Efeu - Die Kulturrundschau

Roboterkühle Überlegenheit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.10.2019. Der Standard sucht mit Philipp Weiss die Literatur, die uns in die Zukunft trägt. Die SZ fröstelt vor einem Leichentuch aus Rosenblättern, das die kolumbianische Bildhauerin Doris Salcedo in der Kunsthalle Lübeck ausbreitet. Der Guardian erkennt im British Museum, welche Faszination die Osmanen auf das Europa der Renaissance ausübten. Der Freitag lernt vom DDR-Gestalter Rudolf Horn das Wohnen als offenes System. Die NZZ erliegt dem Sog der Afrobeats aus Nigeria. Und die Filmkritiker liegen weiterhin Todd Philips "Joker" zu Füßen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.10.2019 finden Sie hier

Kunst

Doris Salcedo: A Flor de Piel, 2014. Bild: Harvard Art Museum

Die kolumbianische Bildhauerin Doris Salcedo erhält den erstmals vergebenen Possehl-Preis für internationale Kunst. Beklommen geht Jörg Heiser für die SZ durch die Ausstellung, die ihr die Kunsthalle Lübeck deshalb widmet. Die 1958 geborene Künstlerin beschäftigt sich seit dreißig Jahren mit dem Bürgerkrieg, den Verbrechen von Militär, Guerilla, Paramilitärs und Drogenkartellen: "Salcedo geht nicht in die Reliquien-Falle. Als Künstlerin, die in den Achtzigerjahren in New York studierte, kennt sie die lateinamerikanische Moderne ebenso gut wie die Geschichte der Minimal Art und der Konzeptkunst - und weiß, dass sie nicht mit blutverschmierten Fetzen oder ausgestellten Folterwerkzeugen hantieren kann, wenn sie eine wirkliche Transformation des Geschehenen hin zu so etwas wie Erinnerungsarbeit erreichen will. Ein riesiges, rotbräunliches, Falten werfendes Tuch bedeckt beispielsweise den Boden eines der Räume in Lübeck. Es besteht aus Abertausenden konservierten, miteinander vernähten Rosenblättern. Hochfragil und dezent duftend ist die Arbeit mit dem Titel 'A Flor de Piel' - spanisch in etwa für 'das Herz auf der Zunge tragen' - eine Verbeugung vor einer kolumbianischen Krankenschwester, die entführt und zu Tode gefoltert wurde. Ein Leichentuch."

Porträt von Sultan Bayezid I., um1580. © Islamic Arts Museum Malaysia/British Museum
Hin und weg ist Guardian-Kritiker Jonathan Jones von der Schau "Inspired by the East" im British Museum in London, die den west-östlichen Kulturaustausch in den Blick nimmt. Von wegen Orientalismus! Jones stößt trifft auf unerwartet viel Komplexität und Zuneigung: "Weit davon entfernt, erbitterte Feinde in einem Kulturkrieg zu sein, blickten Christen und Muslime aufeinander mit gegenseitiger Faszination. Ein Schlüsseldokument dieser Verstrickung ist ein Porträt des Sultan Bayezid I. aus dem 16. Jahrhundert, von dem der osmanische Herrscher über seine Schulter sieht, sein nachdenklicher Blick und sein goldener Mantel sind mit einer an Veronese angelehnten, rauchige Zartheit eingefangen. Dieses plastische Porträt einer historischen Gestalt wurde 1578 vom osmanischen Wesir über den venezianischen Botschafter in Istanbul in Auftrag gegeben. Der osmanische Hof hatte seinen Geschmack an venezianischer Kunst gefunden, als Gentile Bellini dort die Porträtmalerei der Renaissance einführte. Venezianische Maler verdankten ihren Sinn für Farbe zum Teil auch den fernöstlichen Seiden und Gewürzen, die auf dem Rialto verkauft wurden." Und nicht zu unterschätzen: "Macht zieht an. Die meisten Europäer hielten es vor fünfhundert Jahren nur noch für eine Frage der Zeit, bis das osmanische Reich sie eroberte."

Weiteres: Für die Berliner Zeitung besucht Ingeborg Ruthe die Ausstellung des südafrikanischen, seit siebzehn Jahren in Berlin lebenden Streetart-Künstlers Robin Rhodes im Kunstmuseum Wolfsburg und kann nicht fassen, wie ignorant der Kunstbetrieb der Hauptstadt sein kann: "Berlin übersieht ihn. Keine der mindestens 500 hiesigen Profi-Galerien holte ihn in ihren Künstlerkreis." Im Tagesspiegel freut sich Markus Lücker über die Wiederentdeckung der Industriefotografin Marianne Strobel, deren Identität erst vor zwei Jahren geklärt werden konnte. Das Verborgene Museum widmet ihr in Berlin eine Ausstellung.
Archiv: Kunst

