Außer Atem: Das Berlinale Blog

Auf die graue Welt: Rati Onellis 'City of the Sun' (Forum)

Von Anja Seeliger
11.02.2017.


In Tschiatura, einer Stadt in den Bergen Westgeorgiens, wurde bis in die neunziger Jahre Mangan abgebaut. Vor dem Ersten Weltkrieg, als die Minen zumeist deutschen Firmen wie der Oberhausener Gutehoffnungshütte, der Friedrich Krupp AG, dem Schalker Gruben- und Hüttenverein, der Gelsenkirchener Bergwerks-Aktien-Gesellschaft und dem Hamburger Kaukasische Grubenverein gehörten, betrug der Anteil Tschiaturas am Manganaufkommen der Welt fast 40 Prozent. Inzwischen sind die Minen erschöpft. Das weiß ich aus der Wikipedia, Rati Onelis Doku über Tschiatura, "City of the Sun", erzählt es nicht. Mit Fakten hat es der Film leider nicht so, er setzt mehr auf Atmosphäre. Die erzählt einem aber auch einiges.

Es gibt nur noch wenige Einwohner in dem Ort unmittelbar bei den Minen. Darunter der Musiklehrer Zurab, der mit einer Gruppe älterer Damen die alten Volkslieder übt. Der Laienschauspieler Archil, der in einer der letzten offenen Gruben arbeitet und im Schacht seinen Part (Richard III.?) probt. Außerdem eine Sportlehrerin, die zwei Flüchtlingsmädchen für die nächste Olympiade im Laufen trainiert, und eine Handvoll Familien.

Sie haben Kultur. Sie singen, die Mädchen werden in Ballett und Volkstänzen unterrichtet, es gibt Musiker. Aber diese Menschen, die Shakespeare proben und klassisches Ballett, führen nicht ein einziges interessantes Gespräch. Das ist faszinierend. Sie erinnern sich, wie etwas früher gemacht wurde, aber sie wissen nicht mehr, warum.

Sie sind nicht gefühllos, sie finden nur nicht mehr zurück - nicht zu ihrem sowjetischen, nicht zu ihrem präsowjetischem Leben, zu einem postsowjetischen Leben sowieso nicht. Fassungslos hört man einem Telefongespräch der Sporttrainerin zu, die sich über ihre geringen Mittel beklagt: "Wenn sie drei mal am Tag essen könnten, würde ich sie noch mehr antreiben", sagt sie über die beiden Schwestern, deren Laufstrecke Oneli immer wieder zwischen Szenen aus dem Ort schneidet. Diese zwei Mädchen, die wir immer wieder minutenlang in perfektem Gleichklang ihre Runden drehen sehen, sind vielleicht die einzigen, die wirklich etwas wollen. Genau kann man es nicht wissen, denn Oneli befragt sie nicht, man sieht sie nur laufen. Aber eine Olympia-Medaille würde sie natürlich sofort aus dem Grau ins Licht katapultieren, ins Geld und in die Schönheit.



Schönheit ist etwas, das diesem Ort völlig abgeht. Eine Szene zeigt die Wohnung des Musiklehrers. Ich verstehe, dass er arm ist, aber die seelenlose Tristesse seines Zimmers hat nichts mit Armut zu tun. Sie untergräbt seine Identität als Bewahrer einer Kultur. Man kann arm sein, aber deshalb muss man nicht umgeben von Pappschachteln hausen. Gleiches gilt für die Betriebsfeier in dem scheußlichen "Feiersaal" - eigentlich auch nur eine große Schachtel - für die der Musiklehrer  als Animateur mit dem Rücken zu seinem fröhlich betrunkenen Publikum singt. Die Menschen in dieser georgischen Provinz sind vielleicht das Herz des Landes. Sie erinnern sich an Traditionen, aber sie können sie nicht mehr leben. Die Verbindung ist gekappt und lässt sich nicht mehr flicken. Das zeigt dieser Film ganz unsentimental.

Was er auch zeigt, ist, dass sich nach der Wende der Blick nicht geweitet hat. Auch nicht der Blick des Regisseurs, der sich für meinen Geschmack etwas zu sehr in dieser postsowjetischen Tristesse suhlt, wenn er die menschlichen interaktionen immer wieder mit Regen kontrastiert, mit Betonruinen, die mühsam mit dem Hammer abgetragen werden, Aufnahmen einer vernarbten, in ihrer Schönheit aber schier unzerstörbaren Landschaft, und Kühen auf einer vernebelten Weide. In einer Szene prosten sich drei Männer nachts vor einem Feuer in einer Hausruine zu: "Auf die graue Welt, das graue Jahrhundert und die graue Stadt."

Aber die Welt ist nicht grau, im Gegenteil. Sie ist so bunt, vielfältig und widersprüchlich, dass viele Menschen es schlicht nicht mehr ertragen. In Onelis Film wissen die Menschen das noch nicht. Als wäre die Zeit irgendwann in den Neunzigern eingefroren.

Rati Oneli: City of the Sun. Dokumentarfilm, Georgien / USA / Katar / Niederlande 2017. 104 Minuten. (Vorführtermine)