Efeu - Die Kulturrundschau

Mit uns hat das zum Glück nichts zu tun

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08.06.2015. Ein Abend in der Kloake, deftiges Irrenhausklischee, Elendsporno - Michael Thalheimers Inszenierung von Maxim Gorkis "Nachtasyl" an der Schaubühne ließ die Kritiker kalt. Nur die FAZ fand den Abend unangenehm aktuell. Die NZZ sucht Louise Bourgeois in einem hellblauen Gummitropfen. In der taz plädiert die indonesische Schriftstellerin Ayu Utami für unverheirateten Sex. Der Tagesspiegel steht überwältigt im Rohbau des Berliner Stadtschlosses.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.06.2015 finden Sie hier

Bühne


Gorkis "Nachtasyl" in der Inszenierung von Michael Thalheim. Schaubühne Berlin. Foto: Katrin Ribbe

Elend in der Gesellschaft, Scheiße auf der Bühne, von Wummertönen daueruntermalt: An der Berliner Schaubühne hat Michael Thalheimer zur weitgehenden Erschöpfung der im Saal versammelten Kritik Maxim Gorkis "Nachtasyl" als 90-Minüter inszeniert. Den ohnehin schon drastischen Stoff hat der Regisseur noch ordentlich zugespitzt, erklärt Katharina Granzin in der taz. Das solle zeigen, "wie das Elend den Menschen auf rohe Triebhaftigkeit reduziert. Dafür aber hätte Gorki Thalheimers nicht bedurft ... Eines ist dieser Abend in der Kloake immerhin nicht: langweilig." Dass man den Abend mit dem Gedanken verlässt, dass es sich bei den Menschen am unteren Ende der sozialen Skala um "hoffnungslosen Abschaum" handelt, findet die taz-Kritikerin dennoch ziemlich mulmig.

Auch Leopold Lippert (nachtkritik.de) fühlt sich strapaziert und meldet Zweifel an: Zum großen Teil wirke die Inszenierung "wie ein deftiges Irrenhausklischee aus einer Zeit, in der man noch Irrenhaus sagen durfte. Da wird hysterisch gekichert, unzusammenhängend monologisiert, ordentlich Rotz hochgezogen, rumgespuckt, uriniert, masturbiert, und dauernd unmotiviert drauflosgebrüllt." Und Thalheimers Sozial-Zuspitzung gipfele im Grunde doch nur in eine "gute Nachricht (...): Mit uns hat das zum Glück nichts zu tun."

Das kann Irene Bazinger in der FAZ so nicht stehenlassen: "Indem [Thalheimer] Gorkis Drama (...) von allem historischen Beiwerk befreit und auf die elementaren Parameter reduziert, entfaltet es eine schockierend direkte Brisanz. Als Studie über das barbarische Potential sozialer Ausgrenzungsmechanismen wird es auf einmal unangenehm aktuell." Mounia Meiborg (SZ) hat unterdessen einen "Elendsporno" gesehen, der sie kalt ließ. Lob gibt es für Olaf Altmanns Bühnenbild: "Ein Hammer". Und Christine Wahl vom Tagesspiegel verlor "sich zusehends in der Unschärfe zwischen plakativ hergezeigter Verrohung und diffus gesellschaftsanklägerischem Pathos". Für den Tagesspiegel hat sich Patrick Wildermann mit dem Regisseur unterhalten.

Abseits der Schaubühne: Der neue Intendant der Bad Hersfelder Festspiele, Dieter Wedel, stellt sich mit einer Inszenierung von Shakespeares "Komödien der Irrungen" vor. Deren Besetzung riecht mit Cosma Shiva Hagen, Heinz Hoenig, Matthieu Carrière und Sonja Kirchberger eher nach Fernsehprominenz, auch herrsche ein ausgelassener Tonfall vor, erfahren wir aus den Kritiken. "Überraschend kurzweilig" fällt somit der erste Teil, der Abend insgesamt allerdings als "neckisch zerdehnte Spielerei" aus, schreibt Alexander Kohlmannauf nachtkritik.de. "Skurril" und "quietschfidel", fand es Judith von Sternburg in der FR. In der SZ macht Till Briegleb nach dieser "Zirkusveranstaltung mit Zeitkritik" ein eher langes Gesicht.