Literatur

Im Standard porträtiert Margarete Affenzeller den Schriftsteller Philipp Weiss, der sich viel vorgenommen hat: Er "gehört zu jener Generation Literaten, die im Zeitalter der Globalisierung den Auftrag erkennen, die Welt und ihre fluiden Verhältnisse neu zu fassen. ... Weiss sagt, das Problem unserer globalisierten Gegenwart ist, 'dass wir Dinge, die wir uns nicht vorstellen und erzählen können, auch nicht verantworten und verändern können'. Wir stehen also 'ohnmächtig wie Analphabeten des Komplexen vor dieser Wirklichkeit.' Es sei, sagt Weiss, eine 'politische Aufgabe der Literatur, dieser Sprachlosigkeit entgegenzuwirken'. Wer also fragt, wo ist die Literatur, die uns in die Zukunft trägt, wo sind die Theaterstücke, die das künftige Menschsein antizipieren, das den Klimawandel und seine Folgen bereits eingerechnet hat, der wird bei Philipp Weiss fündig."

Weiteres: Zumindest beim Blick auf die Favoriten der Wettbüros scheint beim in diesem Jahr doppelt vergebenen Literaturnobelpreis alles wieder beim Alten, schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel und bleibt trotzdem gespannt, ob die zu weiten Teilen neu zusammengesetzte Schwedische Akademie morgen nicht eine Überraschung präsentiert. Die Presse meldet die Nominierten für den Österreichischen Buchpreis. Friedrich Dieckmann schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Schriftsteller Horst Drescher, der bereits am 22. September gestorben ist.

Besprochen werden unter anderem Abraham B. Yehoshuas "Der Tunnel" (NZZ), Marius Hulpes Roman "Wilde grüne Stadt" (SZ) und Miku Sophie Kühmels "Kintsugi" (FAZ).
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Design

Rudolf Horns Experimentalbau Rostock. Foto: Kunstgewerbemuseum Dresden
Enttäuscht kommt Freitag-Kritiker Michael Suckow von Dresden nach Hause, wo er die Rudolf Horn gewidmete Ausstellung besucht hat. So ganz bekommt diese die Arbeit des DDR-Möbeldesigners, dessen bekanntester Entwurf die modulare Schrankwand MDW 60 gewesen ist, nämlich nicht zu fassen. Stattdessen gebe es bloß warme Slogans. "Rudolf Horn selbst bringt das Wesentliche seines Konzepts immer noch am präzisesten auf den Punkt. 'Wohnen als offenes System' und das 'Prinzip Modulbaukasten' haben nicht die visuelle oder die ästhetische Variierung von Räumen und Dingen als Ziel. Sie sollen selbstbestimmtes Handeln der Bewohner und Benutzer von Wohnraum und Einrichtung ermöglichen. 'Der Nutzer als Finalist', Horns Slogan, heißt: Wir gestalten die Bausteine, den Bau schafft ihr euch selbst. Weniger Paternalismus war selten im Design. ... Es steckt ein enormes demokratisches Potenzial in diesem Gestaltungskonzept, das unter der Dominanz des warenästhetischen Stylings im Kapitalismus sich nur rudimentär entfalten kann. Auch in der DDR ist es, aus anderen Gründen zwar, eine konkrete, aber doch eine Utopie geblieben."
Archiv: Design

Bühne

SZ-Kritikerin Christine Dössel feierte gestern im Schauspiel Leipzig den Ada-Lovelace-Tag mit Martina Clavadetschers Stück "Frau Ada denkt Unerhörtes". Besonders gut gefällt Dössel die "roboterkühle Überlegenheit" der Informatik-Ikone: "Was machst du da, wird sie von den Wissenschaftlern gefragt. Darauf sie: 'Alles besser.'" Der Standard berichtet von der prekären Finanzlage des Wiener Volkstheaters. In der Nachtkritik berichtet Verena Harzer, wie der schwarze Theatermacher Jeremy O. Harris' mit seinem Stück "Slave Play" den weißen Broadway aufmischt.

Besprochen werden Amir Reza Koohestanis Inszenierung von Heiner Müllers Drama "Philoktet" am Deutschen Theater in Berlin (taz), Puccinis "Manon Lescaut" an der Oper Frankfurt mit Asmik Grigorian (FAZ), Anna Bergmanns Bühnenfassung von Ingmar Bergmans "Sehnsucht der Frauen" in Karlsruhe (FAZ), Enrico Lübbes Inszenierung des "Tristan" in Leipzig (FAZ) und Rossinis "Guillaume Tell" in der Opéra de Lyon (NZZ).
Archiv: Bühne

Film

Immer lächeln: Joaquin Phoenix ist der "Joker" (Warner)

