Bücher der Saison

Sachbücher

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
12.04.2021. Bénédicte Savoy über Afrikas Kampf um seine Kunst, Gerd Schwerhoff über die Geschichte der Blasphemie, Adam Kucharski über das Gesetz der Ansteckung, und Francesca Buoninconti folgt den Wanderungen von Gnu, Blauwal und Libelle.
Geschichte

Cover: Afrikas Kampf um seine KunstEuropas Museen haben sich bis heute nicht von dem Schlag erholt, den ihnen die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und ihr senegalesischer Kollege Felwine Sarr mit ihrem Aktionsplan zur Dekolonialisierung versetzt haben. Jetzt legt Savoy noch einmal nach. In ihrer faktenreichen Studie "Afrikas Kampf um seine Kunst" (bestellen) rekonstruiert sie - sachlich und unpolemisch, wie alle Rezensenten versichern - die vergeblichen Bemühungen afrikanischer Staaten wie Nigeria und Kongo, geraubte Kunst zurückzuerhalten. In der SZ erkennt Till Briegleb, dass der Kampf um Rückgabe nicht erst seit wenigen Jahren von einigen Aktivisten geführt wird, sondern seit Jahrzehnten. In der FAZ weiß Andreas Kilb nicht, worüber er mehr bestürzt sein soll: Die Erfolglosigkeit eines legitimen Ansinnens oder die Arroganz, mit der es auch von deutschen Museumsdirektoren verächtlich gemacht wurde. Sie verschleppten die Verhandlungen, machten den afrikanischen Kunstverstand verächtlich oder verweigerten Inventarlisten, um keine Begehrlichkeiten zu wecken. Positiv besprochen wurde das Buch auch in Standard, Berliner Zeitung oder dem SWR. Und apropos: Empfehlen kann der DlfKultur auch Andreas Eckerts komprimierte "Geschichte der Sklaverei" (bestellen), die nicht unbedingt anschaulich, aber informativ Politik, Ökonomie und Ideologie des Menschenhandels darstellt.

Cover: anders fühlenAls Pionierarbeit würdigen die Rezensenten Benno Gammerls Geschichte des schwulen und lesbischen Lebens in der Bundesrepublik, "Anders fühlen" (bestellen). Gammerl macht in seinem Buch, für das er 32 Schwule und Lesben interviewte und etliche Zeitschriften auswertete, drei große Phasen aus: Die erste bis 1969 war geprägt von der Gefahr bürgerlicher Existenzvernichtung, die zweite von Politisierung und Provokation, die dritte ab 1982 von Aids. Dass Gammerl sein Buch ausdrücklich als Emotionsgeschichte angelegt hat, erklärt Gustav Seibt in der SZ mit Gammerls Forschungen im Umkreis der Gefühlshistorikerin Ute Frevert. Für Seibt "ein großer Wurf". In der Welt weiß Tilman Krause vor allem die Vielfalt zu schätzen, mit der Gammerl schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik zeigt und berührt zitiert er den 1944 geborenen Herrn Meyer, der auch nach etlichen Nackenschläge noch findet: "Mein Lebensglück ist, dass ich schwul bin."

Cover: Aufbruch in die ModerneCover: Wer waren die Nationalsozialisten?Mit ihrem Buch "Demokratie. Eine deutsche Affäre" (bestellen) hat die Historikerin Hedwig Richter im letzten Jahr ihre KollegInnen vor den Kopf gestoßen: Kann man dem wilhelminischen Kaiserreich wirklich so viel Positives abgewinnen? In ihrem neuen Band "Aufbruch in die Moderne" (bestellen) spinnt Richter den Faden weiter und untersucht, wie Reformen und Emanzipation die moderne Demokratie in Deutschland voranbrachten. In der SZ lobt Georg Simmerl das Buch einigen Einseitigkeit zum Trotz als durchaus instruktiv. Durchweg positiv aufgenommen wurde auch Ulrich Herberts Aufsatzsammlung "Wer waren die Nationalsozialisten?" (bestellen), die zentrale Fragen des Nationalsozialismus analysiert, etwa die Unterstützung des Regimes in akademischen Kreisen, Judenhass und Gewalterfahrungen, aber auch die Integration von NS-Größen in der Bundesrepublik. Herberts Erkenntnisse sind nicht unbedingt neu, aber fundiert, da sind sich die Kritiker von FAZ, FR und SZ einig.

