Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Rest von Aura

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19.08.2023. Die taz spricht mit dem Regisseur Sudhir Mishra über ethnoreligiöse Gewaltexzesse in Indien. Die SZ gibt sich dem Klangrausch von Fabián Panisellos Oper "Die Judith von Shimoda" bei den Bregenzer Festspielen hin, die das Schicksal der Geisha Okichi besingt. Ein Herausgeber der Anthologie "Oh Boy" hat mit einem Text über sein übergriffiges Verhalten die Grenze der betroffenen Frau ein zweites Mal übertreten, schreibt die FAZ. Zum 500-jährigen Bestehen des Bayerischen Staatsorchesters versenkt sich das ND tief in die Geschichte des Klangkörpers. Die NZZ bezieht in Zürich Stellung zwischen Käthe Kollwitz und Mona Hartoum.  
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.08.2023 finden Sie hier

Film

Social Media als Monster: "Afwaah" von Sudhir Mishra (Netflix)

Sven Hansen spricht für die taz mit dem indischen Regisseur Sudhir Mishra, dessen aktueller Film "Afwaah" von hindunationalistischen Gewaltexzessen erzählt - in seinem Land ein wagemutiger Akt. Tatsächlich "wundern sich die meisten, dass ich nicht verprügelt wurde", sagt der Filmemacher.: Indien sei wohl doch freier als gedacht, meint er. "Ich zeige eine Gefahr, die in allen Parteien besteht und die zum Beispiel religiöse oder auch geschlechtsspezifische Gründe haben kann. Frauen leiden unter sozialen Medien wie unter ethnoreligiöser Gewalt am meisten. Sind Gefühle stärker als der Verstand, wird es gefährlich und kann als Bumerang auf die Urheber zurückfallen wie im Film. Auch rechte Parteien leiden, wenn das von ihnen losgelassene Monster auf sie zurückschlägt. ... Für mich zählen Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz. Mein Film ist kein Realismus, sondern mischt Satire, Thriller, Dokumentarfilm und Moralgeschichte" und "ich zeige, dass wir in Blasen leben und nicht mit Menschen aus anderen Blasen reden. Auch die Hauptperson, zufällig ein Muslim, lebt in so einer Blase. Er glaubt, dass sie ihn schützt, doch sperrt sie ihn aus. Und der Killer denkt, er dient seinem Herren, wird aber von ihm verlassen. Soziale Medien agieren dabei als Monster, das außer Kontrolle gerät." Nach einer Kinoauswerung in Indien läuft der Film auch bei uns auf Netflix.

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek erzählt in der WamS von seinem Ausflug ins mecklenburg-vorpommerische Demmin, wo der Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg seinen aktuellen Essayfilm "Demminer Gesänge" über einen Massensuizid der Stadtbevölkerung am Ende des Zweiten Weltkriegs gezeigt hat. Dunja Bialas berichtet auf Artechock von den Auseinandersetzungen um das Münchner Traditionskino am Sendlinger Tor: Dem Pächter droht nach Streitigkeiten um die Pacht nun endgültig die Räumung. Außerdem bespricht Bialas für Artechock Katharina Hubers Film "Ein schöner Ort", der beim Filmfestival Locarno eben mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde. Ihr Artechock-Kollege Rüdiger Suchsland zieht derweil allgemein Locarno-Bilanz. Claudius Seidl macht sich in der FAZ Sorgen um das Studio Babelsberg, wo seit Monaten kaum mehr gedreht wird. Martin Scholz plaudert für die WamS mit dem Schauspieler Jared Leto. In der FAZ gratuliert Jürgen Kaube dem Regisseur und Schauspieler Nanni Moretti zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Markus CM Schmidts Dokumentarfilm "Le Mali 70" über Jazz in Mali (Tsp, mehr dazu bereits hier), Celine Songs "Past Lives" (NZZ, Artechock, Perlentaucher), Valeria Bruni Tedeschis "Forever Young" (Artechock, Perlentaucher), Stefan Westerwelles "Kannawoniwasein!" (Artechock, Perlentaucher), André Øvredals "Die letzte Fahrt der Demeter" (Filmdienst), Ric Roman Waughs "Kandahar" (Artechock), Angel Manuel Sotos "Blue Beetle" (Standard), die Netflix-Serie "Painkiller" (taz), die zweite Staffel der Serie "The Bear" (taz, Zeit) und die Netflix-Doku "Depp vs. Heard" (Presse).
Archiv: Film

