Efeu - Die Kulturrundschau

Das Miteinander von Mensch und Krake

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23.08.2023. Überraschende Nominierungen findet die erfreute FAZ auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Da gibts viel junge deutsche Literatur zu entdecken, ermuntert auch Intellectures. In Interviews mit SZ und FAZ kündigt Joana Mallwitz, die neue Dirigentin des Berliner Konzerthausorchesters, an, künftig auch in den Revieren der Spezialisten zu wildern. Der Tagesspiegel porträtiert den koreanischen Maler Sun Mu. Die NZZ betrachtet in Luzern die Fotografien Zanele Muholis von der verfolgten queeren Community in Südafrika. Die SZ fühlt sich sehr wohl im neuen Archiv der Zukunft in Lichtenfels.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.08.2023 finden Sie hier

Musik

Joana Mallwitz tritt ihre Position als neue Dirigentin des Berliner Konzerthausorchesters an. Den Auftakt gibt sie Ende des Monats mit den ersten Sinfonien von Kurt Weill, Sergei Prokofjew und Gustav Mahler. "Es zeigt, dass es ein Startpunkt ist, dass wir viel vorhaben und vorn anfangen", verrät sie Reinhard J. Brembeck im SZ-Gespräch. "Die Erste Mahler stand für mich relativ schnell fest, weil Mahler ein wichtiges Thema für uns sein wird. Die Erste hat genau die richtige Energie für so ein Eröffnungskonzert, sie ist positiv und mitreißend. Die Erste von Prokofjew stand auch ziemlich schnell für mich fest. Sie hat so viel von den Elementen, die ich immer suche, beim Musizieren: das Musikalische, das Kammermusikalische, den Respekt vor und die Kenntnis der Vergangenheit. Sie bricht auch mit den Regeln, hat Ecken und Kanten, ist modern und witzig und nimmt sich selbst nicht so ernst. Und mit unserem Fokus auf Kurt Weill in der ersten Saison gebührt seiner ersten Sinfonie, der 'Berliner Sinfonie', natürlich auch der Platz im Eröffnungskonzert."

Das Spezialistentum, bei dem bestimmte Orchester und Dirigenten ganze Werkzusammenhänge eisern für sich abonnieren, gehört zu den Herausforderungen, denen sie sich stellen will, sagt Mallwitz im FAZ-Gespräch mit Jan Brachmann: "Es ist einfach schade, dass uns große Bereiche des Repertoires entgehen, weil sich dafür Spezialisten etabliert haben. Für mich ist der Umgang mit Mozart eine Lebensfrage. Als ich aufwuchs, war Harnoncourt längst etabliert. Man hatte ein großes Wissen um alte Instrumente und Spielweisen wiedergewonnen, mit allen Konsequenzen für Tempi und Artikulation. Gleichzeitig bin ich in meiner Kapellmeisterlaufbahn den klassischen symphonischen Weg gegangen. Diese Klangkultur ist ja auch lange gewachsen. Das Konzerthausorchester Berlin hat eine eigene klangliche Identität entwickelt. Ich wünsche mir, beides zu verbinden. Der sprechende, detailreiche, durchartikulierte Klang der Spezialisten für Alte Musik muss zusammengehen mit dem vollen Cantabile des traditionellen Orchesters. Wir brauchen beides: Sprechen und Singen." In diesem vor zwei Jahren entstandenen Video führt Mallwitz mit ihrem neuen Orchester in Schubert ein:



Außerdem: Karl Fluch (Standard) und Jakob Biazza (SZ) staunen über den schlagartigen Erfolg des US-Folksängers Oliver Anthony, dem insbesondere seitens der US-Rechten die Herzen zufliegen. Claudius Seidl (FAZ) und Andrian Kreye (SZ) schreiben Nachrufe auf den italienischen Sänger Toto Cutugno. Am bekanntesten war sein "L'Italiano" - hier beim Auftritt beim Festival in Sanremo '83:

Archiv: Musik

Literatur

Die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023 ist da - in unserem Buchladen Eichendorff21 finden Sie alle Titel auf einen Blick, natürlich mit unseren Rezensionsnotizen (sofern bereits vorhanden) und (Vor-)Bestellmöglichkeit. Andreas Platthaus reibt sich in der FAZ die Augen angesichts der Vorauswahl: Die zahlreichen "spektakulären" Titel, mit denen der kommende Bücherherbst aufwartet, finden sich darin nämlich überhaupt nicht. Dafür "gibt es etliche Überraschungen, sowohl dank ganz unbekannter als auch unerwarteter prominenter Namen. ... Die fehlenden anderen Namen kann man der Jury anrechnen: als Versäumnis, weil sie Qualität übersehen, oder als Mut, weil sie gerade nicht auf bewährte Namen gesetzt hat." Judith von Sternburg bezeugt in der FR eine geradezu salomonische Vorauswahl: "Männer (neun), Frauen (elf), große Verlage, kleine Verlage, große Namen, weniger bekannte Namen, Debüts: Die Jury ist bei einem Ebenmaß angelangt."