Cover: Ein anderer KriegHoch gelobt wurde auch Dan Diners Buch "Ein anderer Krieg" (Bestellen), das die Kritiker vor allem durch seinen Perspektivwechsel beeindruckt, wie sie einhellig bekunden. Diner blickt auf den Zweiten Weltkrieg nicht von Europa aus, sondern vom damaligen Palästina, so dass nicht nur der Kriegsverlauf, sondern auch die Entstehung Israels eine andere Fokussierung erhält. Es geht viel um Geostrategie, räumen FR, SZ und DlfKultur ein, sehen aber auch wie Welt und Zeit darin einen Aufruf zu Multiperspektivismus in der Geschichte.

Cover: Al-Aqsa oder TempelbergCover: Indigene Völker in Kanada Auch über dreitausend Jahre nach seiner Gründung bleibt Jerusalem religiös und politisch umkämpft. In "Al-Aqsa oder Tempelberg" (bestellen) erzählt Joseph Croitoru die Geschichte der Stadt und ihrer großen Mythen. In der FR lobt Micha Brumlik die seiner Ansicht nach ungewöhnlich objektive Darstellung. Im DlfKultur warnt Anne Françoise Weber allerdings: Croitoru macht wenig Hoffnung auf eine baldige Lösung des Konflikts, er hilft nur zu verstehen. Nur einmal, aber begeistert besprochen wurde Gerd Braunes Buch "Indigene Völker in Kanada" (bestellen). Im Dlf versichert Katja Ridderbusch, dass der seit über zwanzig Jahren in Kanada lebende Journalist "unaufgeregt und feinfühlig" über die Lebenssituation indianischer Nationen schreibt, über ihre Geschichte und das Unrecht, das ihnen selbt im liberalen Kanada immer wieder angetan wurde.


Pandemisches

CoverCover: Der Stoff, aus dem wir sindMit großem Interesse haben die KritikerInnen "Das Gesetz der Ansteckung" (bestellen) gelesen, in dem der Mediziner und Mathematiker Adam Kucharskis die Allgemeingültigkeit epidemiologischer Mechanismen untersucht - und zwar leicht verständlich, aber fundiert. Fasziniert lernten die Kritiker, dass sich nicht nur Viruserkrankungen nach mathematischen Modellen ausbreiten, sondern auch politische Meinungen, Fake News und Finanzkrisen. Ungemein "einleuchtend und schlüssig", lobt im Dlf Kultur Vera Linß, die gelernt hat, wie wir unser aller Leben verbessern könnten, würden wir epidemiologische Zusammenhänge besser verstehen. In der FAZ hält Sibylle Anderl fest, dass Kucharski sein Buch noch vor dem Ausbruch der Pandemie verfasst hat. Das mache es umso spannender, so Anderl, Corona beim Lesen selbst vergleichend heranzuziehen. In der taz empfahl Annette Jensen dagegen nachdrücklich Fabian Scheidlers Buch "Der Stoff, aus dem wir sind" (bestellen), demzufolge Mensch und Natur gerade keine quantifizierbaren Einheiten seien. Gerade eine technokratische Weltsicht führe mit ihren Eingriffen in komplexe Kreisläufe zu Klimakatastrophen, Massenaussterben und Pandemien.

CoverCover: Die Macht der SeucheAuf Mark Honigsbaum vielgelobte Medizingeschichte "Das Jahrhundert der Pandemien" (bestellen) haben wir schon in unserem Bücherbrief hingewiesen. Darin rekonstruiert der britische Medizinhistoriker die Geschichte von Pest, Spanische Grippe und Aids. Allerdings stehen bei Honigsbaum die angelsächsischen Länder im Mittelpunkt, Europa und Afrika kommen nur am Rand vor. Der Renaissance-Historiker Volker Reinhardt konzentriert sich dagegen in "Die Macht der Seuche" (bestellen) ganz auf die Pest in Italien 1348 und ihre Folgen für das Leben, die Politik, die Kunst. Auch auf diese Studie haben wir bereits hingewiesen.