Musik

Zum 500-jährigen Bestehen des Bayerischen Staatsorchesters arbeitet sich Berthold Seliger in einem epischen Longread für das ND nicht nur durch deren aktuelle Opernbegleitungen, sondern versenkt sich mithilfe eines Jubiläumsbandes auch ganz tief in die Geschichte des Klangkörpers. Insbesondere an die Ära Carlos Kleiber erinnert sich Seliger gern: "Seine Aufführung von Beethovens 'Pastorale' im November 1983 ist ebenso einzigartig wie seine Interpretationen des 'Rosenkavaliers', der 'Fledermaus' oder von Verdis 'La Traviata' - alles auf Ton- und Bildträgern nachzuhören und zu überprüfen. Hier ist ein 'rekomponierender' Dirigent (Peter Gülke) zu hören, das 'einzige Genie unter den Dirigenten seiner und meiner Generation', wie Michael Gielen meinte. Und ein Dirigent, der das Musizieren des Orchesters, berühmt für seinen dunklen und warmen Klang, nachhaltig geprägt hat, gerade mit seiner Aufforderung, nicht zu sicher zu spielen, sondern sich dem Augenblick, dem spontanen Musizieren hinzugeben: 'Wenn man weiß, was man will, verhindert man, daß es einem zufällt.' Heute setzt Vladimir Jurowski, in Berlin als Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin bestens bekannt, diese Arbeit auf höchstem Niveau fort."



Weitere Artikel: FAZ-Kritiker Gerald Felber wurde beim Kammermusik-Festival im norwegischen Rosendal "nicht fertig mit Staunen". Lena Kaiser spricht mit Rica Blunck und Ralf Köster zur Lage des Golden Pudel Clubs in Hamburg, der sich samt angeschlossenem Label wegen der Rückzahlung von Coronahilfen in erheblichen finanziellen Schwierigkeiten befindet. Manuel Brug erzählt in der WamS von seiner Begegnung mit dem Pianisten Víkingur Ólafsson. Konstantin Nowotny verabschiedet sich in der Jungle World vom tschechischen Fluff-Fest, bei dem 20 Jahre lang Punk und Hardcore gefeiert wurden. Ein Gericht hat eine von Till Lindemanns Anwälten beantragte Verfügung gegen Shelby Lynn abgelehnt, meldet Tobias Mayer im Tagesspiegel. Dlf Kultur widmet sich in einer Langen Nacht von Egbert Hiller dem Komponisten Alban Berg.

Besprochen werden Anohnis neues Album "My Back Was A Bridge For You ...." (FR), ein von Daniel Barenboim dirigiertes Konzert des West-Eastern Divan Orchestra mit Igor Levit (Standard), eine Diskografie der Popband Fun Boy Three (Standard) und Jayda Gs neues Album "Guy" (tazlerin Anna Kücking hat Freude an diesem "Mix aus Poparrangements und Funkgrooves mit Disco- und Houseelementen").

Archiv: Musik

Bühne

Szene aus "Die Judith von Schimoda". Foto: Anja Köhler. © Bregenzer Festspiele. 

Wie berauscht ist SZ-Kritiker Egbert Tholl von der Musik in Fabián Panisellos Oper "Die Judith von Shimoda", die bei den Bregenzer Festspielen uraufgeführt wurde. Die Oper erzählt den Mythos von Okichi: Mitte des neunzehnten Jahrhunderts versuchen die USA die Öffnung Japans zu erzwingen. Das Mädchen Okichi soll sich mit dem amerikanischen Konsul einlassen, um ihn von seinen Kriegsplänen abzubringen. Die Oper beruht auf einem Stück des japanischen Dichters Yamamoto Yuzos, das von Bertolt Brecht bearbeitet wurde. In der Brecht-Fassung erkennt Tholl einige Schwächen, "aber das Stück selbst, also das ursprünglich japanische, macht Panisello zu einem Meisterwerk hochemotionaler Konversation. Er beherrscht viele Stile bis hin zum Jazzrock - eine E-Gitarre ersetzt kreischend die Shamisen, die traditionelle Laute, Instrument der Geishas. Auch flicht er - in einem betörenden Moment der Ruhe - ein altes japanisches Lied ein, aber nie so ostentativ, dass man darin Folkore vermuten könnte. Um dieses Lied herum tost und gleißt die Musik, mitunter nervenzerreißend, aber immer absolut präzise."

