Efeu - Die Kulturrundschau

Licht und Dunkelheit und Täuschung

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17.12.2016. Monopol sehnt sich vor den Afrika-Filmen des Künstlers und Schlingensief-Schülers Tobias Dostal zurück ins industrielle Zeitalter. In der NZZ erklärt Sibylle Lewitscharoff, warum sie Christoph Schlingensief hasste. Moviepilot blickt wütend zurück auf das Erfüllungsgehilfenkino im Jahr 2016. Die SZ feiert den Tänzer Sergei Polunin. Der Perlentaucher freut sich über die epochalen Ausstellungen zur Berliner Werkstatt für Photographie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.12.2016 finden Sie hier

Kunst

Michael Schmidt, Pragmatiker und Charismatiker zugleich, und seine Werkstatt für Photographie werden gleich in drei Ausstellungen - in Berlin, Essen und Hannover - gewürdigt. Sie werden das Bild der deutschen Fotografiegeschichte auf Dauer verändern, schreibt Thierry Chervel im Perlentaucher: "Ehrlichkeit, bis hin zum Struppigen, ist vielleicht, was die ausgestellten Fotografen verbindet: Schon William Egglestons Dye-Transfer-Verfahren, das seinen Bildern diese glamouröse Farbigkeit gibt, wäre den deutschen Fotografen zuviel. Schmidts Bilder sind sorgfältig komponiert - aber wie gesagt: klein, grau, unspektakulär. Berlin-Wedding. Nicht 'Rhein II'. Daneben förderte er aber auch Künstler wie Gosbart Adler mit seinen wunderbar punkigen Tagebuchskizzen in Farbe. Das hier ist 'arme Kunst'. Und viele dieser Künstler sind wahrscheinlich bis heute arm. Nichts würde hier deplazierter wirken als die überwältigenden Großformate der Becher-Schüler, die neben Nauman und Richter und in den Foyers der UBS hängen wollen, nicht in Fotoausstellungen."


Installationsansicht Tobias Dostal "S/W" im Trafo Stettin. Foto: Trevor Good, Courtesy Galerie Kwade

Richtig Heimweh nach dem industriellen Zeitalter bekommt Daniel Völzke (Monopol) bei den Filmen, die der Künstler und Schlingensief-Schüler Tobias Dostal aus Afrika ins Ausstellungshaus Trafó Stettin mitgebracht hat. Vorgeführt wird auf uralten Projektoren: "Ein Film zeigt eine Savanne, über deren Himmel Sonnen und feenartige Geschöpfe fliegen, die der Künstler direkt auf die Filmstreifen gemalt hat. In einem zweiten Werk sieht man einen afrikanischen Jungen - gefilmt im Operndorf -, auf dessen Handfläche Figuren tanzen, wiederum direkt auf dem Zelluloid gemalt. Es wirkt ein wenig wie ein stiller Aufstand gegen digitale Technik, sich dieser irrsinnig aufwendigen Arbeit auszusetzen, Filmstreifen Bild um Bild zu bemalen und so Animationen herzustellen. ... Film, das ist Licht und Dunkelheit und Täuschung."

Weiteres: Im Tagesspiegel schreibt Bernhard Schulz zum 150. Geburtstag von Wassily Kandinsky. Besprochen wird eine Ausstellung von Jimmie Durham im Mönchehaus Museum in Goslar (Tagesspiegel).
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Bühne

In der SZ porträtiert Sonja Zekri den ukrainischen Tänzer Sergei Polunin, der am Londoner Royal Ballet als neuer Nurejew gefeiert wurde, bevor er die Plünnen hinschmiss und erstmal Musikvideos drehte. Jetzt probt er unter Igor Zelenski in München für das Ballett "Spartacus", aber wirklich versöhnt ist er immer noch nicht mit seinem Schicksal, als Tänzer geboren zu sein: "Jede Talkshow sieht er als Kränkung: Sportler, Schauspieler, Filmstars äußern sich zu diesem und jenem, aber niemals ein Tänzer. Weil sie von morgens bis abends trainieren, weil sie ihre kurze Karriere nicht gefährden wollen, weil ihre Kunst eine wortlose ist. 'Tänzer leben in einem Traum. Sie opfern ihre Kindheit, ihr Leben für ihre Kunst', sagt er. 'Nach zehn Jahren ist alles vorbei, und am Ende können sich nicht mal die größten Tänzer eine anständige Wohnung leisten.' Sergei Polunin spricht so ohne jede Peinlichkeit über die Sehnsucht, Filmstar, eine Marke und natürlich Millionär zu werden, wie es nur jemand tut, der Armut kennt."

