Außer Atem: Das Berlinale Blog

Miteinander, mit der Natur: "The Works and Days (of Tayoko Shiojiri in the Shiotani Basin)" (Encounters)

Von Jochen Werner
29.02.2020.


Lange Filme haben auf der Berlinale natürlich von jeher Tradition, aber der erste Festivaljahrgang von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek ist vielleicht doch noch ein bisschen mehr eine Berlinale der langen Kinotage. 200 Minuten "Malmkrog", 250 Minuten mit Hillary Clinton, sechs plus zweieinhalb Stunden "DAU". Und dann ist da noch dieser Film mit dem langen Titel, der formatsprengendste Beitrag zur ohnehin formatsprengenden (und famos kuratierten) neuen Sektion Encounters, die dem in diesem Jahr ebenfalls starken Wettbewerb noch einmal den Rang abläuft.

"The Works and Days (of Tayoko Shiojiri in the Shiotani Basin)" ist acht Stunden lang, die in fünf Kapitel eingeteilt sind und in der Projektion von drei (künstlerisch vorgesehenen) Pausen unterbrochen werden. Daraus ergibt sich ein ganzer Tag, von halb zwölf vormittags bis neun Uhr abends, den man im Kino mit diesem Film verbringt - sowie ein spezifischer Wahrnehmungsmodus, den dieser herausfordert. Denn es gibt ja sehr unterschiedliche Formen, einen langen Film anzuschauen.

Dabei kann es durchaus um ein Aushalten gehen, ein Sicheinlassen auf eine Dauer, die mitunter auch brachial aus gewohnten Wahrnehmungsmustern herauszwingt. Es gibt Filme von Lav Diaz, der sich seit einem Jahrzehnt als cinephiler Apostel der ganz, ganz langen Form etabliert hat, die wollen bezwungen werden wie man einen Berggipfel erklimmt - was sich allerdings nahezu immer lohnt und mit einer ganz eigenen, ungemein zwingenden Form narrativer Gewalt belohnt wird.

Dieser Film hat nichts von dieser Brachialität an sich, allerdings schlägt er auch nicht wirklich ins diametrale Extrem um, das mittels einer radikalen Entschleunigung bis zum Stillstand meditative Rhythmen anstrebt. Tatsächlich ist "The Works and Days (of Tayoko Shiojiri in the Shiotani Basin)", so seltsam das angesichts seiner Ruhe und angesichts des Friedens, den er über seine gesamte Laufzeit ausstrahlt, anmuten mag, für einen Film von dieser Flächigkeit über weite Passagen relativ schnell geschnitten.

Anstatt ein Bild lange stehen zu lassen, sodass sich langsam ereignende Dinge oder dem flüchtigen Blick verborgene Details sichtbar werden können, bleiben viele der vom Regisseursduo C. W. Winter und Anders Edström aufgenommenen Einstellungen lediglich einige Sekunden stehen - lang genug, um sie in Ruhe zu erfassen, aber nicht so lang, dass sie ein Sichversenken ins einzelne Bild erfordern würden. An ihre Stelle tritt dann stets ein neues Bild, eine neue Perspektive. Auch geht es nicht darum, in irgendeiner Form besondere Bilder einzufangen - weder auf die überwältigende noch auf die sanfte, schleichende, schmiegende Art.

Die von Anders und Edström arrangierten Bilder sind bescheiden, jedes für sich nicht in den Vordergrund drängend, aber im Verlauf der acht Stunden, die wir im und mit dem Film verbringen, ergänzen sie einander und ergeben einen filmischen Ort, in dem wir uns gern aufhalten - auch ohne dass es hier ständig etwas Besonderes zu sehen geben müsste, denn die durch den Film vermittelten Informationen sind im Grunde überschaubar. Anfangs wohnen wir noch etwas ausgiebiger dem Arbeitsalltag der Bauernfamilie Shiojiri bei, aber auch dieses konkretere dokumentarische Interesse tritt bald diskret zurück in den Hintergrund.

Und dann ist da noch der Ton, der nicht nur über die gesamten acht Stunden ungemein präsent ist, sondern sich auch immer wieder in eine Dominanz über die Bilder hineinsteigert und ein Eigenleben weniger entwickelt, sondern vielmehr offenbart. In einzelnen Sequenzen verschiebt sich diese Dominanz so stark, dass der Film sich buchstäblich in eine Sound-Art-Arbeit transformiert, und diese Momente strahlen über sich selbst derart hinaus, dass sie den bearbeiteten, künstlerisch gestalteten Charakter des Tons auch dort, wo er vermeintlich als Originalton und Hintergrundrauschen daherkommt, mindestens erahnen lässt.

Das alles heißt keineswegs, dass es wenig zu erfahren gäbe in diesem wunderbaren Film, denn tatsächlich erfährt man wohl einiges darüber, wie es sich anfühlen mag, in einem 47-Seelen-Dorf im Shiotanibecken, in diesen Leben. Winter und Edström laden uns ein, diesen Menschen einen Tag lang beizuwohnen, wie sie leben (und letztendlich, wenn die anfangs noch strenge Struktur von Kapiteln und Pausen zunehmend asymmetrisch wird, auch sterben), wie sie arbeiten, erzählen, nichts tun und einfach sind, mit einander und mit und in der Natur.

The Works and Days (of Tayoko Shiojiri in the Shiotani Basin). Regie: C.W. Winter, Anders Edström. Mit Tayoko Shiojiri, Hiroharu Shikata, Ryo Kase, Mai Edström, Kaoru Iwahana u.a., USA / Schweden / Japan / Vereinigtes Königreich 2020, 480 Minuten (Alle Vorführtermine)