Die kürzlich in den Feuilletons aufgekommene Frage, ob Theater auch im Sommer weiter Stücke spielen sollten (unser Resümee), beantwortet Peter Laudenbach in der taz mit einem klaren "Nein". Die Bühnen brauchen die Pause, so der Kritiker, genauso wie das Publikum: "Wenn sich das Theater in seiner Überproduktionsbetriebsamkeit noch einen Rest von Aura gerettet haben sollte, ist die Idee, ihm nicht mal im Sommer eine Pause zu gönnen, der beste Weg, diese Aura auszuradieren. Wie bei jeder starken Droge empfiehlt es sich auch beim Theater dringend, die Einnahme regelmäßig zu unterbrechen, schon um die Gewöhnungsabstumpfung zu vermeiden: Dann wirkt es nach der Theaterentziehungskur nach der Sommerabstinenz wieder um so intensiver."

Weitere Artikel: In der FR fordert Arno Widmann die deutschen Theater auf, sich mal an Heinrich Heines Tragödie "Almansor" ranzuwagen. Das Stück wurde seit seiner desaströsen Uraufführung 1823, die aus nicht überlieferten Gründen in einem Publikumstumult endete, nie wieder gespielt. In der FAZ weist Christian Gohlke auf die Ausstellung "Die zauberhafte Wirklichkeit des Theaters" im Salzburger Stefan-Zweig-Zentrum hin, die sich um die legendäre "Faust"-Premiere des jüdischen Theatermachers Max Reinhardt im Jahr 1933 dreht.
Archiv: Bühne

Literatur

Die vor einem Monat erschienene Anthologie "Oh Boy", in der sich zahlreiche namhafte Autoren mit ihrer Männlichkeit auseinandersetzen, hatte in den Feuilletons durchaus für Aufsehen gesorgt - auch deshalb, weil der Co-Herausgeber Valentin Moritz in seinem literarischen Essay sein eigenes sexuell übergriffiges Verhalten thematisiert. Nun stellt sich nach einem (allerdings anonymen) Instagram-Statement heraus, dass die betroffene Frau dem Autor bereits im Vorfeld untersagt hatte, sein Verhalten ihr gegenüber auszuschlachten, um sich als geläutert in Szene zu setzen und damit kulturelles Kapital anzuhäufen, meldet Anna Vollmer in der FAZ. "Die Frage, in welchem Verhältnis Realität und Fiktion stehen, inwiefern sich Schriftsteller der Geschichten anderer bedienen dürfen, ist altbekannt und muss doch im jeweiligen Fall aufs Neue verhandelt werden." Doch "wenn ein Text über mangelnde Zustimmung und Übergriffigkeit gegen den Willen der betroffenen Person veröffentlicht wird, wird das 'Nein' der Frau ein zweites Mal übergangen. ... Optionen hätte es gegeben. Einen fiktionalen Text etwa, der nicht auf einer wahren Begebenheit beruht. Oder einen autobiografischen Text mit expliziter Zustimmung des Opfers, etwa auch unter Einbeziehung seiner Perspektive."

Der Kanon-Verlag hat das Buch mittlerweile aus dem Liefersortiment genommen, digitale Versionen des Buchs werden um Moritz' Text gekürzt. Auf Instagram gibt es eine Stellungnahme, in dem der Verlag einräumt, von dem Veto der Frau gewusst zu haben. "Valentin Moritz hat angeboten, sich aus dem "Oh Boy"-Projekt zurückzuziehen. Die Herausgebenden und der Verlag haben darauf intensiv darüber diskutiert, ob es nicht doch einen Weg geben könnte, dem Nein der Betroffenen zu entsprechen und einen Text über ein Tabuthema zu ermöglichen, in dem es um Scham, Reue und Prägungen geht. Solch einen Weg sahen wir im dann publizierten Text 'Ein glücklicher Mensch'. Doch dieser Weg erweist sich als nicht richtig. Das ist uns, leider viel zu spät, klar geworden. Wir hätten den Wunsch der Betroffenen, jenen Vorfall in keiner Form aufzugreifen, auch nicht in einer fiktionalen, respektieren müssen. Für diese Fehlentscheidung und die dadurch entstandenen Verletzungen möchten wir aufrichtig um Entschuldigung bitten."

