Efeu - Die Kulturrundschau

Weiche Linien

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30.08.2023. Streik in Hollywood? Bei den Filmfestspielen in Venedig ist davon nichts zu merken, notiert der Tagesspiegel angesichts der auf der Leinwand versammelten Hollywood-Power. Die NZZ blickt mit Alberto Giacometti ins alte Ägypten. Die FAZ fragt sich angesichts eines Hochhauses ganz aus Holz im schwedischen Skellefteå, ob dies auch für Berlin die Zukunft sein kann. Und: die Ermittlungen gegen Till Lindemann wurden eingestellt, berichtet der Tages-Anzeiger, der auch kritisch auf die Medienberichterstattung blickt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.08.2023 finden Sie hier

Film

Heute beginnt der 80. Jahrgang des Filmfestivals Venedig - aufgrund des Streiks werden kaum Stars aus Hollywood auf dem roten Teppich zu sehen sein. Ausnahmen bilden jene Schauspieler, die in unabhängig von den großen Studios entstandenen Produktionen auftreten. "Diese Strategie soll also zeigen, dass es ein Kino ohne Großkonzerne gibt - und darin steckt die bittere Erkenntnis, dass es nicht mal mehr Festivals ohne Großkonzerne gibt, obwohl die sich doch der Filmkunst verschrieben haben", schreibt Susan Vahabzadeh in der SZ. "Das rührt an ein Grundproblem, das eben gar nicht so viel mit den großen Festivals in Cannes, Berlin oder Venedig zu tun hat, sondern mit dem normalen Betrieb: Das Kino wurde, wie der Rest der Welt ja auch, von einer wachsenden Ungleichheit erfasst. Einerseits spielen Kassenknüller wie 'Barbie' gleich rekordverdächtige Milliarden ein und werden von vielen Millionen Zuschauern angesehen. Andererseits sind aber die Zuschauerzahlen in den Kinos gar nicht gewachsen, in vielen Ländern gar gesunken, in Deutschland von mehr als 170 Millionen Besuchern im Jahr 2001 auf etwas mehr als 74 Millionen 2022."

Dennoch "strotzt das Line-up vor Hollywood-Power", es mutet gar "fast wie ein Heimspiel des amerikanischen Kinos an", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. "So lässt sich an diesem Jahr auch sehr gut das Kräfteverhältnis zwischen Hollywood und dem Venedig Filmfestival beobachten, das von der US-Industrie als Startbahn für die kommende Oscar-Saison benutzt wird. Nur ein Studio, Paramount, hat seinen Film zurückgezogen, weil eine Weltpremiere ohne Stars - vor dem Hintergrund eines Streiks, der sich noch sehr lange hinziehen könnte - werbetechnisch vielleicht doch nicht so viel Sinn ergibt. Luca Guadagninos Tennis-/Beziehungsdrama 'Challengers' mit Zendaya und Josh O'Connor hätte das Festival ursprünglich eröffnen sollen, stattdessen läuft an diesem Mittwochabend nun der italienische U-Boot-Kriegsfilm 'Comandante' von Edoardo De Angelis."

Wer auf Skandale schielt, wird auch in diesem Jahr von Venedig versorgt, glaubt Marian Wilhelm im Standard: "Der langjährige Festivaldirektor von Venedig, Alberto Barbera, provoziert auch mit 73 Jahren gerne. Heuer hat er gleich drei Filmemacher nach Venedig eingeladen, die anderswo unerwünscht sind: Luc Besson, Roman Polański und Woody Allen." Auch wenn die Hollywoodstars weitgehend fernbleiben, gibt es doch ausreichend europäische Stars auf dem Teppich zu sehen, beruhigt Tim Caspar Boehme in der taz. FR-Kritiker Daniel Kothenschulte hält vor allem Rückschau auf die Glanzleistungen des Festivals.

Weitere Artikel: In der taz empfiehlt Andreas Hartmann eine dem Regisseur Bent Hamer gewidmete Retrospektive in Berlin. Im Freitag schreibt Michael Töteberg einen Nachruf auf Werner Grassmann, der mit dem Abaton in Hamburg einst das Konzept des Programmkinos erfand. Marc Hairapetian plaudert für die FR mit der Schauspielerin Anna Maria Mühe über ihren neuen Film, Charly Hübners (im Standard besprochenes) Spielfilm-Regiedebüt "Sophia, der Tod und ich" nach dem gleichnamigen Roman von Thees Uhlmann.