Flora und Fauna

Cover: Die Pflanzen und ihre RechteCover: MetamorphosenDie Pandemie führt auch zu einem neuen Nachdenken über das Verhältnis des Menschen zu Umwelt und Natur. Am weitesten geht vielleicht der italienische Starbotaniker Stefano Mancuso, der in seiner Charta für die "Die Pflanzen und ihre Rechte" (bestellen) streitet. Im DlfKultur bekennt Michael Lange einen ganz neuen Blick auf die Pflanzenwelt gewonnen zu haben, wenn Mancuso das hierarchiefreie Miteinander in vernetzten Systemen als Grundprinzip der pflanzlichen Lebensweise darstellt. In der FAZ würde Christian Schwägerl zwar nicht jede These Mancusos unterschreiben, aber die Charta hält er nichtsdestotrotz für lesens- und bedenkenswert. In der Zeit fragt die Philosophin Eva Weber-Guskar allerdings spitz, ob sie jetzt Frutarierin werden muss. In Frankreich ist auch der Philosoph Emanuele Coccia sehr angesagt, der ebenfalls für ein neues Sinnenleben und eine Philosophie der Pflanzen wirbt. Im Dlf konnte zumindest Leander Scholz Coccias neuem Buch "Metamorphosen" (bestellen) viel abgewinnen, das ihm ein Denken der stetigen Verwandlung eröffnete: Die Welt ist für Coccia vor allem Atmosphäre, erklärt Scholz, der eine atme ein, was der andere ausatme.

Cover: GrenzenlosAls schönes Beispiel kenntnisreicher und feinsinniger Tierbeobachtung erscheint Francesca Buonincontis Buch "Grenzenlos" (bestellen). Die italienische Wissenschaftsjournalistin verfolgt darin die Wanderbewegungen verschiedener Tiere rund um den Globus: Gnu, Karettschildkröte, Blauwal oder Libelle. In der FAZ versichert Thomas Krumenacker, dass Buoninconti mit derselben Leichtigkeit über die physiologischen Grundlagen der Tierwanderungen schreibt wie über blühende Landschaften oder den Heißhunger von Singvögeln vor dem großen Zug. Christine Korsgaards Schrift "Tiere wie wir" (bestellen) kann die FAZ empfehlen, die mit Kant und Mill den moralphilosophischen Unterschied zwischen Mensch und Schwein erkundet.

Cover: Die Geschichte des LebensCover: Wie wir die Welt verändernZudem loben FAZ und DlfKultur Neil Shubins "Geschichte des Lebens" (bestellen) als exzellentes Überblickswerk, in dem der amerikanische Paläontologe den Verlauf der Evolution sowie ihrer Erforschung nachzeichnet. Die FR jagte auch sehr gern in Siebenmeilenstiefeln mit Stefan Klein durch die Geschichte des menschlichen Geistes "Wie wir die Welt verändern" (bestellen). Unter anderem entnahm sie dem Buch die Erkenntnis, dass Fortschritt nicht allein dem Denken entspringt, sondern auch dem Fühlen einer auf Überleben getrimmten Spezies.


Denkerinnen

Cover: PhilosophinnenCover: Giganten der GelehrsamkeitHannah Arendt und Simone de Beauvoir dürften den meisten einfallen, wenn es um die großen Philosophinnen geht, aber was ist mit Hypatia, Ban Zhao und Harriet Taylor Mill? Oder Lalla, Angela Davis und Sophie Bosede Oluwole? Der von Rebecca Buxton und Lisa Whiting herausgegebene Band "Philosophinnen" (bestellen) stellt zwanzig Denkerinnen vor, anhand derer sich die Geistesgeschichte ebenso gut erzählen lasse wie mit ihren männlichen Pendants. Im Standard zeigt sich Aloysius Widmann besonders beeindruckt von Diotima von Mantineia, auf deren Vorstellungen von der Liebe sich Sokrates in Platons Dialog "Symposion" beruft. In der SZ vermisst Dirk Lüddecke zwar Christine de Pizan, ist ansonsten aber voll des Lobes für diese schwungvolle Porträtsammlung. Hingewiesen sei auch noch auf Peter Burkes Geschichte der Universalgenies "Giganten der Gelehrsamkeit" (bestellen), das von Leonardo da Vinci bis Susan Sontag dem Wesen großer Geister nachspürt und es nicht im Wissen findet, sondern in Neugier, Fantasie und Gedächtnis.