"Am 18. Juni 1926 meldet eine Lokalzeitung im australischen Bundesstaat New South Wales unter dem Titel 'Boy Girls: Looking for Farm Work' die Ankunft von 'Darcy und June Langley'. Kein Wunder, dass die beiden dem Blatt eine Notiz wert sind: Sie tragen Männerkleidung, behaupten, dass sie einen Fußmarsch von rund 100 Meilen hinter sich hätten, und wollen Arbeit in den Weinbergen der Region finden." Die beiden hießen eigentlich Eve und June Langley. Eve, die sich später auch Steve und Oscar Wilde nannte, schrieb ihren ersten Roman über die Arbeit der Schwestern als Erbsenpflücker. Angela Schader macht uns in ihrem neuen "Vorwort" für den Perlentaucher mit der Autorin bekannt, die gleich in der Einleitung des Romans ihr Selbstverständnis offenbart: "Ich wusste, dass ich eine Frau war, doch ich glaubte, ich hätte ein Mann sein sollen. Ich wusste, dass ich witzig war, aber meinte, dass ich ebenso ernst und schön war. Es war tragisch, lediglich eine witzige Frau zu sein, wenn ich mich doch vor allem danach sehnte, ein ernster und schöner Mann zu sein."

Außerdem: In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Claudia Schülke widmet sich in der FAZ dem Garten in der Gegenwartslyrik. Werner von Koppenfels zeichnet im "Literarischen Leben" der FAZ die lange Rezeptionsgeschichte der Schriftstellerin Emily Dickinson nach. Helmuth Mojem blättert für "Bilder und Zeiten" der FAZ in den Stammbuch-Beständen des Literaturarchivs Marbach. "Bilder und Zeiten" der FAZ dokumentiert außerdem Frido Manns Vorwort der englischen Ausgabe von Thomas Manns Rundfunkreden während des Zweiten Weltkriegs.

Besprochen werden unter anderem Maxim Billers "Mama Odessa" (Standard), Tijan Silas "Radio Sarajevo" (die hatten wir gestern in der taz-zwei übersehen), Tess Guntys "Der Kaninchenstall" (taz), Deniz Utlus "Vaters Meer" (taz, SZ), Ulrike Sterblichs "Drifter" (taz), Ilko-Sascha Kowalczuks Biografie über Walter Ulbricht (Welt), Volker Reinhardts Montaigne-Biografie (online nachgereicht von der FAZ), Ronja von Rönnes Essay "Trotz" (Standard), Heinz Strunks Geschichtensammlung "Der gelbe Elefant" (FR), Michal Govrins "Strandliebe" (NZZ), Tobias Rüthers Biografie über Wolfgang Herrndorf (WamS) und Richard Fords "Valentinstag" (FAZ, SZ).

In der Frankfurter Anthologie schreibt Stephan Opitz über Lars Gustafssons "Und ich habe sie lange gekannt":

"Die Wespe, die in den Mund flog,
zwischen des Oktobers letzten,
langsam zerfallenden Rosen ..."
Archiv: Literatur

Kunst

Mona Hatoum: "Remains of the day". Foto: Kunsthaus Zürich. 

NZZ-Kritiker Philip Meier sieht in der Ausstellung "Stellung beziehen" im Kunsthaus Zürich zwei Künstlerinnen aus unterschiedlichen Epochen in einen kraftvollen Dialog über erlebtes Leid treten. Wie "ein Schlag ins Gesicht" wirken Käthe Kollwitz' schwarz-weiße Druckgrafiken, in denen sie Krieg und Tod verarbeitet und sind dabei, das sollte man ob der Eindringlichkeit der Bilder nicht vergessen, von hoher technischer Qualität, so Meier. Auf eher "poetisch-symbolische" Weise intervenieren die Kunstwerke der in Beirut geborenen Künstlerin Mona Hartoum: "Ein überdimensionierter Rosenkranz aus schwarzen Kanonenkugeln liegt da ausgebreitet auf dem Boden ('Worry Beads'). Assoziationen zu Religion und Gewalt kommen auf. In schwarzen Stahlkäfigen leuchten blutrot amorphe Glasobjekte, die an Brüste, Blasen, Mägen oder an andere Organe erinnern ('Cellules'). Da berührt sich schön-schreckliche Ästhetik mit Kritik an Machtstrukturen, Kontrollmechanismen und Formen der Körperstrafe."

Weitere Artikel: In der FAS findet der französische Kunsthistoriker Jean Pierre de Rycke heraus, wer die historische Person hinter Caspar David Friedrichs "Wanderer über dem Nebelmeer" war. Modell für die nachdenkliche Rückansicht stand aller Wahrscheinlichkeit zu Folge der Forstbeamte Karl Albrecht Holte von den Brincken.

Besprochen werden die Ausstellung "Action, Geste, Peinture. Femmes dans l'abstraction, une histoire mondiale (1940-1970)" in der Fondation Vincent van Gogh in Arles (FAS), die Ausstellung "Im Freien" mit Werken des Künstlers Norbert Bisky im Kunstverein Freunde Aktueller Kunst in Zwickau (FR).
Archiv: Kunst