Thomas Hummitzsch vom Intellectures-Blog freut sich dank vieler Debüts über diese Einladung, "die junge deutschsprachige Literatur zu erkunden. ... Da ist etwa der Debütroman des 1987 in Haifa geborenen Tomer Dotan-Dreyfus, der in Birobidschan die Geschichte einer jiddischen Gemeinschaft im sibirischen Nirgendwo sensationell aufleben lässt. Oder Necati Öziris zweiter Roman 'Vatermal', eine mitreißende Familiengeschichte, ein Trauerbuch und eine Reflexion über Männlichkeit in diesen Zeiten. Anne Rabes Wende- und Erinnerungsroman 'Die Möglichkeit von Glück' hat sämtliche Ost- und DDR-Debatten in diesem Frühjahr links überholt und trifft die Gemütslage der Dritten Generation Ostdeutschland wie kein anderes. Hier schließt auch das Debüt von Charlotte Gneuß an, eine Erzählung aus der DDR der 1970er-Jahre, das gerade den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung gewonnen hat. ... Elena Fischers Debütroman 'Paradise Garden' taucht ganz in die Gegenwart ein, erzählt von Armut und Überleben in einer Hochhaussiedlung. Luca Kieser taucht in seinem Debüt 'Weil da war etwas im Wasser' in die Tiefsee ab und erkundet das Miteinander von Mensch und Krake."

Birgit Schmid von der NZZ hat mitunter Zweifel daran, ob es wirklich so skandalös ist, dass Valentin Moritz in der Anthologie "Oh Boy" über seine Übergriffigkeit nachdenkt, weshalb der Kanon Verlag nach Protest der betroffenen Frau den Text zurückgezogen hat. Es sei schließlich "auch problematisch, wenn die Gefühle anderer Beteiligter darüber entscheiden, was man selbst in so anonymisierter Form über eine zwiespältige Erfahrung schreiben darf. Muss man in Zukunft alle Leute fragen, die zu einer Erfahrung beigetragen haben, ob sie mit einer literarischen Verarbeitung einverstanden sind?" Peter Hintz hat sich den Band für 54books zur Brust genommen und gerät dabei eher ins genervte Stöhnen: "Bei vielen Texten geht es gar nicht zuerst um männliche Selbsthinterfragung, die auch Antworten hervorbringen soll, sondern um emotionale Expressivität, also den Ausdruck von möglichst viel Selbstmitleid oder Schuldgefühlen bis hin zum Kitsch. ... Die neue Männlichkeit bleibt homosozial, erzeugt sich im Vergleich mit vermeintlich weniger 'herrschaftskritischen' Männern. Die Erneuerungsrhetorik der Herausgebenden verschleiert letztlich die Anleihen der neuen Männlichkeit beim Altbekannten."

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Michael Hesse wirft für die FR einen Blick auf den Streit in Lübeck um das Buddenbrookhaus. Magnus Klaue wirft für die Welt einen Blick in die Geschichte der literarischen Sommerfrische. Besprochen werden unter anderem Emmanuel Carrères Gerichtsreportage "V13" über den Bataclan-Prozess (NZZ), Richard Fords "Valentinstag" (SZ) und Abraham Vergheses "Die Träumenden von Madras" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Das Archiv der Zukunft. Foto: Webseite des Archivs


Das "Archiv der Zukunft" in Lichtenfels polarisiert. Eine kitschige "Bau-Murmel", die im Ortszentrum fehl am Platz ist, monieren Kritiker. Gerhard Matzig hält in der SZ dagegen: "Endlich mal wieder ein Bau, der sich nicht vor lauter Bau-Scham, Ich-bin-eigentlich-gar-nicht-da-Geducktheit und plakativer Bescheidenheit hinter grün wabernden Moosteppichen versteckt, die oft nur das gekonnte Greenwashing bezeugen. Das Haus tut das, was eine gelingende Architektur im Idealfall immer schon definiert. Es ist ein anregender, sinnlicher und schöpferischer Ort der Begegnung."

