Musikpresse." Allerdings "hat Pitchfork schon lange keine Trends mehr gesetzt, der bescheidwisserischeVorsprung auf Mitbewerber und Publikum schien aufgebraucht."
Auch beim Berliner CTM Festival haben erste Künstler ihre Teilnahme wegen ihrer Unterstützung für die "StrikeGermany"-Kampagne abgesagt, berichtet Julian Weber in der taz: "Schaden werden die Absagen dem Festival nicht" glaubt er, "dass sich die Künstler:innen mit ihrer Absage einen Gefallen getan haben, ist dagegen unwahrscheinlich."
Außerdem: Andrian Kreye berichtet in der SZ vom Winter Jazzfest in New York, das "wahrscheinlich wichtigste Festival seiner Art" und ein "intellektuelles LabyrinthderHipness-Ebenen", wo er "fünf atemlose Nächte" erlebte. Guido Sprügel blickt für die Jungle World auf die Proteste gegen die Schließung des Hamburger Clubs Molotov. Frederike Möller plädiert in "Bilder und Zeiten" (FAZ) dafür, die musikalischen Werke von AnnettevonDroste-Hülshoff mehr zu würdigen. In der NMZgratuliert Christoph Becher dem Musikkritiker und Musikwissenschaftler MartinHufner zum 60. Geburtstag.
Besprochen werden BarbaraMorgensterns Kammerpop-Album "In anderem Licht" (taz), MarthaArgerichs Konzerte beim Festival "Le Piano Symphonique" in Luzern (NZZ, mehr dazu bereits hier), ein Konzert des Chicago Symphony Orchestras in Frankfurt (FR), Marika Hackmans Album "Big Sigh" (FR) und AndreasDoraus neues Album "Im Gebüsch" (ZeitOnline). Sein Video "Mein englischer Winter" passt gerade gut zum winterweißen Berlin: