Efeu - Die Kulturrundschau

Eine Welt, die dem Zwang abgerungen ist

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05.04.2024. Der Autorenfilm ist sowas von zurück - zumindest in Italien, freut sich der Filmdienst. Die FR hüpft mit Daffy Duck durch die Schirn direkt hinein in die Abgründe von Cosima von Bonin. Joanna Chens Essay über ihre Ankunft in Israel ist vom Magazin Guernica offline genommen worden: "Ich wurde zensiert, weil ich Israeli bin", sagt sie in der Welt. Die NZZ fordert: Killt den Kult um Currentzis! Die FAZ stellt im Deutschen Theater fest: Die Nibelungen gehen auch böse aus, wenn sie feministisch sind.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.04.2024 finden Sie hier

Kunst

Cosima von Bonin: Emporkömmling, 2023. Bild: Courtesy of the Artist and Petzel, New York.

Schräg, zugleich lustig und abgründig findet Lisa Berins in der FR die Ausstellung "Feelings" von Cosima von Bonin in der Frankfurter Schirn. Als roter Faden führt Daffy Duck durch die Kunstwerke: "Daffy ist so was wie der Protagonist dieser Schau. Ein immer wieder scheiternder, sich immer wieder aufraffender Idiot, getrieben von Geltungssucht und anderen niederen Motiven. Daffy ist einer wie du und ich. (Und deshalb irgendwie doch ganz sympathisch.) Am Ende steht die Ente stolz auf einem Podest, die Hände glorreich gen Himmel erhoben, als warte sie auf Applaus der Besucherinnen und Besucher. Die besserwisserischen Bugs-Bunny-Häschen sind in die Tonne gedrückt - alle Aufmerksamkeit gehört Daffy, für diesen einen kurzen Moment nur, bevor der nächste Absturz folgt." Überhaupt entdeckt Berins haufenweise popkulturelle Referenzen: "Es geht um Vermarktung und Konsum. Auch das Bambi taucht in zwei textilen Bildern auf. Das Rehlein hat scheinbar seine Flecken verloren, sie liegen auf einer Picknickdecke herum (das ist jetzt eine ziemlich freie Interpretation) - vielleicht sind sie ihm vor lauter Stress abgefallen?"

Im Wende Museum Los Angeles besucht Andreas Platthaus für die FAZ die eindrückliche Schau "Visions of Transcendence - Creating Space in East and West", die Kunst von Gefängnisinsassen sowohl aus den USA als auch aus früheren Ostblockstaaten vereint. Es sind Werke, die unter widrigen Umständen entstanden sind und von diesen Bedingungen, auch anonym, zeugen: "Wer wüsste ohne ihre Werke noch von einem Skandal wie der vierjährigen Internierung von 53 chinesischen Bootsflüchtlingen in den Neunzigerjahren, die erst durch ein Machtwort von Präsident Clinton beendet wurde. Ihre 233 Schicksalsgenossen von der Golden Venture, wie das Schiff hieß, auf dem sie mehr als ein Jahr unterwegs gewesen waren, hatte man da bereits abgeschoben. Der aus Pappmaschee gebastelte Miniaturpavillon, den das Wende-Museum zeigt, ist ein bewegendes Zeugnis des Heimwehs der seinerzeit vor der rigorosen Ein-Kind-Politik Geflohenen."

Weiteres: Bedeutende Werke des jüngst verstorbenen Bildhauers Richard Serra (unser Resümee) verkommen in Lagern oder Bahnhofsdepots, ärgert sich Bernhard Schulz im monopol. Ólafur Elíasson zeichnet für die neuen Fenster im Greifswalder Dom verantwortlich, die zu Ehren des 250. Geburtstags von Caspar David Friedrich in Auftrag gegeben wurden - Ingeborg Ruthe schaut für die FR vorbei.

