Efeu - Die Kulturrundschau

Nicht-Husten ist eine Kunst

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19.06.2023. Die FAS lernt in einer Ausstellung des französischen Autors und Fotografen Hervé Guibert, das Leben als Abenteuer zu nehmen. Im Standard würde die Autorin Hélène Alice Bailleul die Armeen von Einfaltspinseln gern ins Nirgendwo der Endlosigkeit schicken. Die Jungle World streift mit Jörg Buttgereit durch die Geisterbahnhöfe des Berliner Undergrounds. Die FAZ verteidigt die bösen Lieder vor den Kurzschlüssen des Feuilleton.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.06.2023 finden Sie hier

Kunst

Hervé Guibert: Chambre de mathieu, 1989. Bild: Kunst-Werke Berlin

FAS
-Kritiker Henning Kober lernt auf das Detail zu achten in den Fotografien des 1991 gestorbenen französischen Schriftstellers Hervé Guibert, der berühmt wurde mit seinem Buch über das Sterben Michel Foucaults und dessen Arbeiten die Berliner Kunst-Werke zeigen. Aber klar, die Geschichte von Guiberts Dreiecksbeziehung lässt er sich bei der Eröffnung auch gern erzählen: "Die Dame mit dem blonden Haar und dem rot geschminkten Mund aus Paris, die mir gegenüber sitzt und spricht, trägt einen schwarzen Jumpsuit, eleganten Schmuck und Lacksandalen. Sie ist Christine Guibert, geborene Seemuller, die Ehefrau von Hervé. 'Er begann früh zu fotografieren, sein Vater, zu dem er eine enge Beziehung hatte, kaufte eine Rollei 35.' Als sie Hervé 1976 trifft, ist sie seit drei Jahren die Freundin von Thierry Juono. Hervé und Thierry verlieben sich, und ähnlich wie im Film von François Truffaut, ähnlich der Beziehung von Jules, Jim und Catherine, entsteht zwischen Thierry, Hervé und Christine eine Beziehung. 'Es war am Anfang nicht leicht, aber es war möglich.' Von da an sind sie zu dritt. 'Ein Konstrukt, das zu einer echten Freundschaft wird.' Sie sind jung, sie wachsen zusammen, sie sind eine gewählte Familie. 'Es war ein großartiges Abenteuer.'

In der SZ erzählt die amerikanische Schriftstellerin Kristen Roupenian, wie sie mit ihrer kleinen Nichte und ihre Mutter die von der Stand-up-Komikerin Hannah Gadsby kuratierte Anti-Picasso-Ausstellung "It's Pablo-Matic", im Brooklyn Museum besuchte: "Sagen Sie das Wort 'problematisch' dreimal vor dem Spiegel, und ein älterer Fox-News-Zuschauer und ein weiblicher Millennial erscheinen auf Ihren Schultern und schreien sich gegenseitig an, bis Ihnen die Ohren bluten."

Besprochen wird die Ausstellung "Motherland", für die ukrainische KünstlerInnen im Stadtmuseum Berlin den Heimatbegriff hinterfragen (taz).
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Film

Die Autobiografie "Nicht jugendfrei" des Berliner Underground-Regisseurs Jörg Buttgereit lässt das Westberlin der frühen Achtziger vor dem geistigen Auge des Jungle-World-Kritikers Magnus Klaue wieder auferstehen: Das "Buch verleitet dazu, statt über ihn über andere, vergessene Protagonisten des Westberliner Underground-Milieus des achtziger Jahre zu sprechen. Die Digression ist ein Grundprinzip seines Erinnerungsalbums. Ob er anlässlich der Premiere seines vierzigminütigen Films 'Hot Love' 1985 im vergleichsweise repräsentativen Kino 'Sputnik' in Berlin-Wedding an die von Grenzsoldaten bewachten Geisterbahnhöfe zurückdenkt, die man bei der Benutzung der U-Bahnlinie 6 in Westberlin durchfahren musste", oder "ob er Erinnerungen an von ihm gestaltete Kinonächte im Xenon mit Filmen von Russ Meyer und John Waters zum Anlass für Rückblenden in die schwule Subkultur Berlin-Schönebergs nutzt." Stets "lässt sich Buttgereit durch das Sprechen über sich selbst zum Sprechen über andere und durch das Sprechen über andere wieder zu sich zurück führen." Und "überreich bestückt mit Notizen, Fotografien, Brief- und Zeitungsausschnitten, alten Filmplakaten, Markenlogos und Schallplatten-Cover, findet es seinen adäquaten Leser nicht im Filmgelehrten, der es vom Anfang bis zum Ende durcharbeitet, sondern im faszinierten Blätterer." Seit einiger Zeit inszeniert Buttgereit Hörspiele für den WDR - eine kleine Auswahl davon ist in der ARD Audiothek zu finden.