In Venedig hat man Todd Phillips' "Joker", der den Ursprung des gleichnamigen Supergangsters aus dem Batman-Universum in ein Scorsese-artiges New-York-Setting der späten siegbziger Jahre versetzt, noch gefeiert. Dann brachte jemand die klickträchtigen Begriffe "Incel" und "white male rage" in Umlauf, sprach davon, dass der Film angeblich Futter und Legitimation für Amokläufer liefere und schon leisteten manche Kommentatoren ganz erhebliche Konstruktionsarbeit in der Deutung des Films. In den USA hat dies mittlerweile dazu geführt, dass Vorführungen des Films von der Polizei begleitet werden, aus Sorge, es könne zu Gewalttaten kommen. Sehr überraschend findet es Dominik Kamalzadeh im Standard daher, "mit welcher Nervosität selbst einzelne Filmkritiker nun vor dem Filmstart von dem möglichen Identifikationspotenzial eines zornigen Mannes für Nachahmungstäter schrieben. Da scheint es in einem Land, wo man Feuerwaffen im Internet bestellen kann, drängendere Probleme zu geben. Genährt wird diese Debatte auch dadurch, dass Phillips im Film den privaten Feldzug des Jokers mit einem Aufstand des Prekariats auf den Straßen von Gotham City in Verbindung setzt."

Der Film treibt dem Comicstoff jegliche fantastische Überhöhung aus, rückt ihn ganz nahe an die Realität, schreibt Jenni Zylka in der taz und schildert in einem "Passionsspiel" das reale Leid, das eine dysfunktionale Gesellschaft an einem psychisch gestörten, erfolglosen Komiker verübt, aus dem dann der berühmte Superschurke wird. "Phillips ästhetisiert nichts und lässt zudem keinen Zweifel daran, dass sein Protagonist ein Antiheld ist, einer, der nicht als Vorbild taugt." Auch SZ-Kritiker David Steinitz meint, dass die erhitzte Diskussion "den falschen Film" treffe. Zwar gebe es in dem Film durchaus krasse Gewaltszenen, doch deutlich mehr zur Sorge Anlass gebe, "dass man durch die fortschreitende Disneyfizierung im 21. Jahrhundert fast schon vergessen hat, dass das Kino mal ein wichtiger Ort nicht nur für Feenstaub, sondern für pathologische Fallstudien über Obsessionen und Depressionen ... Todd Phillips erzählt anhand des Jokers von der Unfähigkeit zu Kompromiss und Empathie."

Von der Komplexität der Scorsese-Filme, an denen sich Phillips orientiert, ist dieser "Joker" zwar durchaus entfernt, meint Esther Buss im Tagesspiegel. Aber dafür brilliert Joaquin Phoenix als Arthur Fleck mit seinem Körperspiel: "Die Deformation zum gefährlichen Täter macht etwas mit seinem Bewegungsapparat. Flecks anfänglich abgehackte, verhuschte Gesten werden flüssiger und artikulierter, die Bewegungen elastischer. ... Seine spindelig-insektenhafte Körperlichkeit streift er dabei ab wie einen Kokon - und häutet sich gleichzeitig von den letzten Schichten des Wirklichkeitsbezugs." Weitere Besprechungen in ZeitOnline, Filmbulletin und FAZ.
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Musik

Afrobeats aus Nigeria erobern die Welt, zumindest aber deren Dancefloors, schreibt Adrian Schräder in der NZZ, der sich in der Szene getummelt und zahlreiche Stimmen eingeholt hat. Woran liegt dieser Erfolg? "Es ist urbane Pop-Musik, die mit nichts hinter dem Berg hält. Da ist der R'n'B-Schmelz, da sind die künstlich überzeichneten Stimmen, die gummigen Klänge des Synthesizers, da sind die Texte, die oft nicht über ein paar Anmachfloskeln hinausgehen. Und doch üben viele Afrobeats-Tracks einen unwiderstehlichen Sog aus. Dank den ineinanderfliessenden Rhythmen, dank der Kombination aller Elemente, dank der fröhlichen Unverfrorenheit." Unter anderem mit der Sängerin und Tänzerin Korra Obidi hat Schräder gesprochen - ein aktuelles Video:



Weiteres: Im Freitag befasst sich der Sozialpsychologe Frank T. McAndrew mit der Frage, woran es liegt, dass Ältere die Musik der jungen Generation meist nicht ausstehen können. Elias Pietsch begleitet für den Tagesspiegel die Musiker und Musikerinnen der Karajan Akademie beim Besuch in Youtubes Berliner Hauptzentrale. In der Jungle World porträtiert Steffen Greiner die feministische Indiepop-Band Chastity Belt, die gerade ihr neues Album veröffentlicht haben.

Besprochen werden das neue Album von Nick Cave & the Bad Seeds (Pitchfork, mehr dazu hier und hier), das neue Wilco-Album "Ode to Joy" (taz), ein von András Schiff dirigiertes Konzert des Chamber Orchestras of Europe (Tagesspiegel), das neue Album der Chromatics (Standard), Chers Konzert in Wien (Standard), der Auftritt von New Order in Berlin (Tagesspiegel) und neue Popveröffentlichungen, darunter das Comeback-Album des Techno-Duos 808 State (SZ).
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