Besprochen werden: "An seltsamen Tagen über Flüsse in die Städte und Dörfer bis ans Ende der Welt" von Ute und Werner Mahler in der Kunsthalle Erfurt (taz), die Frühjahrsausstellung "Hier" des Neuen Kunstvereins Aschaffenburg (FAZ) und "I Spy With My Little Eye" von Lukas Glinkowski und Stefan Hirsig in der Berliner Galerie Smac (Berliner Zeitung).
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Film

Jörg Tazsman analysiert für den Filmdienst den aktuellen italienischen Kinoboom. Dieser zeigt sich etwa darin, dass Paola Cortellesis am italienischen Neorealismus angelehntes Drama "Morgen ist auch noch ein Tag" (unsere Kritik) in Italien selbst Blockbuster wie "Oppenheimer" und "Barbie" an den Kinokassen überholte und dass Eigenproduktionen im letzten Jahr einen Marktanteil von 26 Prozent hatten. Interessanterweise trägt dies insbesondere auch der Autorenfilm. Dieser "wiedergefundene Erfolg ... ist dabei Teil eines in Europa derzeit einmaligen Booms des gehobenen Arthouse-Kinos. Viele Filme gestandener Regisseure laufen deutlich besser als in Deutschland. Dafür gibt es Gründe. Zuallererst wird viel mehr Plakatwerbung gemacht. Ganz Rom war Anfang Januar mit Werbung für den neuen Hayao-Miyazaki-Film 'Der Junge und der Reiher' (unsere Kritik) übersät, der dann auch prompt zwei Wochen lang auf Platz eins der Kinocharts stand. Bevor Wim Wenders' 'Perfect Days' (unsere Kritik) startete, zeigten einige Kinos in Rom wochenlang fast alle früheren Filme von Wenders. Generell wird in Italien - wie auch in Frankreich - viel auf Previews gesetzt, so dass sich Filme schon vor dem Kinostart besser herumsprechen."

Außerdem: Jakob Thaller wirft für den Standard einen Blick auf die jungen Stimmen im Programm der Wiener Diagonale, auf die sich Rüdiger Suchsland von Artechock schon ziemlich freut. Nachrufe auf die Schauspielerin Vera Tschechowa schreiben Daniel Kothenschulte (FR), Andreas Kilb (FAZ) und Fritz Göttler (SZ).

Besprochen werden Josef Haders Tragikomödie "Andrea lässt sich scheiden" (SZ, Artechock, unsere Kritik), Paola Cortellesis "Morgen ist auch noch ein Tag" (Welt, Artechock, unsere Kritik), Matteo Garrones "Ich Capitano" (Artechock, mehr dazu hier), Dev Patels "Monkey Man" (Standard), das ARD-Porträt "Außer Dienst? Die Gerhard Schröder Story" (taz, NZZ), Marvin Krens für Netflix gedrehte, deutsche Gangster-Serie "Crooks" (Presse, FAZ) und die Apple-Serie "John Sugar" mit Colin Farrell (FAZ, TA).
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Bühne

Die Nibelungen haben ja in der einen oder anderen Version ein Dauerabo auf den deutschen Theaterbühnen, weiß Irene Bazinger in der FAZ. In Ferdinand Schmalz' "hildensaga", von Markus Bothe am Deutschen Theater inszeniert, wird nun einiges umgedreht: "Diesmal begehren nämlich Kriemhild, die burgundische Königstochter, und Brünhild, die isländische Königin, bisher nichts als Jagdtrophäen in der Männerwelt, entschieden auf. Schmalz richtet das Augenmerk auf sie und ersetzt Helden durch Hilden. Die Geschichte wird dadurch nicht besser - zumindest nicht an diesem Abend. Aber eine erste Emanzipation der Frauen wurde zumindest versucht. Die Inszenierung von Markus Bothe folgt dem amüsant aufgezwirbelten Text mit formaler Konzentration und erstaunlicher Gelassenheit, was ihm hörbar guttut. Alles liegt deutlich zutage, die Motivationen, Pläne, Intrigen werden in ihrer fatalen Konsequenz klar erkennbar." Die Menschenleben fordernde Grausamkeit der Nibelungen bleibt auch hier bestehen, weiß Bazinger, aber Svenja Liesau und Julischka Eichel, die Brünhild und Kriemhild spielen, "bringen ihre Figuren in fast traumtänzerischer Solidarität zusammen und atmen eine große Freiheit jenseits von Mythen und Moden."