Außerdem: Im Tages-Anzeiger beklagt sich Michael Marti darüber, dass er auf Netflix zu viel Schrott schaue. Besprochen wird Stephen Williams' auf Disney+ gezeigtes Biopic "Chevalier - The Untold Story" (taz).
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Musik

Jan Wiele staunt in der FAZ, mit welcher Aufregung nun auf einmal Rammsteins "- wie auch immer banalisierte - Ästhetik des Bösen" zur Kenntnis genommen wird und Rückschlüsse gezogen werden, bei der auch frühere Fans im Feuilleton in die Verantwortung für die angeblichen Exzesse des Sängers Till Lindemann gezogen werden. "Wer sich darüber jetzt erst empört, ist sehr spät dran - und wer den Kurzschluss von bösen Liedern auf böse Urheber macht, denkt allzu billig. Wer diesen Kurzschluss gar zum Anlass von Verboten machen wollte, hätte viel abzuschaffen. Dass nun mit Jan Müller ausgerechnet ein Mitglied der für mehrdeutige Referenzgewitter bekannten Indie-Band Tocotronic kritisiert, Rammsteins 'Songtexte und Shows, die immer eine ironische Hintertür offenlassen', machten die Band 'zu einer haltungslosen Puddingmasse', ist schräg. Müller empfiehlt Rammstein-Fans, doch einfach andere Musik zu hören. Aber 'Haltung' von Kunst einzufordern weckt keine guten Erinnerungen." Wer unter den Eindrücken der letzten Wochen - Roger Waters hier, Lindemann-Skandal da - das Ende der Unschuld von Popmusik verkündet, hat im Seminar zur Popgeschichte nicht gut aufgepasst, findet Gerrit Bartels im Tagesspiegel: "Pop trägt die Fratze des Bösen."

Dass die Grammys verkündet haben, Musik nur dann auszuzeichnen, wenn sich darin "bedeutende menschliche Urheberschaft" niederschlägt, um auf diese Weise K.I.-Musik zu ächten, reiht sich nach Ansicht von Daniel Gerhardt auf ZeitOnline nur weiter ein in die lange Geschichte von Grammy-Fehlentscheidungen: "Der Grammy-Impuls, immerzu alles falsch zu machen, ist offenbar stärker ausgeprägt als der Impuls zur Modernisierung."

Weitere Artikel: Ein Team von Zeit-Autorinnen und -Autoren erzählt davon, wie schwer es fällt, beim klassischen Konzert auch wirklich ruhig zu sein: "Nicht-Husten ist eine Kunst", streicht etwa Jens Jessen hervor. Jana Weiss (Tsp) und Lena Karger (Welt) berichten vom Sonar-Festival in Barcelona. Karl Fluch resümiert im Standard das Linzer Festival Lido Sounds. Maurice Summen schreibt in der taz einen Nachruf auf die Musikerin und Autorin Patricia Wedler alias DJ Patex.

Besprochen werden ein Erobique-Konzert in Hamburg (taz), Stings Auftritt in Wiesbaden (FR), Sebastian Weigles Abschiedskonzert als Generalmusikdirektor des Frankfurter Museumsorchesters (FR), Christoph Eschenbachs Abschiedskonzert als Chef des Berliner Konzerthausorchesters (FAZ), Kiss' Abschiedskonzert in München (SZ-Kritiker Andreas Bernard beobachtet "eine zuverlässig arbeitende Nostalgiemaschine" bei der Arbeit), Arlo Parks' Album "My Soft Machine" (Jungle World) und ein Zürcher Auftritt von Roy Bianco & den Abbrunzati Boys, die als bayerische Band den Italo-Sehnsuchtsschlager wieder auferstehen lassen ("der Aperol Spritz fließt in Strömen", hält NZZ-Kritiker Matthias Niederberger fest).