Außerdem: Im Tagesspiegel berichtet Sandra Luzina vom Auftakt des Festivals "Power of Powerlessness" am Berliner HAU. Hans-Christian Rößler FAZ) berichtet vom israelischen Opernfestival. 150 Jahre "Tristan und Isolde": Mit dem Musikdrama habe Richard Wagner "der Liebe ein kolossales Denkmal gesetzt", schreibt Kerstin Holm in der FAZ.

Besprochen werden Christoph Heins am Berliner Ensemble aufgeführte Bühnenbearbeitung von Siegfried Lenz" "Die Deutschstunde" in der Inszenierung von Philip Tiedemann (Tagesspiegel), Stefan Bachmanns Inszenierung von "Lehmann Brothers" am Staatsschauspiel Dresden (taz, nachtkritik, NZZ), Ivo van Hoves bei den Wiener Festwochen aufgeführte Inszenierung der "Kings of War" (Standard, FAZ) sowie neue Händel-Inszenierungen in Göttingen und Halle ("Der vorrevolutionäre Emanzipationsvorsprung macht die Stücke heute besonders interessant", schreibt Jan Brachmann dazu in der FAZ).
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Kunst


Louise Bourgeois: Spider, 1997, Haus der Kunst

Die Ausstellung von Louise Bourgeois" "Zellen" im Münchner Haus der Kunst bietet mehr als den Einblick in einen zentralen Werkkomplex der Künstlerin, meint Hanne Weskott in der NZZ: "Auch Louise Bourgeois selbst ist gegenwärtig. Nach den Worten der Künstlerin verkörperte ihre Person in diesem Fall ein hellblauer Gummitropfen, der mit den Garnspulen an den Zellwänden wie durch lange, dürre Spinnenarme verbunden ist. Alle Einzelheiten der Ausstattung gehören zu ihrem radikalen persönlichen Symbolismus und stehen für etwas Wesentliches in ihrem Leben. Garnspulen zählten von Kindheit an dazu, weil ihre Mutter einen Restaurationsbetrieb für wertvolle Wandteppiche führte. Zudem war das Gebäude ihres früheren Ateliers vormals eine Näherei, und sie fand dort Unmengen an Stoffen, Nadeln und Garnen. So mittendrin in den Gegenständen ihrer Kindheit, fühlte sie sich manchmal wie die Spinne im Netz - und genau so hat sie sich hier dargestellt."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel porträtiert Nicola Kuhn die Künstlerin Nezaket Ekici, deren in Dresden gezeigtes Teppichportal rassistisch beschmiert wurde und die nun in Berlin ausgestellt wird. Für die FAS spricht Johanna Adorján mit der betagten Künstlerin Françoise Gilot. Schlicht und ohne großen Rummel wurde in einer Pekinger Galerie eine Ai-Weiwei-Ausstellung eröffnet: "Eine Sensation", meint dazu Kai Strittmatter in der SZ. Für die SZ spricht Christoph Haas mit dem Comiczeichner Don Rosa.

Besprochen werden die Ausstellung "Die Ordnung der Dinge" in der Walther Collection in Neu-Ulm (Freitag), eine Ausstellung mit Skulpturen von Markus Lüpertz im Arnulf-Rainer-Museum in Baden (Standard), die Ausstellung "Drawing Now 2015" in der Wiener Albertina (Standard), eine Frank-Auerbach-Ausstellung im Kunstmuseum Bonn (taz), Sebastião Salgados "Genesis"-Ausstellung im C/O Berlin (FAZ), die Ausstellung "Radikal Modern" mit Architektur-Ideen der Sechziger in der Berlinischen Galerie in Berlin (Welt), eine Thomas-Herbst-Ausstellung im Jenisch Haus in Hamburg (Zeit), eine Ausstellung über "Dieter Roth und die Musik" im Hamburger Bahnhof in Berlin (FAZ) und die Ausstellung "Newton, Horvat, Brodziak" im Museum für Fotografie in Berlin (FAZ).
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Musik

In der NZZ beschreibt Marcus Stäbler den wohltuenden Einfluss, den die Elbphilharmonie auf das Hamburger Musikleben habe. In der Presse erinnert Wilhelm Sinkovicz an die Uraufführung von "Tristan und Isolde" vor 150 Jahren.

