Efeu - Die Kulturrundschau

Von fremder Hand geführte Geister

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19.09.2023. Beim Filmfestival in Toronto hat Cord Jeffersons Verfilmung von Percival Everetts Roman "American Fiction" den Hauptpreis gewonnen: Der Roman ist zwanzig Jahre alt, aber hochaktuell, freut sich die FAZ. Der nmz bleibt die Luft weg bei John Adams Oper "Doctor Atomic" in Bremen, wo Wissenschaftler in Zeitlupe zu Ungeheuern werden. Niemals wurde etwas Subversiveres über Stalin geschrieben als Ossip Mandelstams "Ode an Stalin", meint Slavoj Zizek in der Berliner Zeitung. Die Gründungskommission für das Deutsche Fotoinstitut steht fest, melden die Feuilletons.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.09.2023 finden Sie hier

Kunst

Die Gründungskommission für das Deutsche Fotoinstitut wurde festgelegt, meldet Alexander Menden in der SZ. Wegen des Streits zwischen Düsseldorf und Essen um den Standort des Instituts könnte die Wahl des Vorsitzenden für Konflikte sorgen, meint Menden: "Der Fotograf Moritz Wegwerth schließlich erscheint als Vorsitzender des 'Vereins zur Gründung und Förderung eines Deutschen Fotoinstituts' auf den ersten Blick auch als offensichtliche Wahl. Doch Kritiker, die befürchten, die Institution werde vor allem der Sicherung des Erbes einigen prominenten Fotografen der 'Düsseldorfer Schule' dienen, könnten sich an ihr reiben. Wegwerth ist ein ehemaliger Student von Andreas Gursky. Dieser hat unverdrossen Lobbyarbeit für den Standort Düsseldorf gemacht, und auch den Verein mitgegründet, dessen Vorsitzender Wegwerth ist."

FAZ-Kritiker Freddy Langer hielte es für sinnvoll, das Institut nicht nur als Archiv und Forschungsstätte, sondern vor allem als "Koordinationszentrale" zu planen: "Es könnten dort, statt ein weiteres Archiv zu bauen, nationale Richtlinien im Umgang mit Fotografien und Nachlässen entwickelt werden, die einen Austausch von Wissen und Material ermöglichen. Und man könnte von dort aus Hilfestellung geben, etwa wie finanzielle Mittel zu erhalten sind. Doch wird man den Gedanken nicht los, dass Düsseldorf sich nur allzu gern mit einem Prestigeprojekt schmückte."

Weiteres: Im Tagesspiegel resümiert Birgit Rieger die Berlin Art Week. Besprochen werden die Ausstellung "Michelangelo und die Folgen" in der Albertina Wien (FAZ) und eine Ausstellung der Künstlerin Klara Lidèn in der Galerie Neu in Berlin (BlZ).
Archiv: Kunst

Film

Sterling K. Brown in Cord Jeffersons "American Fiction"

Bert Rebhandl berichtet in der FAZ vom Filmfest Toronto, wo Cord Jeffersons Verfilmung von Percival Everetts Roman "American Fiction" den Hauptpreis gewann. Der Roman ist schon gut zwanzig Jahre alt, so Rebhandl, aber er passt sehr gut in die heutige Zeit. Hauptfigur ist der schwarze Schriftsteller, Thelonious "Monk" Ellison, der "mehr oder weniger offen Joyce nacheifert oder einem anderen alten weißen Mann" und damit "- hier beginnt schon die satirische Zuspitzung - seine Identität" verrät. "Jeffrey Wright spielt dieses Dilemma mit der Zurückhaltung, auf die 'American Fiction' dann lustvoll seine Übertreibungen bauen kann. Denn Monk reagiert auf den Erfolg von vielerlei Rollenprosa mit einem pseudonymen Machwerk, das all das erfüllt, was (weißen) Verlegern über Afroamerikaner einleuchtet. Und bald ist der Streich nicht mehr zurückzunehmen, es hilft nur die Flucht nach vorn, das gilt auch für den Film insgesamt, der dann aber mit vielen Zwischentönen seine deutliche Botschaft anreichert. Mit dem Mythos vom "großen amerikanischen Roman" muss "American Fiction" es gar nicht aufnehmen, um eine sehr präzise Bestandsaufnahme der Reste der bürgerlichen Öffentlichkeit in Amerika vorzunehmen."
Archiv: Film