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Literatur

In einem Standard-Essay über Krieg und Frieden gibt die Autorin Hélène Alice Bailleul Einblick in ihre geheimen Wünsche: "Ich träume von einer flachen, endlosen Erde. Ich habe die absurde Vision, dass die Verdorbenen, Verbissenen und Gierigen ihre Armeen von Einfaltspinseln ins Nirgendwo der Endlosigkeit schicken würden. Ich habe die absurde Vision, dass die bedrohten Tiere in andere Wälder fliehen könnten. Ich habe die absurde Vision, dass es nichts weiter bringen würde, ein Stück Land an sich zu reißen, weil dahinter immer ein anderes Stück Land käme. Ich habe die absurde Vision, dass die Armeen der Einfaltspinsel nach Hause zurückkehrten, weil sie zuletzt die Sinnlosigkeit ihrer Feldzüge erkennen würden."

Außerdem: Sergei Gerasimow schreibt hier und dort in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Besprochen werden unter anderem Olga Tokarczuks "Empusion" (NZZ), Simon Sahners Essay "Gegen die Fußgängermentalität. Deutsche Beat- und Undergroundliteratur", der insbesondere den Schriftsteller Jürgen Ploog dem Vergessen entreißt (FAS), die Leserpost-Ausstellung "'Leser? - achduliebergott.' Arno Schmidt und einige seiner Bewunderer" in Bargfeld (FAZ), Marcel Beyers Poetikvorlesung "Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha" (Standard), Anne Rabes Romandebüt "Die Möglichkeit von Glück" (online nachgereicht von der FAZ), Samuel Hamens "Wie die Fliegen" (Tsp), Tonio Schachingers "Echtzeitalter" (BLZ) und neue Hörbücher, darunter Stefan Kaminskys Lesung von Matthias Mückes Roman "Fernweh im Paradies" (FAZ).
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Bühne

Große Gesellschaft in Verona. Zur hundertsten Ausgabe des Opernfestivals wurde Verdis "Aida" gespielt, die Kunstfliegerstaffel der Frecce Tricolori sprühten im Tiefflug Grün, Weiß und Rot in den Himmel über das Amphitheater, und Anna Netrebko durfte singen. In der SZ bemerkt Michael Stallknecht, dass Netrebkos Ansehen schon wieder so weit hergestellt sei, dass sogar ihr Mann Yusif Eyvazov den Radamès geben durfte, findet die Inszenierung ansonsten aber solide: "Überhaupt wird trotz des Massenaufgebots bemerkenswert differenziert musiziert, klingt das Orchester der Fondazione Arena di Verona hochtransparent. Der italienische Dirigent Marco Armiliato verführt es immer wieder zu fast tänzerischer Eleganz, vermag aber bei Bedarf ebenso leichthin zuzuschlagen. In klaren Klanggesten tritt das Chiaroscuro der Partitur hervor." Im Standard erlebt Dominik Straub eher ein "mit großer Kelle" angerührtes, ganz und gar unpolitisches Spektakel.

Weiteres: Till Briegleb schreibt in der SZ zum Abschied des Intendanten Ulrich Khuon, der nach 14 Jahren das Deutsche Theater verlässt und interimsweise das Zürcher Schauspielhaus leiten wird. 

Besprochen werden Ewe Benbenek Stück "Juices" (das Nachtkritiker Steffen Becker als Sprachkunstwerk lobt), Holger Schultzes "Hamlet"-Inszenierung am Theater Heidelberg (Nachtkritik), Anne Leppers "Jugend ohne Chor" am Staatstheater Darmstadt (FR), eine halbszenische Aufführung von Beethovens "Fidelio" in der Tonhalle Zürich (NZZ) und Mozarts "Die Entführung aus dem Serail" an der Wiener Volksoper (Standard).
Archiv: Bühne