Essay

Kritik im Netz/Editorial

Von Thierry Chervel
24.06.2015. Wolfram Schütte möchte die Literaturkritik neu organisieren - durch eine Zeitung im Netz. Einladung zur Debatte im Perlentaucher.
Editorial zur von Wolfram Schütte angestoßenen Debatte über die Zukunft des Lesens.
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Seit einigen Monaten geistert eine Debatte durchs Netz, die das Schrumpfen der Literaturkritik und der Feuilletons überhaupt zum Gegenstand hat. Eröffnet hat sie Jörg Sundermeier, der auf Zahlen Bezug nahm, die ich in einem Radiointerview genannt hatte: Demnach ist die Zahl der Buchkritiken in den vom Perlentaucher ausgewerteten Zeitungen von 4.330 im Jahr 2001 auf 2.200 im Jahr 2014 zurückgegangen. Die von uns ausgewerteten Zeitungen sind die FAZ, die NZZ, die SZ, die taz, die FR und die Zeit und seit neuerem die Welt.

Gewiss: Diese Statistik hat keinen medienwissenschaftlichen Anspruch. Wir werten zwar tendenziell alle Buchkritiken dieser Zeitungen aus, aber nur ab einer gewissen Länge (etwa 60 bis 80 Zeilen), so dass ein Resümee einen angemessenen Abstand zum Original hat. Michael Pilz hat unsere Zahlen bei literaturkritik.de durch eine Konsultation des Innsbrucker Zeitungsarchivs zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur (IZA) flankiert, wo zu meinem Erstaunen aber in den letzten fünfzehn Jahren überhaupt keine Tendenz zu erkennen war. Die Datenbasis war allerdings eine ganz andere. Ich bezog mich bei den Zahlen auf die Feuilletons der Qualitätszeitungen, die die literarische Öffentlichkeit maßgeblich prägten. Andererseits sind bei uns Sachbuchkritiken mit berücksichtigt, bei Pilz nicht. Ekkehard Knörer hat die Debatte im Merkur resümiert.

Dass der Raum der Feuilletons in den letzten fünfzehn Jahren arg geschrumpft ist, lässt sich auch durch ein einfaches Kramen im Gedächtnis treuer Zeitungsleser eruieren: Erinnern wir uns. Im Jahr 2000 hatte das Feuilleton der FAZ gut und gerne zehn bis elf Zeitungsseiten täglich, heute sind es vier bis fünf. Hinzu kamen die berühmte, inzwischen mausetote Tiefdruckbeilage Bilder und Zeiten, die ebenso toten Berliner Seiten der FAZ, die ein rein feuilletonistisches Produkt waren, sowie umfangreiche und seither mindestens halbierte Beilagen zu den Buchmessen (die Grafik zeigt den Umfang der FAZ-Buchmessenbeilagen seit 1999). In der FAZ gab es auch lange Zeit noch den Feuilletonroman, der irgendwann sang- und klanglos gestrichen wurde. Die Debatte um "Tod eines Kritikers" entzündete sich an der Absage eines Walser-Vorabdrucks durch den unvergessenen Frank Schirrmacher.

Auch die anderen Feuilletons sind seitdem geschrumpft, wenn auch nicht von derartigen Niveaus. Aber erinnern wir uns auch daran: Die wunderbare Beilage Literatur und Kunst der NZZ hatte einst wöchentlich sechs Seiten. Nun sind es noch vier.

In Literatur und Kunst und Bilder und Zeiten standen die maßgeblichsten Literaturkritiken deutscher Sprache, und außerdem in der Wochenendbeilage der SZ (deren Literaturteil bald als einziger expandierte und eine tägliche Literaturseite präsentierte, die seitdem immer mehr von Anzeigen angefressen wird), und natürlich in der Zeit. Kein einziges Land der Welt (kein Sprachraum, um genauer zu sein!) pflegte ein derartig lebendiges tägliches Literaturgespräch.

Wolfram Schütte, Elder Statesman der deutschen Kritik, hat uns einen Aufruf zur Gründung einer Literaturzeitung im Internet zugeschickt, die das Schrumpfen der traditionellen literarischen Öffentlichkeit kompensieren soll. Schmeichelhafterweise sieht Schütte den Perlentaucher als Ort dieser Zeitung und zunächst zumindest der Debatte über ein solches Projekt.

Er möchte eine Zeitung, kein Blog, neumodisch ausgedrückt: er möchte browsen, und zwar nicht nur in seiner "Filterblase". Er möchte eine Vielfalt der Formen und ein Finden ohne zu suchen, eine schweifende Bewegung, die er eher dem Zeitunglesen als dem Internet zuschreibt.

Aber er macht sich auch Gedanken über die Realisierbarkeit eines solchen digitalen Printprodukts. Eine Stiftung soll das Projekt stützen. Verlage sollen einzahlen, um sich ihre Öffentlichkeit selbst zu schaffen. Die digitale Zeitung soll für die Leser dennoch zahlbar sein. Schütte weiß schon, dass die Zeitungskrise gar keine Zeitungskrise ist, sondern eine Krise der Informationsökonomie. Ein Businessmodell gibt es für ein solches Projekt nicht.

Ist Schüttes Vorschlag nicht trotzdem hoffnungslos naiv? Hat sich die Zukunft der Literatur und des Lesens nicht längst schon ereignet? Inklusive Nutzerkritiken auf Amazon, Literaturblogs, einem parallelen Ebook-Markt und avantgardistischen Independents, die mit der traditionellen Verlagsszene längst nichts mehr zu tun haben?

Schüttes Text eröffnet die Chance, Akteure der alten wie der neuen Öffentlichkeit miteinander diskutieren zu lassen. Wir laden Journalisten, Blogger, Verlagsleute, Autoren und natürlich besonders auch die Literaturchefs der Zeitungen dazu ein, Schüttes Vorschlag zu feiern, zu zerpflücken, auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen.

Thierry Chervel

chervel@perlentaucher.de

twitter.com/chervel

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