Literatur

Ossip Mandelstam 1914
1935 wurde der Dichter Ossip Mandelstam verhaftet, weil Stalin sich von einem Gedicht beleidigt fühlte. Der russische Führer telefonierte noch mit Boris Pasternak, um sich zu versichern, dass er einen wirklich großen Dichter verhaftet hatte, der Rest ist Geschichte. Mandelstam starb 1938 in einem Lager bei Wladiwostock. Aber Stalin hätte sich nicht über Mandelstams Spottgedicht aufregen sollen, sondern über seine "Ode an Stalin", die er 1937 verfasste, meint Slavoj Zizek in der Berliner Zeitung, denn die war "viel zweideutiger und wirklich subversiv. Der Kritiker Joseph Brodsky schrieb Folgendes: 'Für meinen Geschmack ist das Beste, was über Stalin geschrieben wurde, Mandelstams 'Ode an Stalin' von 1937 [wir haben sie nur auf Englisch gefunden, die Perlentaucher]... Wissen Sie, es ist wie in Russland auf einem Basar, wenn eine Zigeunerin auf Sie zukommt, Sie am Knopf packt, Ihnen in die Augen schaut und sagt: 'Soll ich Ihnen die Zukunft voraussagen?' Was tut so eine Frau, wenn sie in Dein Gesicht schaut? Sie verletzt einen territorialen Imperativ!... Mandelstam hat mehr oder weniger denselben Trick angewandt. Das heißt, er hat sich über jede Distanz hinweggesetzt. Er verletzte denselben territorialen Imperativ (mit seiner Ode an Stalin, Anm. d. Red.). Und das Ergebnis ist einfach fantastisch... Wäre ich Josef Wissarionowitsch Stalin, hätte ich nichts gegen Satire gehabt. Aber nach Mandelstams 'Ode an Stalin' wäre es etwas ganz anders gewesen. Wäre ich Stalin, hätte ich Mandelstam sofort die Kehle durchgeschnitten. Ich hätte begriffen, dass er mich vergewaltigt hat, dass er in mich eingedrungen ist. Und es gibt nichts Beängstigenderes oder Schockierenderes als das.'"

Die Debatte um Charlotte Gneuß' Roman "Gittersee" ist eigentlich gar keine Debatte, findet Gerrit Bartels im Tagesspiegel: "Die Gegenmeinung fehlt, das große 'Nein, sie darf nicht', und so kreist diese innerdeutsche Pseudodebatte über kulturelle Aneignung um sich selbst: Alle sind sich einig. Aufschlussreicher wäre, wer ein Interesse an diesem Durchstechen von Schulzes Mängelliste hatte? Wem sollte genützt, geschadet oder worauf aufmerksam gemacht werden? Sollte der Jury bedeutet werden, sie solle doch bitte ihre Arbeit besser machen?" Ebenfalls im Tagesspiegel hofft Philipp Haibach, dass "Gittersee" auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises landet, die heute verkündet wird.

Weitere Artikel: In der SZ hält der Kunsthistoriker Alexander Braun eine Lobrede auf den Manga und stellt einige der besten vor. Besprochen werden Natalja Kljutscharjowas "Tagebuch vom Ende der Welt" (Tsp), Steven E. Aschheims Band "Scholem, Arendt, Klemperer" (FAZ), Wolf Haas' Roman "Eigentum" (NZZ), Thomas Hettches Roman "Sinkende Sterne" (FAZ) und Tomer Dotan-Dreyfus' Roman "Birobidschan" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus "Doctor Atomic". Foto: Theater Bremen.