Besprochen werden Joanna Hoggs "The Eternal Daughter" mit Tilda Swinton (ZeitOnline), Ira Sachs' "Passages" (Tsp, mehr dazu hier), Antoine Fuquas "The Equalizer 3" (Filmdienst) und das Spielfilmdebüt "Hit the Road" von Jafar Panahis Sohn Panah Panahi, das allerdings vorerst nur in Österreich startet (Standard).
Archiv: Film

Architektur

Skyscraper aus Holz in Skellefteå. Foto: White Arkitekter


Laura Helena Wurth besichtigt für die FAZ im schwedischen Skellefteå einen 20 Stockwerke hohen Holzbau. In das Gebäude werden viele Hoffnungen gesetzt: Es soll als Modell dienen für klimafreundlichere Architektur. Tatsächlich war schon beim Bau manches anders als anderswo, erfährt Wurth: "Bei der Holzbauweise ist vieles vorgefertigt, die einzelnen Bauteile werden auf der Baustelle nur noch zusammengefügt. So verkürze sich die Bauzeit, in der die Anwohner komplizierte Kreise um abgesperrte Bürgersteige drehen und auf unschöne Baugerüste blicken müssten. Gleichzeitig sei eine Holzbaustelle weniger laut. Der Lärmpegel sei auch für die Gesundheit der Bauarbeiter ein entscheidender Faktor." Aber ob diese Bauweise beispielsweise auch für Berlin ein Vorbild sein kann? Wurth hat ihre Zweifel: "In Skellefteå ist die Bauweise so nachhaltig, weil das Holz aus der Nachbarschaft stammt. In Berlin wird das wohl anders aussehen. Die Klimabilanzen des Bauwesens mit Holzpaneelen zu verkleiden wird nicht ausreichen. Es braucht eine Architektur, die mehr auf Erhalt und Umnutzung als auf Abriss und Neubau setzt."

Jean Nouvels Bau für die Galeries Lafayette in der Berliner Friedrichstraße. 2016. Foto: JoachimKohler-HB, unter cc-Lizenz


Ein schönes Beispiel für Umnutzung könnte Jean Nouvels Gebäude in der Berliner Friedrichstraße werden. Die Galeries Lafayette schließen, und auf Vorschlag des Kultursenator Joe Chialo könnte dann die Berliner Zentralbibliothek einziehen. Gut so, findet Peter Richter in der SZ, aber wehmütig wird ihm doch zumute, denn der Rückzug des Pariser Kaufhauses sei "eine echte Zäsur, das endgültige Ende einer Epoche und ein Politikum, dessen Vorgeschichte ein paar Regalmeter in der Zentral- und Landesbibliothek füllen könnte. Schließlich handelt es sich um den herausragendsten Bau der gesamten Nachwendezeit an der Friedrichstraße ... Dieser Bau reicht noch in die unmittelbare Wendezeit zurück, als Hanno Klein als Investorenbetreuer erst des Ostberliner Baustadtrats, dann des Gesamtberliner Bausenators an der Friedrichstraße die Fäden führte, bis er im Juni 1991 mit einer Briefbombe getötet wurde, mutmaßlich von Linksradikalen. Klein hatte sich sehr für die steile Profilierung der Friedrichstraße als Luxusmeile stark gemacht und seinen Ostberliner Mitarbeitern ausgerechnet das Londoner Nobelviertel St James dafür als Vorbild angegeben."