"Jesus!" Sergei Polunin probt für David La Chapelles Video "Take me to the church":



Besprochen werden fünf Uraufführungen von Andreas Sauter, Sabine Harbeke, Daniela Janjic, Philippe Heule und Maxi Obexer, versammelt unter dem Titel "Das Schweigen der Schweiz", am Theater St. Gallen (nachtkritik, NZZ), Alexandra Liedtkes Inszenierung von Florian Zellers Komödie "Die Kehrseite der Medaille" in den Kammerspielen in Wien (Presse, Standard) sowie Dušan David Pařízeks Adaption von Ilja Trojanows Roman "Macht und Widerstand" am Schauspiel Hannover (nachtkritik, FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Das Filmjahr 2016 war eine Katastrophe, schreibt Rajko Buchardt im Rückblick auf Moviepilot. Und das habe vor allem damit zu tun, dass nicht nur das mittlere Produktionssegment weggebrochen ist, in dem einstmals die interessantesten Regisseure nisteten, sondern auch damit, dass der Blockbuster nur noch Kokolores hervorbringe: "Die Strategie der großen Studios, vielversprechende Filmemacher an wenig versprechende Projekte zu setzen, hat ein Erfüllungsgehilfenkino ohne Raum für Unerwartetes entstehen lassen. Dort toben sich die nach ein, zwei Independent-Überraschungserfolgen rekrutierten Talente leider nicht hemmungslos aus, sondern liefern braven Dienst nach Vorschrift. ... Blockbuster-Kino mit wenigstens etwas Köpfchen ist hier mittlerweile auch als Zu- oder Unfall kaum noch denkbar."

Weiteres: Im dffb-Archiv schreibt Fabian Tietke über das Verhältnis zwischen Politik und Film an der Berliner Filmhochschule. Urs Bühler spricht für die NZZ mit dem norwegischen Regisseur Rune Denstad Langlo. In der SZ gratuliert Hanns Zischler Steven Spielberg zum Siebzigsten. Weitere Glückwünsche übermitteln Lukas Stern (Berliner Zeitung) und Verena Lueken (FAZ) und der Bayerische Rundfunk bringt ein einstündiges Spielberg-Feature von Moritz Holfelder. Ebenfalls beim Bayerischen Rundfunk: Ein großes Feature von Markus Metz und Georg Seeßlen über Leben und Schaffen von Walt Disney, der am vergangenen Donnerstag vor 50 Jahren gestorben ist.

Besprochen wird die zweite Staffel der Amazon-Serie "The Man in the High Castle" nach dem gleichnamigen Roman von Philip K. Dick (Welt).
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Literatur

Die NZZ bringt einen Schwerpunkt zum Thema Hass. Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff betreibt darin Selbsterforschung: Sie war ein außerordentlich braves Kind, hatte aber in der turbulenten Pubertät aufwallende Gewaltfantasien, was Hetzjagd auf Nazis betritt. Statt in die RAF trat sie aber in die Welt der Literatur ein, sodass es bei einem einzigen Gewaltexzess in ihrem Leben biieb, nachdem der junge Christoph Schlingensief eines ihrer Drehbücher durch die Mangel genommen hatte: "Das Ergebnis? Ein Film mit Selbstkreuzigung, etlichen car crashes und einer Mordsblutsudelei. Ein Schwachsinn ohnegleichen. Mit unserem Drehbuch hatte das nichts zu tun. Darin floss kein Tropfen Blut, und die Figuren waren völlig anders. Bei der Vorführung des Films packte mich ein solcher Zorn, dass ich dem Mann eine runterhaute. Hart, mit schlagkräftigem Ring am Finger. Das habe ich nie bereut. Unsere erhoffte Filmkarriere war damit zu Ende. Schlingensief trieb fortan sein blödes Theatertrallala, starb später an Krebs, was uns nicht traurig stimmte. Verzeihen mag süß sein. Hass und Rachsucht sind bisweilen jedoch bekömmlich."

Weitere Artikel: Ute Frevert schreibt - ebenfalls in der NZZ - über Hass als politischer Kampfbegriff. Schriftstellerin Angelika Overath reist für die FAZ in die Schweizer Region Engadin, wo man das sehr alte und sehr seltene Romanisch pflegt. Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš (FAZ) wird in einer tschechischen Kneipe bei Erinnerungen an die Aufbruchsstimmung in den 90ern unter Václav Havel ganz sentimental.

Besprochen werden Joe Ides HipHop-Krimi "IQ" (Tagesspiegel), Mirko Zilahys "Schattenkiller" (FR), László Darvasis "Wintermorgen" (taz), Cynthia D'Aprix Sweeneys "Das Nest" (taz), Malla Nunns "Zeit der Finsternis" (Welt), Emma Braslavskys Roman "Leben ist keine Art, mit einem Tier umzugehen" (TagesAnzeiger) und Catherine Meurisse' Comic "Leichtigkeit", in dem die Charlie-Hebdo-Zeichnerin ihr Trauma verarbeitet, die Anschläge vom 7. Januar durch simples morgendliches Verschlafen überlebt zu haben (SZ, Welt, hier dazu ein Interview).

Mehr aus dem literarischen Leben auf: 




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Musik

Die Zeit hat Wolfram Goertz' großes Interview mit dem Bach-Biografen John Eliot Gardiner online nachgereicht. Tazler Jens Uthoff porträtiert den Berliner Produzenten Tim Tautorat. Für die Zeit hat sich Tobias Lehmkuhl mit dem Jazzschlagzeuger Paal Nilssen-Love unterhalten.

Besprochen werden neue Musik aus New Orleans von unter anderem Allen Toussaint und Betty Harris (taz), ein Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters unter Ingo Metzmacher (Tagesspiegel), ein Konzert von ABC (Tagesspiegel) und ein Konzert der Sängerin ZAZ (FR).
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