nmz-Kritikerin Ute Schalz-Laurenze bleibt glatt die Luft weg bei Frank Hilbrichs Inszenierung von John Adams Oper "Doctor Atomic" am Theater Bremen. Die 2005 enstandene Oper behandelt den Kernspaltungsversuch der Amerikaner im Jahr 1945 in Los Alamos. Die Zuschauer verfolgen die Konferenzen der Wissenschaftler und Politiker, mit dabei der "kettenrauchende Robert Oppenheimer" und der "brutal durchgreifende General Leslie Groove" hinter einem Glaskasten in Zeitlupe. Klingt langweilig? Ist es aber überhaupt nicht, jubelt die Kritikerin: "Die Protagonisten wirken, ausgestattet mit Fantasieklamotten und Haarskulpturen, wie Wachsfiguren, wie Marionetten, von fremder Hand geführte Geister, die Gewaltiges tun, aber eigentlich nicht mehr wissen, was sie tun. Und auch nicht wissen, dass sie gerade zu Ungeheuern werden Es ist atemberaubend, wie sich ihre unbewältigbaren Spannungen und Nöte auf die ZuschauerInnen zu übertragen scheinen." Auch über die Musik kann Schalz-Laurenze nur staunen: "Trotz ihrer stilistischen Verortung in der harmlosen Minimal Music, der eher spätromantischen sinfonischen Wucht und virtuosen, ganz in der Operntradition verwurzelten Gesangslinien ist sie handwerklich natürlich enorm gekonnt."

Weitere Artikel: Nora Hertlein-Hull ist die neue Leiterin des Berliner Theatertreffens, melden die Feuilletons. Nachtkritiker Georg Kasch plädiert dafür, die Schuld für das Scheitern des Dreiergespanns nicht ausschließlich bei den dreien zu suchen, deren Verträge jetzt nicht verlängert wurden: "Warum schickt man ohne Not ein solches Team ins Rennen, ohne das Konzept auf Praxistauglichkeit (und offenbar auch: Finanzierbarkeit) abgeklopft zu haben? Hätte es nicht Möglichkeiten gegeben, die (verbliebenen) Leiterinnen zu schützen?"

Besprochen werden Alexander Eisenachs Inszenierung von "Weltall Erde Mensch" am Deutschen Theater Berlin (SZ, FAZ, taz, FR), Christiane Mudras mobiles Theaterstück "Selfie und Ich", das vom investigativen Theater in Berliner Privatwohnungen gespielt wird (taz), Frank Castorfs Inszenierung von Modest Mussorgskys Oper "Boris Godunow" an der Hamburgischen Staatsoper (Welt), Henriette Hörnigk Inszenierung von Richard Wagners Oper "Lohengrin" am Staatstheater Wiesbaden (FR), Holger Potockis Inszenierung von Giacommo Puccinis Oper "Turandot" am Landestheater Detmold (nmz). András Dömötörs Inszenierung von Suzie Millers Monolog "Prima Facie" am Deutschen Theater Berlin (nachtkritik, SZ, FAZ, BlZ).
Archiv: Bühne

Design

In Afghanistan werden nun auch die Schönheitssalons geschlossen, letztes Refugium für Frauen außerhalb ihres Hauses, erzählt auf Zeit online eine anonym bleibende Autorin. "Die Schönheitssalons waren also Orte, an denen Frauen Kontakte knüpfen und sich gegenseitig ermutigen konnten, was ihnen nun ebenfalls verwehrt wird. Einige Bürger und Bürgerinnen glauben, dass der letzte Beschluss der Taliban bezüglich der Schönheitssalons Teil eines größer angelegten Vorhabens ist, die Frauen zu Gefangenen in ihren eigenen Häusern zu machen. Die Inhaberin eines Salons in Kabul berichtet: 'Bevor die Schönheitssalons geschlossen wurden, haben uns die höheren Beamten der Taliban bereits Steuern für mehrere Jahre im Voraus zahlen lassen. Mir ist ein immenser finanzieller Schaden dadurch entstanden. Dass wir nicht einmal in Bereichen arbeiten können, die exklusiv für Frauen sind, ist einfach ungeheuerlich. Eine Unterdrückung der Frauen, wie sie in Afghanistan ausgeübt wird, wäre an jedem anderen Ort der Welt undenkbar. Im Grunde genommen sagen sie uns damit, dass wir kein Recht haben, zu leben, und sie uns alle umbringen könnten."