Weitere Artikel: In Lübeck sorgt die geplante aufwändige Sanierung des Buddenbrookhauses für Diskussionen, berichtet Michael Hesse in der FR. Markus Woeller schreibt in der Welt über die Auseinandersetzungen um die Bebauung des Molkenmarkt in Berlin. In der NZZ zeigt sich Andres Herzog äußerst angetan von einem Architekturprojekt im Tessiner Dorf Monte.
Archiv: Architektur

Bühne

Im Februar hatte der Choreograf Marco Goecke die FAZ-Tanzkritikerin Wiebke Hüster mit Hundekot beschmiert (unser Resümee). Im Gespräch mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, das nicht online zu lesen ist, aber von Zeit online resümiert wird, hat sich Goecke nun entschuldigt. Er habe unter Burnout gelitten. "Die Staatsoper hatte dem Ballettchef ein vorläufiges Hausverbot erteilt und eine Entschuldigung verlangt. Das Hausverbot gilt Goecke zufolge nicht mehr. 'Ich war aber noch nicht wieder im Haus, ich konnte das nicht.' Er werde aber bald wieder proben. Im September werde 'A Wilde Story' wieder aufgenommen, dafür werde er an das Haus zurückkommen."

Weiteres: In der nachtkritik resümiert Valeria Heintges das Zürcher Theaterspektakel, in der SZ schreibt Egbert Tholl dazu. Besprochen wird Bohuslav Martinůs Oper "Griechische Passion" bei den Salzburger Festspielen (nmz).
Archiv: Bühne
Stichwörter: Goecke, Marco

Film

Rosario Dawson als Jediritterin Ahsoka (Disney)

Die neue "Star Wars"-Serie "Ahsoka" wurde von Männlichkeitsdogmatikern, die auf jede Frauenfigur mit hysterischer Panik reagieren, schon vorab in der Luft zerrissen: Nur Heldinnen, keine Helden! Euer Pech, ruft Andreas Busche im Tagesspiegel, der die Serie erzählerisch sehr interessant findet: Sie "versucht sich an der Integration von verschiedenen alleinstehenden Serien-Erzählungen in ein größeres 'Star Wars'-Kontinuum, das stärker an die Kinofilme anknüpft." Die ersten beiden Folgen zeigen "alle Anlagen für eine eigenständige Handschrift innerhalb der 'Star Wars'-Erzählmaschine" und lassen "hoffen, dass die politischen Untertöne, die zuletzt 'Andor' zum vorläufigen 'Star Wars'-Highlight machten, auch auf die erste Serie, die den fragilen Frieden in der 'Neuen Republik' in den Mittelpunkt stellt, abfärbt."

Peter Huth von der Welt legt in reger Freude am eigenen Detailwissen dar, welche Position und Rolle diese Serie im für Außenstehende mittlerweile völlig unübersichtlich gewordenen "Star Wars"-Universum einnimmt. Auch ansonsten ist er vom neuesten Wurf begeistert: Er ist "perfekt ausgestattet, dreckig und rostig, wie das Universum von Star Wars, in dem sich jede Landeklappe mit dem gewohnten Zischen und Dampfen hydraulischer Mechanismen öffnet und es im lautlosen Weltall nur so heult, wenn schnelle Schiffe zum Duell antreten, sein soll. Insofern ist - die vorerst fehlenden Männerhelden hatten wir ja schon abgehandelt - 'Ahsoka' nicht modern, nicht woke, nicht divers, sondern sehr, sehr klassische Space Opera."

Außerdem: In China ist Greta Gerwigs "Barbie"-Film (unsere Kritik) vor allem auch wegen seiner feministischen Botschaft beim jungen Publikum ein großer Hit, berichtet Fabian Kretschmer in der taz. Der Film zementiere allerdings auch wieder bloß das Schönheitsideal von der schlanken Erfolgsfrau, seufzt Jean-Martin Büttner im Tages-Anzeiger. Besprochen werden Maïwenns "Jeanne du Barry" mit ihr selbst in der Haupt- und Johnny Depp in der Nebenrolle (FAZ, Presse), Jenna Hasses "L'Amour du Monde" (Standard) und die Amazon-Serie "Shelter" nach einem Roman von Harlan Coben (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Sun Mu, "Lied des Friedens", 2018