Cover: Schwerkraft und GnadeEin wenig in Vergessenheit geraten ist die französische Philosophin Simone Weil, die als Gewerkschafterin in die Fabrik ging, um das Los der ArbeiterInnen zu teilen, bei den Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte und sich schließlich der Mystik zuwandte. In einer mitreißenden Besprechung empfiehlt Thomas Palzer im Dlf Weils Band "Schwerkraft und Gnade" (bestellen) als Antidot gegen "unerträgliche protestantische Lauheit", warnt aber, dass Weils spirituelles Denken nicht unbedingt an die philosophische Moderne anschließt: Weil zufolge werden Leid und Demütigung wie physikalische Kräfte übertragen und erst durch einen Akt der Gnade aufgehoben. Auch in der SZ zeigt sich Thomas Steinfeld inspiriert von Weils widersprüchlichem, aber durch und durch originellem Denken. Auch Christina Pareigis' Biografie der Philosophin "Susan Taubes" (bestellen) können die KritikerInnen empfehlen; sie sehen darin eine willkommene Einladung, sich mit dem Denken dieser Intellektuellen unabhängig von ihrem Mann Jacob Taubes zu befassen. FAZ und FR empfehlen außerdem Dieter Henrichs autobiografischen Gesprächsband "Ins Denken ziehen" (bestellen) wegen seiner anekdotenreichen Erinnerungen an Zeitgenossen und "Brennpunkte" der Geistesgeschichte.


Religion

Cover: Verfluchte GötterGeht das, "gelassen und fair" eine Geschichte der Blasphemie schreiben? Wenn wir den Kritikern vertrauen dürfen, gelingt dem Dresdner Historiker Gerd Schwerhoff in "Verfluchte Götter" (bestellen) dieser Parcour offenbar bravourös. In der FAZ weiß Thomas Macho zu schätzen, wie kenntnisreich Schwerhoff erzählt, vom Beginn der Blasphemie im Römischen Reich, wo Religion immer auch Herrscherkult war, über die Kriminalisierung der Gotteslästerung durch Justinian und den Kampf der Aufklärung dagegen bis hin zum Streit um die Mohammed-Karikaturen. Dass heute nicht Gotteslästerung, sondern die Verletzung religiöser Gefühle geahndet wird, macht es nicht leichter, erkennt Johann Hinrich Claussen in der SZ, wenn sich verletzte Gefühle mit reeller Marginalisierung und politischer Manipulation verbinden. In der taz bedauert Steffen Greiner ein wenig, dass Schwerhoff nur gelegentlich über Europa hinausblickt, denn die angeschnittene Perspektive des Autors auf Pakistan und Nigeria findet Greiner durchaus erhellend. Und wenn wir schon beim Thema sind: Positiv, aber nur einmal besprochen wurde bisher Katajun Amirpurs Biografie des iranischen Revolutionsführers "Khomeini" (bestellen), der berüchtigterweise zum Mord an Salman Rushdie und seinen Übersetzern aufgerufen hatte, als Rache für die ach so blasphemischen "Satanischen Verse".


Sprache und Welt

Cover: HalbwahrheitenCover: Einspruch!Cover: Falsche ProphetenDie Germanistin Nicola Gess untersucht in ihrer Studie "Halbwahrheiten" (bestellen) mit literaturwissenschaftlichen Mitteln die Manipulation der Wirklichkeit: Fake News, Verschwörungstheorien oder Progpaganda schlagen deshalb ein, glaubt Gess, weil sie mit dem emotionalen Einverständnis ihrer Zuhörer rechnen können, die sich nicht mehr die Frage stellten, ob eine Geschichte wahr oder falsch sei, sondern nur noch ob glaubwürdig oder nicht. Der Wahrheitsgehalt ließe sich wie bei einer typischen Anekdote eh nicht überprüfen. In der SZ nannte Gustav Seibt diese Studie bahnbrechend, weil sie mit der alten Philologen-Formel "Begreifen, was uns ergreift" auch zur permanenten Selbstkontrolle aufruft. Auch in der taz fand Henrikje Schauer überzeugend, wie Gess die Logik der Fiktion analysiert. Als hilfreicher Diskussionsratgeber wurde auch Ingrid Brodnigs "Einspruch!" (bestellen) empfohlen, dem Gustav Seibt in der SZ die einschlägige Faustformel entnimmt: Wenn eine Geschichte ins Blut geht wie Traubenzucker, sollte man ihr misstrauen. Außerdem hat Suhrkamp Leo Löwenthals Studie zur faschistischen Agiation "Falsche Propheten" (bestellen) neu aufgelegt, die der Literatursoziologe in den vierziger Jahren im Auftrag der amerikanischen Regierung erstellte. Ein Klassiker für die Analyse demagogischer Rhetorik.

