Redaktionsblog - Im Ententeich

Kritische Zahlen

Von Thierry Chervel
10.02.2016. Ist die Zahl der Literaturkritiken in den großen Zeitungen nun gesunken oder nicht? Laut Perlentaucher-Zahlen ja, und sogar recht deutlich, wenn auch nicht so stark wie die Zahl der Sachbuchkritiken.
Ende 2014 hatte ich für ein kleines Interview von Dradio Kultur ein paar Zahlen aus dem Perlentaucher kompiliert, die dann erstaunlich intensiv diskutiert wurden: Ich hatte die Zahl der vom Perlentaucher resümierten Buchkritiken von 2001 und 2014 verglichen und dabei herausgefunden, dass sich diese Zahl praktisch halbiert hatte. Diese Zahlen beziehen sich auf die Zeitungen, deren Buchkritiken wir seit dem15. März 2000 resümieren, also die FAZ, die FR, die NZZ, die SZ, die taz und Zeit. Die Kritiken der Welt werten wir erst seit 2014 aus. (Da die Kritiken der Welt fast nur samstags erscheinen, haben wir die Literarische Welt in den ersten Jahren gar nicht bewältigen können. Zu groß war die Zahl der Kritiken damals.)

Der Verleger Jörg Sundermeier griff diese dramatischen Zahlen in einem Debattenbeitrag zum Zustand der Literaturkritik beim Buchreport auf und machte sie zum Argument, um eine angeblich immer mehr aufs Event fixierte Kritik anzuprangern. Michael Pilz machte sich bei literaturkritik.de ebenfalls einige Mühe mit den Zahlen und verglich sie mit Daten des Innsbrucker Zeitungsarchivs, die meinen Zahlen widersprachen: Der Perlentaucher resümiert ja nur Buchkritiken ab einer gewissen Länge (Faustregel: 60 bis 80 Zeitungszeilen). Die von Pilz konsultierte Datenbank führte dagegen nur reine Literatur-, aber keine Sachbuchkritiken auf. Pilz kommt zu dem Ergebnis, dass die Zahl der reinen Literaturkritiken trotz der Zeitungskrise praktisch nicht abgenommen habe. Jüngst hat Pilz seine Zahlen noch mal gründlicher gesichtet und kommt wieder zum Ergebnis, dass die Zahl der Kritiken stabil geblieben sei - trotz des seit Jahren schrumpfenden Umfangs der Zeitungen.

Die Zahlen der Perlentauchers spielten dann noch eine Rolle in der von Wolfram Schütte lancierten Debatte zur Literaturkritik, die vor einigen Monaten im Perlentaucher stattfand: Wenn die Zeitungen als Akteure schwächer werden, so der Tenor, dann sollte im Netz ein Literaturmagazin entstehen. Für das Editorial dieser Debatte haben wir uns auch noch mal die Buchmessenbeilagen der FAZ angesehen, die von 64 Seiten im Jahr 2000 auf 26 Seiten im Jahr 2014 geschrumpft waren - die Zahl der Kritiken in den Beilagen hat natürlich einen großen Einfluss auf die Gesamtzahl der Kritiken. Schließlich habe ich die Zahlen auch selbst in meiner Antwort auf Mathias Müller von Blumencron nochmal angeführt: Der Chef des FAZ.net hatte das "Wachstum der Qualitätsmarken" unter den Medien gefeiert (während Start-Ups gar nichts hingekriegt hätten). Ich hielt ihm die Zahlen einer unabweisbaren Schrumpfung entgegen. Dazu machte der Leser Stephan Wiesend die Anmerkung, dass die Zahl der Literaturkritiken der FAZ laut Innsbrucker Zeitungsarchiv lange Zeit gleich geblieben sei.

Gibt es nun einen Trend, oder gibt es keinen? Anlass für die Perlentaucher, unsere Zahlen doch noch mal genauer anzugucken!

Zunächst muss ich zugeben, dass ich im Dezember 2014 einen kleinen Denkfehler gemacht habe: Ich hatte im Dradio Kultur gesagt, dass es im Jahr 2001 noch 4.330 Kritiken in den von uns gelesenen Zeitungen gab, und um Jahr 2014 nur mehr 2.200. Aber natürlich gibt es eine Menge Bücher, zu denen mehr als eine Kritik erschienen ist. Ich hatte in Wirklichkeit die Zahl der besprochenen Bücher genannt, aber nicht die der dazu erschienenen Notizen. Die Zahlen der Kritiken liegen in Wirklichkeit also höher. Die Tendenz bleibt allerdings gleich oder verschärft sich noch: Von 2001 bis 2014 hat sich die Zahl der Buchkritiken in den von uns ausgewerteten Qualitätszeitungen laut Perlentaucher-Notizen schlicht halbiert: von 6.680 Kritiken im Jahr 2001 auf 3.372 Kritiken im Jahr 2014. 2015 sind die Zahlen wieder ein bisschen besser: auf 3.688 Kritiken gestiegen.

Der Rückgang ist in den Zeitungen unterschiedlich dramatisch, aber überall spürbar (siehe Tabelle).



Und hier das ganze in visualisierter Form:



Pilz vermutet in seinem Abgleich mit der Innsbrucker Datenbank, dass die Zahl der Sachbuchkritiken stärker zurückgegangen sei als die der eigentlichen Literaturkritiken, die - bei aller Vorsicht mit den Daten - mehr oder weniger gleich geblieben sei. Deshalb haben wir die Perlentaucher-Datenbank nochmal auf die Zahl der reinen Literaturkritiken geprüft und können Pilz' Eindruck nur halb betätigen.

Die Zahl der Literaturkritiken ist nicht ganz so drastisch gesunken wie die Zahl der Buchkritiken insgesamt, aber einen Rückgang gibt es auch hier.

Demnach hatten die Zeitungen im Jahr 2001 3.140 Literaturkritiken und im Jahr 2014 noch 2.142, beziehungsweise 2.003 Kritiken, wenn wir die Kritiken der Welt herausnehmen, die wir erst seit 2014 mit auswerten und die darum die Tendenz verfälschen (siehe Grafik). Im Jahr 2015 waren es ohne die Welt 2.043 Kritiken. Grob gerechnet ist die Zahl der reinen Literaturkritiken - zumindest so weit sie vom Perlentaucher ausgewertet wurden - zwischen 2001 und 2015 also um ein gutes Drittel zurückgegangen.

Hier die Statistik:



Und visualisiert:




Keine Ahnung, woher die Differenzen zwischen den Zahlen des Innsbrucker Zeitungsarchivs und des Perlentauchers kommen - unter anderem vielleicht daher, dass in Innsbruck auch Kurznotizen und andere Artikel zu Büchern gezählt werden, die bei uns nicht als Kritik figurieren. Stoff für medienwissenschaftlicher Master-Arbeiten!

Thierry Chervel

twitter.com/chervel