Weiteres: Tilman Michael, der Chordirektor der Frankfurter Oper, geht für ein Jahr an die New Yorker MET, melden FAZ und FR.
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Design

Jonathan Glazer hat für Prada einen Kurzfilm mit Scarlett Johansson gedreht:

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Literatur

Sarah Pines spricht für die Welt mit Joanna Chen, deren Essay "From the Edges of a Broken World" gerade sehr unschön von Guernica nach wenigen Tagen wieder offline genommen wurde (mehr dazu hier in unserer Magazinrundschau). Das Literaturmagazin wirft der Schriftstellerin vor, mit ihrem Text über ihre Ankunft als 16-Jährige in Israel "eine Apologie des Völkermordes in Palästina" vorgelegt zu haben (mittlerweile steht der Text bei Washington Monthly online). Hinter den Kulissen von Guernica habe es wohl mächtig Ärger gegeben, der schließlich zu dieser Cancel-Entscheidung geführt hat. Chen vermutet, "dass Literatur tatsächlich ein Vehikel für Ideologien geworden ist. Doch gute Literatur ist immer vielstimmig, nuanciert, anspruchsvoll. Sie geht über das Offensichtliche, über das Dogmatische hinaus. Sie stellt Fragen und dringt in die Tiefenschichten der menschlichen Existenz vor. Guernica, behauptet von sich, 'eine Heimat für einzigartige Stimmen, prägnante Ideen und kritische Fragen' zu sein, aber anscheinend gibt es in dieser Heimat keinen Platz mehr für echte Gespräche oder nuancierte Kommentare." Mit solchen Entscheidungen gehe es auch "darum, israelische Stimmen aus dem Diskurs zu verbannen. Unglücklicherweise ist der Antisemitismus auch ein Teil dieser antiisraelischen Kritik. Ich wurde zensiert, weil ich Israeli bin. Punkt."

Außerdem: Thomas Borchert wirft für die FR einen Blick auf nun freigegebenen internen Dokumente der Abstimmungsprozesse und Diskussionen in der Schwedischen Akademie, die 1972 zum Literaturnobelpreis für Heinrich Böll führten. Jan Wiele schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Schriftsteller John Barth. Gregor Dotzauer schreibt im Tagesspiegel zum Tod der Literaturkritikerin Gisela Trahms.

Besprochen werden unter anderem George Saunders' Storyband "Tag der Befreiung" (FR), Paul Austers "Bloodbath Nation" (Freitag), Pajtim Statovcis "Meine Katze Jugoslawien" (taz) und Julien Greens "Treibgut" (NZZ).
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Architektur

Centre Aquatique Olympique. Bild: Ateliers 2/3/4 Paris.


Viele olympische Sportstätten verwandeln sich nach ihrem großen Auftritt bei den Spielen in Millionengräber, weil sich keiner ihren Unterhalt leisten kann, weiß Martina Meister in der Welt, in Paris soll das dieses Jahr endlich einmal anders sein. Die Architektinnen Laure Mériaud und Cécilia Groß haben nicht nur umweltfreundlich, sondern in mehrfacher Hinsicht nachhaltig gebaut. Das "Centre Aquatique Olympique" in der finanziell schwachen Vorstadt Saint-Denis soll nach den Spielen der dortigen Bevölkerung zugutekommen, ohne dass das Projekt in "olympischen Gigantismus" verfällt: "Mit einem eleganten Nest aus Holz und Glas ist es den beiden Architektinnen und ihren Teams gelungen, neue Maßstäbe zu setzen, nachhaltig zu bauen, ohne dass dies auf Kosten der Ästhetik geht: Das Dach aus 90 Meter langen, schmalen Holzstreben ist konkav geschwungen, um das Heizvolumen zu verringern. Außerdem ist das 70 Meter lange Becken komplett modulierbar. Von einer 'weltweit einzigartigen Meisterleistung' spricht Patrick Ollier, Präsident der Metropole Grand Paris. 188 Millionen Euro hat der Bau gekostet, inklusive Gift-Entsorgung der ehemaligen Industriebrache, einer Autobahnbrücke und eines Parks, der entstehen wird." In der taz berichtet Lea Fauth über die nicht gerade rosigen Arbeitsbedingungen auf den Baustellen.
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Musik