Cover: Die seltsamsten Sprachen der WeltCover: Unerhörte Auswahl vergessener WortschönheitenBerückend finden die KritikerInnen, was Harald Haarmann in seinem Band "Die seltsamsten Sprachen der Welt" (bestellen) an Wortschätzen, Merkwürdigkeiten und Eigenheiten zusammenträgt: In der SZ zeigt sich Lothar Müller begeistert vom ausgefeilten Winter-Vokabular der Inuit, das sich allerdings auf die Eisverhältnisse bezieht, aber noch mehr beeindruckten ihn die Samen mit ihren fein differenzierten Wörtern für Schnee: "Seeli" etwa sei "Schnee, der vollkommen weich ist" oder "ceeyvi" schließlich sei "vom Wind hartgepeitschter Schnee, der so hart ist, dass Rentiere die Decke nicht mit ihren Hufen durchbrechen können, um Futter zu finden". In der FAZ kann sich Wolfgang Krischke auch für die sibirische Sprache Jukagirisch erwärmen, deren Sprecher grammatisch unterscheiden zwischen dem, was sie selbst erlebt haben und dem, was sie nur vom Hörensagen wissen. Im Dlf genießt Sieglinde Geisel durchaus dieses "luxuriöses Kuriositätenkabinett", hätte sich aber ein bisschen Theorie dazu gewünscht. Ebenfalls im Orchideenfach liebevoll gehegt: Rita Mielkes "Atlas der verlorenen Sprachen" und Johann Jacob Sprengs "Unerhörte Auswahl vergessener Wortschönheiten" (bestellen), die dem DlfKultur "Flubbern", "Bobern" oder "Vuschmunt" in Erinnerung rief.


Film

Cover: Immer auf dem Teppich bleibenCover: Jean-Luc GodardWenn Dieter Kosslick aus seinem Leben als Berlinale-Chef plaudert, dann erkennen ihn die FilmkritikerInnen sofort wieder: Gutgelaunt und spaßig gibt er in "Immer auf dem Teppich bleiben" (bestellen) Anekdoten über Meryl Streep, die Rolling Stones oder Fidel Castro zum Besten, träumt vom ökologischen Filmemachen oder kulinarischem Kino. Die FAZ bemerkt allerdings auch, dass Kosslick einen Bogen um Ästhetik und Politik macht, die SZ erhebt Einspruch, wenn Kosslick gegen die "bösartige" Filmkritik schießt. Hingewiesen sei auch auf Bert Rebhandls respektable Biografie des den französischen Regisseurs, Filmrevolutionärs und Gegenaufklärers "Jean-Luc Godard" (bestellen), die von Standard und Tagesspiegel bis zur Jungle World recht breit besprochen wurde, sowie auf Tine Rahel Völckers Hommage "Chantal Akermans Verschwinden" (bestellen).


Musik

Cover: HushCover: Im Gegenlicht: Heinz SauerBis auf Weiteres gibt es Clubleben nur in Schrumpfformaten, etwa in einem Bildband: Die Fotografin Marie Staggat und der Reporter Timo Stein besuchten für "Hush" die ikonischen Orte Berlins, von Tresor und Kitkat bis zum Klunkerkranich, porträtieren die Pioniere des Partylebens, Türsteher und Managerinnen. Die taz staunt über die verschiedenen Konzepte der Nacht, die sich in den hier abgebildeten Architekturen offenbaren. Die Welt wurde über den Bildern, die sie mitunter gar an Edward Hopper erinnern, ganz melancholisch. Artifiziell, aber kenntnisreich und uneitel findet Hans-Jürgen Linke in der FR auch Rainer Wieczoreks literarisches Porträt des von ihm sehr verehrten Jazzmusikers Heinz Sauer "Im Gegenlicht" (bestellen). In der FAZ kann Jan Wiele allen Nick-Cave-Fans außerdem den Ausstellungsprachtband "Stranger Than Kindness" (bestellen) empfehlen, in dem der australische Musik sein Talent als Zeichner wie auch seinen Hang zum Sakralen zeige.


Im Maschinenraum

Cover: Künstliche Intelligenz und EmpathieCover: InfluencerNein, künstliche Intelligenzen werden so bald keine Gefühle entwickeln, Liebesabenteuer stehen nicht ins Haus. Im Gegenteil: Sie werden nämlich unsere Gefühle besser deuten können als wir selbst. Die Göttinger Philosophin Catrin Misselhorn untersucht in ihrem Buch "Künstliche Intelligenz und Empathie" (bestellen), wie Maschinen auf eine gesichtsbasierte Emotionserkennung getrimmt werden. In der SZ nannte ein beunruhigter Andrian Kreye das Buch sehr wichtig, im DlfKultur spricht die Autorin über unbewusste Mikromimik und andere "Lecks unserer Psyche". Unbehaglich wurde den KritikerInnen auch bei der Lektüre von Ole Nymoens und Wolfgang Schmitts Buch über "Influencer" (bestellen). Zum einen, weil sie sich nicht vorgestellt haben, wie groß die Reichweite und das Geschäft mancher Werbefiguren tatsächlich ist, wie etwa die taz bemerkt. Zum anderen aber auch, weil ihnen der abfällige Ton und der entlarvende Gestus der Autoren zu weit geht, wie etwa die SZ findet. Die Zeit hätte gern gewusst, warum die kapitalistische Verblendung so gut funktioniert, wenn sie so einfach zu durchschauen ist.