Szene aus dem Film "Zum weißen Rössl" mit Theo Lingen 1935


Trachten, und ganz besonders das Dirndl, werden immer beliebter, stellt Jeroen van Rooijen nach einem Rundgang auf dem Münchner Oktoberfest in der NZZ fest. Traditionell ist es nur bedingt, erzählt er. Ursprünglich hatten sich Hausfrauen zum Schutz ihrer Kleider "eine Schürze umgebunden, die oft aus alter Bettwäsche rezykliert war. Diese einfachen Grundbausteine sind tatsächlich historisch dokumentierte Kleidung des Alpenlandes - ein typisches 'Dirndl' wurde daraus aber erst später. Es waren die jüdischen Brüder Julius und Moritz Wallach, ursprünglich aus Bielefeld, die im Jahr 1900 in München ihr 'Volkstrachtengeschäft' eröffneten und damit den Grundstein für den Siegeszug der Tracht legten. ... Ein Coup gelang den Brüdern Wallach, als sie 1910, aus Anlass des 100. Oktoberfestes in München, unentgeltlich den Landestrachtenzug einkleideten und den Titel eines 'königlich-bayerischen Hoflieferanten' bekamen. Auch schneiderten die Brüder Wallach 1930 die Bühnenkostüme für die populäre Operette 'Im weißen Rössl' von Ralph Benatzky, die weltweit zu einem Trachten-Rausch führte." Wie modern!
Archiv: Design

Musik

Nachbau der Band-WG in Edith Grove, Chelsea, wo die Stones 1962-63 lebten.


Wer die Rolling Stones liebt, wird seinen Spaß haben an der hagiografischen Stones-Ausstellung "Unzipped" im Groninger Museum, meint Benjamin Moldenhauer in der taz. Er selbst hätte sich einen etwas genaueren Blick auf die Band gewünscht, "weil in der Geschichte der Rolling Stones, das Befreiende und das Repressive, das im Rockmythos steckt, konzentriert enthalten ist", schreibt er. Dazu gehört die "Abwertung von Weiblichkeit, die sich durch das gesamte Werk der Stones zieht und nicht nur in notorischen Songs wie 'Under my Thump' zu finden ist... Auf dem Cover des 1978 erschienenen Albums 'Some Girls' - in dessen Titelsong behauptet Jagger unter anderem, 'Black girls just wanna get fucked all night' - sind Bilder aller Bandmitglieder von Frauenperücken umrahmt, ergänzt mit kurzen Fakebiografien auf der Coverrückseite. 'Jede dieser erfundenen Frauen steht ohne Mann da', schreiben Joy Press und Simon Reynolds [in ihrem Buch "The Sex Revolts"]. 'Für die Stones offensichtlich die ultimative Schmach.' Jene Gleichzeitigkeit von Machismo, Misogynie und Befreiungsversuch wäre pophistorisch interessanter gewesen als in Vitrinen aufgebahrte Gitarren, die Keith Richards mit seinen eigenen Händen berührt hat."

Weiteres: In der taz schildert Philipp Rhensius Eindrücke vom Berliner Festival Atonal. In der Zeit schreibt Jens Balzer den Nachruf auf den Sänger Roger Whittacker. Besprochen werden Hans Werner Henzes "Das Floß der Medusa" im Flughafen Tempelhof (Welt, nmz), ein Konzert des Pianisten Víkingur Ólafsson mit Bachs Goldberg-Variationen auf Schloss Elmau (SZ) und ein Haydn-Konzert beim Musikfest Berlin (Tsp).
Archiv: Musik