Besprochen werden ein Konzert von Faith No More (taz, Berliner Zeitung, Tagesspiegel), Daniel Barenboims Gastspiel bei den Berliner Philharmonikern (Tagesspiegel) und ein Auftritt von Edita Gruberova (Tagesspiegel).
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Film

Jan Freitag (ZeitOnline), Daniel Kothenschulte (FR) und Christian Schröder (Tagesspiegel) schreiben zum Tod von Pierre Brice.

Besprochen werden Nancy Kates" Dokumentarfilm "Regarding Susan Sontag" (Skug), die neue Netflix-Serie "Sense8" der Wachowski-Geschwister (FAZ) sowie Jill Bauers und Ronna Gradus" auf Netflix veröffentlicher Dokumentarfilm "Hot Girls Wanted" über die amerikanische Amateurporno-Industrie (SZ).
Archiv: Film

Literatur

Im taz-Gespräch mit Katharina Borchardt erklärt die indonesische Schriftstellerin Ayu Utami unter anderem, warum auch ihr Privatleben in ihrer islamisch geprägten Heimat politisch ist: "Weil ich anders lebe, als es die Gesellschaft erwartet. Eine indonesische Frau sollte heiraten und Kinder bekommen. Geheiratet habe ich 2011 dann zwar doch, aber vor allem um mich mit der katholischen Kirche in Indonesien solidarisch zu zeigen. Die Besitzverteilung mit meinem Mann, mit dem ich vorher schon lange zusammengelebt habe, ist vertraglich geregelt. Kinder haben wir nicht, was auch unüblich ist. Ich finde, eine Frau muss weder Jungfrau bleiben noch verheiratet sein."

Weitere Artikel: Online lesen kann man jetzt Norbert Niemanns Rundumschlag gegen die Kommerzialisierung des Literaturbetriebs anlässlich der Verleihung des Carl-Amery-Preises. In der Welt feiert Thomas Kielinger eine erstmals verlegte Erzählung, die Queen Victoria mit zehn Jahren schrieb, als literarische Sensation: "Hier legt eine "10¾-Jährige", wie der Leineneinband im Din-A4-Format in goldenen Lettern verrät, den Nachweis früher Reife vor." Judith von Sternburg (FR) schreibt zum Tod des tschechischen Autors Ludvík Vaculík.

Besprochen werden Éric Vuillards "Kongo" (Jungle World), Sara Grans "Dope" (CulturMag), Ayelet Gundar-Goshens "Löwen wecken" (CulturMag), Alan Carters "Prime Cut" (CulturMag), Andreas Maiers "Der Ort" (Tagesspiegel), ein Band mit Essays von Zadie Smith (Zeit) und die neue Dauerausstellung "Die Seele" im Literaturmuseum der Moderne in Marbach (SZ).

Die FAZ hat die Franfurter Anthologie nachgereicht: Gisela Trahms schreibt über Giuseppe Ungarettis Gedicht "In Memoriam".

"Er hieß
Mohammed Sheab
..."
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Architektur

Kurz vor Richtfest gibt es in den kargen Räumen des Berliner Stadtschlosses bislang vor allem Pfützen zu sehen. Mit umso mehr Pathos beschwört Rüdiger Schaper nach dem Besuch der Baustelle im Tagesspiegel den Humboldt"schen Geist, der den Ort eines Tages beseelen soll: "Das wird großartig! Die Dimension des Raums schon in der hohen Eingangshalle unter der Kuppel - gewaltig. So etwas gibt es bisher nicht in Berlin; vielleicht im Ansatz in der großen Halle der Gemäldegalerie. ... Hier wird ein ästhetisches Erleben von Artefakten möglich sein, die für ihre Kultur und das Weltganze stehen."

In der FAZ schreibt Niklas Maak zum Tod der Architektin Françoise-Hélène Jourda.
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Design

Typografie-Legende Hermann Zapf ist tot. Im Deutschlandfunk (und ausführlicher in der SZ) schreibt Ulf Erdmann Ziegler einen Nachruf. Nerdcore bringt dazu eine Kurz-Doku:

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