Bücher der Saison

Essays und Reportagen

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
12.04.2021. Franz Schuh über Lachen und Sterben, Jia Tolentino über das inszenierte Ich, Reisen an die Ufer des Amur, nach Tibet, an den Nil und an deutsche Raststätten.
Die Kritiker sind einfach hin und weg von Franz Schuhs Essays über das "Lachen und Sterben" (bestellen), die die Dialektik zwischen beiden erforschen. "'Die Zeit kommt nicht, sie vergeht.' Die Schwarzwaldklinik (1985)" ist den Texten als Zitat vorangestellt. Der Wiener Autor ist ein "titanisch gebildeter Denker", versichert Eva Menasse in der Zeit, der vergnüglich und stilistische brillant schreiben kann, aber sie vor allem durch seine "Lust zu denken" inspiriert. Schuh wolle die Welt "immerzu als Ganzes" denken. Die Hochkultur gehört dazu ebenso wie die Populärkultur. Ähnlich empfindet es auch Paul Jandl (NZZ), dem imponiert, wie Schuh - "vielleicht auch, um eigene Beschränktheiten nachvollziehbar zu machen" - immer die "Herkunft seiner Gedanken, den Zusammenhang zum eigenen Leben" miterklärt. Auf einer Forschungsreise wurde die Anthropologin Nastassja Martin in Kamtschatka von einem Bären gebissen und schwer verletzt. Die Geschichte ihrer Heilung, die sie in "An das Wilde glauben" (bestellen) erzählt, hat die Kritiker ganz schön erschüttert. Für Antje Ravik Strubel (FAZ) besticht sie durch kluges Nachsinnen über unsere Koexistenz mit der Natur und eine plastische Schilderung des Genesungsprozesses. Dass die Autorin den bei so einer Geschichte überall lauernden Fallen der Romantisierung sowie des dichotomischen Denkens (Natur vs. Kultur, indigene vs. neue Welt) entgeht, hält Strubel für keine Kleinigkeit.

Selber denken wagt auch die amerikanische Journalistin Jia Tolentino in ihrem Essayband "Trick Mirror. Über das inszenierte Ich" (bestellen), versichern die Kritiker. Tolentino kommt aus einem evangelikalen Haushalt, nahm als 17-Jährige an einer Reality-Show teil, schrieb für Jezebel, eine Webseite aus dem jetzt untergegangenen Gawker-Universum, und landete schließlich beim New Yorker. Sie ist auch ein mit allen Wassern gewaschener Social-Media-Profi, aber das stört die Rezensenten nicht, dafür ist sie zu "scharfsinnig", meinen Melanie Mühl in der FAZ und Eva Tepest in der taz. Als erhellend und "literarisch kraftvoll" lobt Juliane Liebert in der Zeit die "feminin geprägten" Essays, die eigene Erlebnisse mit Gedanken über Ehe, Reality-Fernsehen, Trump, Religion, Ecstasy oder eben Feminismus kurzschließen. FAS-Rezensent Harald Staun gefiel, dass alle Erkenntnissen Tolentinos immer auch vom Bewusstsein ihrer Fragwürdigkeit geprägt sind. Als Zeitdiagnose wirklich lesenswert, findet er. Ein Interview mit Tolentino findet sich in der Paris Review. Hingewiesen sie auch noch auf Elif Shafaks Büchlein "Hört einander zu!" (bestellen) - ein Aufruf, der angesichts der politischen Situation in der Türkei, von einigem Mut zeugt. Dass Shafak mehr beobachtet und analysiert als polemisiert und (ver-)urteilt, gefällt NZZ-Kritikerin Irene Binal jedenfalls sehr gut.

Sehr gut besprochen wurde Sören Urbanskys "An den Ufern des Amur" (bestellen), eine Mischung aus Reportage und Geschichte aus dem Grenzgebiet zwischen China und Russland. Die Mehrsprachigkeit des Historikers Urbansky eröffnet der FAZ-Rezensentin Gudrun Braunsperger Einblicke in die Vorurteile auf beiden Seiten der Grenze, die politischen, historischen, kulturellen und sozialanthropologischen Exkurse im Buch erschließen ihr den kleinen Grenzverkehr ebenso wie das mitunter opportunistische Verhalten der Menschen in einer abgehängten Region. Das Verhältnis zueinander ist sicher auch geprägt von der Tatsache, dass ein marodes Russland einem enorm agilen und aufstiegshungrigem China gegenübersteht, erkennt SZ-Kritiker Hans Gasser, der fasziniert ist von der großen Geschichte und den kleinen Geschichten, die der Autor aufspürt.

Empfohlen werden außerdem Barbara Demicks Reportage über "Buddhas vergessene Kinder" (bestellen) in der ost-tibetischen Stadt Ngaba. Hier sind die Repressalien der chinesischen Regierung gegen die Tibeter besonders stark. Für Dlf-kultur-Kritikerin Ruth Kirchner legt die amerikanische Reporterin ein beeindruckendes Buch vor, das am Beispiel Ngabas ein differenziertes Stimmungsbild des tibetischen Verhältnisses zu China zeichnet. Der norwegische Historiker Terje Tvedt liefert mit "Der Nil. Fluss der Geschichte" (bestellen) eine "seltene Mischung" aus Geschichte und Geografie, so in der SZ Harald Eggebrecht, die von biblischen Bildern über die Bilder Hollywoods bis zu den heutigen Kämpfen um das Wasser des Nil kaum etwas auslässt. Als kenntnisreich, faszinierend und informativ lobt in der FAZ auch der Historiker und Afrikawissenschaftler Andreas Eckert das Buch mit seinem Mix aus historischer Analyse, philosophischer Reflexion, Anekdoten und ökologischen Erörterungen. Gut besprochen wurde auch Joseph Andras, der sich mit "Kanaky" (bestellen) an die Spuren des neukaledonischen Freiheitskämpfers Alphonse Dianou heftet. Andras' Recherchen vor Ort machen das Buch laut SZ-Kritiker Florian Kaindl zu einem faszinierenden Zeitdokument, das auch die Erkundung des kolonialen Erbes Frankreichs umfasst.

Schließlich sie noch auf zwei Bücher hingewiesen: Gavin Francis' "Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht" (bestellen) denkt mit Entdeckern wie Kolumbus und Darwin oder Romanfiguren wie Robinson Crusoe über das richtige Verhältnis von Geselligkeit und Abgeschiedenheit nach. Anne Kohlick vom Dlf Kultur genießt diese Gedankenströme wie auch die sehr "atmosphärischen" Naturbeschreibungen, die sie die schäumende Meeresgischt fast am eigenen Leib spüren lassen. Florian Werners Reiseziele sind sehr ungewöhnlich: Er besuchte deutsche Raststätten, was unfassbarer Weise zu dem Band "Die Raststätte. Eine Liebeserklärung" (bestellen) führte. Kulturgeschichtlich möchte der Autor uns die Raststätte mit Foucault und Augé erschließen, aber FAZ-Rezensent Kai Spanke sperrt sich. Lieber erfährt er von Werner über die Anfänge der Rastanlagen in den 1930ern oder wie die Mitropa abgewickelt wurde. Aufschlussreich, findet er. In der SZ lobt Stefan Fischer Werners "Wille zur Groteske".