Zwei Jahre nach der russischen Invasion in der Ukraine und den in Folge hartnäckig geführten Diskussionen, wie mit staatstragenden russischen Künstlern umzugehen sei, beobachtet NZZ-Kritiker Christian Wildhagen "eine Sehnsucht nach Business as usual" im Betrieb und einen "gewissen Pragmatismus". Darauf setzt wohl auch Teodor Currentzis, der mit seinem hartnäckigen Schweigen zu Putin und Russland die Furtwängler-Strategie gewählt hat: künstlerischer Idealismus schlägt triviale Politik. "Er spielt offenbar auf Zeit und setzt auf die voranschreitende Abstumpfung des Publikums gegenüber moralischen Diskussionen. Gleichzeitig kann er auf die nahezu kultische Verehrung bauen, die ihm Teile der Musikwelt noch immer entgegenbringen." Doch "schon vor 2022 konnte man Unstimmigkeiten im Bild des allein der hohen Kunst verpflichteten Idealisten entdecken. Als beispielsweise publik wurde, wie hoch der Preis ist, den die Mitglieder der von Currentzis in Russland gegründeten Ensembles zu zahlen haben. Deren Perfektion wird nämlich allem Anschein nach mit autoritativen Strukturen, ausufernden Probenzeiten und einem eigenartigen Korpsgeist erkauft. Man kann solche Exzesse wiederum mit Idealismus rechtfertigen oder mit der Gruppendynamik, die nötig ist, damit die Mitglieder des Originalklang-Ensembles Musica Aeterna und des dazugehörigen Chores der Klassikwelt derart einheizen können. Nicht zu verkennen ist aber auch, dass rund um die charismatische Leiter-Figur Currentzis ein System entstanden ist, das zugleich ein lukratives Geschäftsmodell darstellt."

Stephanie Grimm hört für die taz "Kratermusik", das neue Album der mittlerweile übers gesamte Bundesgebiebt verstreuten Postpunk-Band Messer rund um den Schriftsteller Hendrik Otremba. Wobei, was heißt hier Postpunk? "Selbst dieses unscharfe Etikett beschreibt beim besten Willen nicht mehr den aktuellen Messer-Sound, trotz schnalzend-zackiger New-Wave-Momente und hechelnder Beats, etwa im Song 'Eaten Alive'. Dafür groovt es einfach zu ungebrochen. Manchmal fühlt man sich gar an die guten Songs von The Police erinnert, wenn Messer erstaunlicherweise ziemlich funky klingen. Einflüsse aus Funk, Dub und den späten 1980er Jahren sorgen ob ihrer Vertrautheit für eine Zugänglichkeit des Sounds. Und doch amalgamieren Messer ihren Mix zu etwas Eigenwilligem und ziemlich Doppelbödigem: Kryptische und doch gegenwartssatte Songtexte, die bei aller Verrätselheit Assoziationsräume aufmachen; festgeklettet in einem moosig gemütlichen Offbeat-Bett." Von den aktuellen Singles der Band müssen wir natürlich "Taucher" einbinden:



Weitere Artikel: Juliane Liebert plaudert für die SZ mit Blixa Bargeld, dessen Einstürzende Neubauten gerade ein neues Album veröffentilcht haben. Lars Fleischmann berichtet für die taz vom Musikfestival Babel Music XP in Marseilles. Ane Hebeisen stellt im Tagesanzeiger das neue Musikprojekt "Achtung Niemand" des Schweizer Sprachkünstlers Jürg Halter vor. Besprochen wird das neue Album der Black Keys, für das sich auch Beck und Noel Gallagher für Gastauftritte im Studio vorbeigeschaut haben (Standard).

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