Cover: Sie nannten es ArbeitCover: Working ClassDer Anthropologe James Suzman untersucht in seinem Buch "Sie nannten es Arbeit" (bestellen), wie sich das Wesen der Arbeit von Anbeginn der Menschheit gewandelt hat, und siehe da: Von stetiger Optimierung kann irgendwie keine Rede sei, denn Jäger und Sammler mussten nur fünfzehn Stunden in der Woche für die Nahrungssuche aufbringen. Im Dlf bekennt Nikolaus Nützel, dass Suzman seinen Blick auf die Welt verändert hat mit seiner Dekonstruktion gängiger Konzepte wie Güterknappheit, Wettbewerb und Selbstbestätigung. Über Julia Friedrichs Report "Working Class" (bestellen) wurde in den Medien viel diskutiert, besprochen wurde das Buch nur einmal in der taz. Dort fand Marlen Hobrack zwar nicht alle Beobachtungen zu Ungleichheit und Chancenlosigkeit neu, aber die Schlüsse der Autorin doch sehr treffend.


Kunst und Kulturgeschichte

Cover: Photographs: 1980s to nowEinen aufwändig gestalteten und üppig bestückten Band widmet der Steidl Verlag der südafrikanischen Fotografin Jo Ractcliffe, und auch die KritikerInnen hoffen, dass Ractcliffe mit "Photographs: 1980s to now" (bestellen) endlich auch hierzulande die Bekanntheit erlangt, die sie verdient. In der SZ warnt Catrin Lorch allerdings vor, dass die Bilder aus dem Bürgerkrieg von Angola, von Flüchtlingen in Namibia oder kontaminierten Landschaften in Südafrika bei aller Schönheit nicht ganz leicht zu verkraften sind. Im Perlentaucher feierte Peter Truschner den Band schon jetzt als Standardwerk und erklärt auch den Unterschied etwa zu den ikonisch gewordenen Bildern der ebenfalls südafrikanischen Fotografin und Aktivistin Zanele Muholi: Ractliffes Bilder verweigern jede Affirmation, ihnen müsse sich jeder allein stellen.

Cover: Warburgs SchneckeMit seinen Essays hat der Kunsthistoriker Martin Warnke in den siebziger Jahren die deutsche Kunstgeschichte revolutioniert, indem er an die Arbeiten von Erwin Panofsky und Aby Warburg anschloss, die Kunstwerke nicht nur als Illustrationen begriffen, sondern als Argumente in der gesellschaftlichen Analyse. In der SZ freut sich Jan van Bevern, dass der Band "Warburgs Schnecke" (bestellen) nun einige der wichtigsten Aufsätze Warnkes wieder zugänglich macht, denen er noch immer enorme kunstsoziologische Sprengkraft attestiert. In der Zeit liest auch Peter Geimer mit Begeisterung Warnkes Essays über höfische Gesten bei Goya, die Bildpolitik der Reformation oder die Couch im deutschen Wohnzimmer. Und natürlich den explosiven Vortrag "Wissenschaft als Knechtungsakt" vom Kunsthistorikertag 1970, mit dem Warnke der Zunft eine Metaphorik der Gewalt vorwarf, deren Bildbeschreibungen zu "Zuchtexerzitien" verkommen sei. Bereits im Bücherbrief haben wir auf Jochen Hörischs Kulturgeschichte "Hände" (bestellen) hingewiesen, die vielfach gelobt wurde, allerdings mit dem Hinweis versehen, dass Hörisch sich eigentlich auf eine literaturgeschichtliche Untersuchung beschränkt. Oft und recht gut besprochen wurde auch Henry Keazors Studie "Raffaels Schule von Athen" (bestellen), die der Rezeptionsgeschichte des Werks nachgeht. Julian Barnes' viel gelobte Kulturgeschichte über den "Mann im roten Rock" (bestellen), den Arzt und Freigeist Dr. Samuel Pozzi (1846-1918) hatten wir schon im Bücherbrief vorgestellt.