Die neue Stadtregierung von Berlin will nun doch einen Wettbewerb für eine mögliche Randbebauung des 300 Hektar großen Tempelhofer Felds ausschreiben, berichtet Niklas Maak in der FAZ, weist aber auch darauf hin, dass derzeit viele Bauprojekte nicht beendet werden, weil das Bauen zu teuer geworden ist. Angesichts der Proteste gegen eine Bebauung findet es Marcus Woeller in der Welt schade, dass die Debatte "nur die alten Lager mit durchweg alten Parolen bedient. Wo aber sind dagegen die mutigen Vorschläge aus der Wirtschaft, die radikalen aus der Klimabewegung, die überraschenden aus der Bevölkerung für eine innovative Nutzung des Areals?"
Archiv: Architektur

Kunst

Alberto Giacometti, Selbstbildnis mit blauer Baskenmütze, 1916. Abbildung: Kunsthaus Zürich, Grafische Sammlung, Legat. Bruno Giacometti, 2012

In der NZZ berichtet Philipp Meier angeregt über eine Ausstellung im Bündner Kunstmuseum, Chur, die sich dem Frühwerk Alberto Giacomettis, sowie dessen Verhältnis zu seinem Vater Giovanni widmet. Die Verbindung zwischen beiden war zunächst eng, auch künstlerisch. Doch Alberto ging bald eigene Wege: "Da war ein Katalog mit der Kunst des alten Ägypten: eine Offenbarung für Alberto, die sein gesamtes Werk bestimmen sollte. Plötzlich waren sie da in seinem Schaffen, die Ägypter: Allen voran Echnaton, mit dem strengen Pharaonenprofil, mit dem sich nun der junge Maler in seinem Selbstporträt an der Staffelei von 1921 aus dem Kunsthaus Zürich kühn von den weichen Linien des bisher gepflegten Stils absetzte. Dass er diesen beherrschte, hatte Alberto Giacometti gerade erst noch in einem Selbstbildnis aus demselben Jahr bewiesen, das einem Werk von Giovanni Giacometti zum Verwechseln ähnlich sieht."

Daiyo Moriyama: Untitled, Hayama, 1967, from 'A Hunter' © Daido Moriyama/Daido Moriyama Photo Foundation

Ein "Rockstar" ist der japanische Straßenfotograf Daido Moriyama, weiß Andrian Kreye in der SZ. Deshalb wird seine im Sommer im C/O Berlin präsentierte Ausstellung (unsere Resümees vom 15.5. und 21.6. diesen Jahres, in Berlin ist die Schau noch bis zum 6.9. zu sehen) demnächst in zahlreichen anderen Ländern Station machen. Kreye ordnet das Werk in die Geschichte der Pop Art des 20. Jahrhunderts ein: "William Klein und Andy Warhol waren seine Vorbilder. Von Klein hatte er das grobe Korn als Stilmittel der Straßenfotografie. Von Warhol das Gespür für Symbole mit doppelten Böden. Doch während sein amerikanisches Idol die Alltagswaren wie Suppendosen und Seifenkartons zu Ikonen stilisierte, zeigte Moriyama die Konsumwelt als einen Ort des ästhetischen Brutalismus. Da stehen die Colaflaschen wie der pure Überfluss in ihren Kisten. Die Motorradgang, die etwas linkisch versucht, Marlon Brandos Rebellenposen zu imitieren, hat er überbelichtet und so ihrer Gesichter beraubt. Die eingeölten jungen Männer am Strand dagegen liegen wie Luxusware aufgereiht im Bildwinkel."

Weiteres: In der NZZ sieht Paul Jandl die Haltung Bonaventure Ndikungs, Leiter des Berliner Hauses der Kulturen der Welt, zum BDS immer noch nicht geklärt. Die Bayerische Staatsbibliothek hat, wie Spiegel Online berichtet, einen frühen Druck des Hokusai-Farbholzschnitts "Unter der Welle im Meer Kanagawa" erworben.

Hokusai: Unter der Welle im Meer Kanagawa

Besprochen werden Leda Bourgognes Ausstellung "Mêlée" im Westfälischen Kunstverein in Münster (Monopol) und die Ausstellung "If the Sky Were Orange: Art in the Time of Climate Change" im Blanton Museum of Art in Austin, Texas (Guardian).
Archiv: Kunst