Gunda Bartels porträtiert im Tagesspiegel den aus Nordkorea stammenden Maler Sun Mu, der gerade im Berliner Kunstraum Meinblau ausstellt. Der Künstler, der in seinem Heimat längst Persona non grata ist, war ursprünglich regimetreuer Propagandamaler, floh in den 1990er Jahren nach Südkorea und träumt in seinen Werken von einem vereinten Korea: "Sun Mu ist ein lockerer, angstfreier Typ. Ein Mann der direkten Botschaften und kräftigen Farben, subtil ist nichts in seiner Kunst, satirisch subversiv aber schon. Dass sich Sun Mu auch als Menschenrechts- und Friedensaktivist sieht, wie Bernhard Draz anmerkt, lässt sich eins zu eins draußen an der Hauswand ablesen, wo die Flaggen von Nordkorea und den USA vom Dach herunterbaumeln. Unten verschlungen zu einem Knoten, der das spannungsreiche Verhältnis der Staaten symbolisiert. Wie die Arbeit heißt? 'Knot', Knoten, grinst Sun Mu. Doofe Frage, wie auch sonst."

Zanele Muholi, Brave Beauties, Durban 2020


Beeindruckt steht Philipp Meier (NZZ) im Kunstmuseum Luzern, wo die südafrikanische Fotografin Zanele Muholi ihre Porträtfotos ausstellt. Muholi will mit ihren Arbeiten gegen die Verfolgung Homosexueller in ihrer Heimat protestieren, die immer öfter durch "korrigierende Vergewaltigungen" geheilt werden sollen. "Hunderten von lesbischen und bisexuellen Frauen sowie Transpersonen hat Zanele Muholi mit ihrer Fotokunst ein Gesicht verliehen. Sie ist eine Vorkämpferin der queeren Lebenswelt Südafrikas. Und diese erhält in der Ausstellung im Luzerner Kunstmuseum ein eindrücklich schillerndes Antlitz. Was darin zu lesen steht: Wut, Trotz, aber auch Wunsch nach Selbstbestimmung und Suche nach einer eigenständigen Identität. ... 'Wir 'queeren' den Raum, um ihn einzunehmen und um sicherzustellen, dass Schwarze Trans-Körper ebenfalls Teil des öffentlichen Raums sind', sagt Muholi. Damit sind ihre Bilder auch ein hochpolitisches Statement."

Ursula Scheer schreibt in der FAZ über einen komplexen Fall möglicher Beutekunst: Ein Zuschauer der BR-Sendung "Kunst + Krempel" identifizierte 2008 ein dort vorgestelltes Objekt als ein Tafelbild des Belgischen Malers Frans Francken des Jüngeren. Bis 1945 hing das Bild im Hitler'schen Führerbau. Jedoch: "Kurz nach Hitlers Selbstmord in Berlin schon wurde das Münchner Depot geplündert. Es ist immer noch einer der größten ungeklärten Kunstdiebstähle des vorigen Jahrhunderts. Die meisten gestohlenen Objekte sind nie wieder aufgetaucht - Frans Franckens 'Bergpredigt' allerdings schon." Am 21. September soll das Werk nun versteigert werden, doch noch sind zahlreiche Fragen offen: "Denn wem das Gemälde einst gehörte, ob es womöglich aus jüdischem Vorbesitz stammt, ist immer noch unklar. Weiter zurück als bis 1943 reicht die Provenienzgeschichte nicht, trotz aller vom Auktionshaus und der Einlieferin unterstützter Recherchen Klingens mit dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte."

Weitere Artikel: Jana Talke unterhält sich im Monopol-Magazin mit dem ukrainisch-russischen Künstler Nikolau Estis. Jana Ballweber berichtet in der FR über Sicherheitslücken im IT-System des Auktionshauses Christie's.

Besprochen werden die Anton-Kokl-Schau im Museum Wiesbaden (FR), die online-Ausstellung "De-Zentralbild" über Migrant:innen in der DDR (Tagesspiegel) sowie die Ausstellungen "Das Leben des BODI" im LVR-Landesmuseum Bonn (FAZ), "Farbe Bild Raum. Bart van der Leck im Dialog" auf der Insel Hombroich (taz), "Oscar Tuazon. Was wir brauchen" in der Kunsthalle Bielefeld (taz), "Paul McCartney Photographs 1963-64" in der National Portrait Gallery London (NZZ) und "Diva" im Victoria & Albert Museum London (NZZ).
Archiv: Kunst