Literatur

Giuliano da Empolis noch vor dem russischen Krieg gegen die Ukraine entstandener, im Februar auch auf Deutsch veröffentlichter Roman "Der Magier im Kreml" wird mit Prigoschins Tod neuerlich aktuell, schreibt Michael Heese in der FR. Prigoschin ist in dem Roman nicht nur eine handelnde Figur, sondern gibt auch allerlei Selbstauskünfte. Das "Buch ist für seinen Realismus gefeiert worden. Man suchte in den Zeilen, zwischen den Zeilen, Kapitel für Kapitel, was Putin bewogen hatte, die Ukraine anzugreifen. Hier findet man sogar die Antwort auf den Hazardeur Prigoschin und seinen Untergang. Es war der Absturz eines Verlierers. Der Roman von Guiliano da Empoli ist ein echtes Meisterstück der gegenwärtigen Literatur - und wer etwas über das heutige Russland verstehen will, sollte ihn unbedingt lesen."

Weitere Artikel: Judith Lembke von der FAZ erkundet mit mit den Krimis von Andreas Steinhöfel den Kiez von Berlin-Kreuzberg. Peter von Becker schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf die Verlegerin Maria Sommer. Thomas Hummitzsch (Tsp) und Andreas Platthaus (FAZ) gratulieren dem Comiczeichner Robert Crumb zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Terézia Moras "Muna" (FR), Bov Bjergs "Der Vorweiner" (taz), Jul Gordons "Der Frischkäse ist im 1. Stock - gezeichnete Träume" (taz), Monika Helfers "Die Jungfrau" (Zeit), Theres Essmanns "Dünnes Eis" (FR), Felix Heidenreichs "Der Diener des Philosophen" (NZZ), Stéphane Lemardelés Comic "Das Storyboard von Wim Wenders" (Filmdienst), Charlotte Gneuß' "Gittersee" (SZ) und Liao Yiwus "Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs" (FAZ). Außerdem küren die SZ-Kritiker ihre Bücher des Monats und Dlf Kultur sammelt hier seine gesammelten Buchkritiken der letzten vier Wochen.
Archiv: Literatur

Musik

Die Staatsanwaltschaft Berlin sieht derzeit keine Anhaltspunkte, um weiter gegen Till Lindemann von Rammstein zu ermitteln. Eine neue Beweislage könnte dies allerdings ändern. Ihre Ermittlungen basieren vor allem auf Medienberichten und der Vernehmung einiger Zeuginnen. "Die Behörde betonte, dass sich bei ihr nie mutmaßliche Betroffene gemeldet hätten", schreibt Jonas Hermann in der NZZ. "Diese hätten sich an Journalisten gewandt, die dann wiederum von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hätten. Der Quellenschutz ist ein Eckpfeiler der Pressefreiheit. Die Mitteilung der Staatsanwaltschaft liest sich in diesem Punkt aber so, als ob der Quellenschutz die Ermittlungen behindert habe. Es sei unmöglich gewesen, einen Eindruck von der Glaubwürdigkeit mutmaßlicher Betroffener zu erhalten, heißt es." Für Jean-Martin Büttner vom Tages-Anzeiger steht dennoch "außer Frage, dass die Rockkultur aus einem sexistischen, männerdominierten Selbstverständnis heraus operiert. Und das seit Jahrzehnten. Dass diese Praxis jetzt öffentlich hinterfragt wird, ist eine positive Nebenwirkung der Kontroverse. ... Im Gegenzug müssen wir Medienleute Kritik hinnehmen: Die Vorwürfe gegen Till Lindemann fielen so heftig aus und wurden auch von seriösen Zeitungen dermaßen hartnäckig vorgebracht, dass sie einer Vorverurteilung gleichkamen."

Außerdem: Diviam Hoffmann freut sich in der taz auf das PopKultur-Festival, das heute in Berlin beginnt. Frederik Hanssen sucht im Tagesspiegel nach Positivbeispielen dafür, wie man Klassik popkulturell ehren kann. Besprochen werden Jaimie Branchs Jazzalbum "Fly or Die Fly or Die Fly or Die ((world war))" (Pitchfork, mehr dazu hier), ein Mahler-Konzert des London Symphony Orchestra unter Simon Rattle in Berlin (Tsp, VAN) und Thomas Leibnitz' Buch "Verrisse" mit eben solchen aus der Geschichte der Musikkritik (Standard).
Archiv: Musik