9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Gesellschaft

2274 Presseschau-Absätze - Seite 3 von 228

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.03.2024 - Gesellschaft

Um Punkt 12 versammelten sich viele Russen am Präsidentschaftswahltag in Russland, aber auch weltweit dem Aufruf Alexej Nawalnys folgend vor den Wahllokalen, um zu protestieren, nicht selten wählten sie die Form der Schlange, beobachtete der Schriftsteller Alexander Estis, der sich in der SZ fragt, warum gerade diese Relikt aus Sowjetzeiten als Protestform gewählt wurde: "Defizit und Personalmangel in der Planwirtschaft sorgten dafür, dass der 'Homo sovieticus' einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Lebens mit dem Warten verbrachte; in den Hochphasen konnten Schlangen aus Tausenden Menschen bestehen, und insgesamt konnten in Moskau an einem Tag Zigtausende anstehen. Für Essen musste man in der Regel sogar dreifach anstehen: Zunächst zum Abwiegen, dann zum Bezahlen und schließlich zum Abholen. Die Schlange war ein Institut, eine Konstante der sowjetischen Existenz: Man stand immer an, ob fürs Bier, vor der Post oder ins Mausoleum." Estis fragt sich dann aber auch, "inwieweit die Warteschlangenmentalität mit ihrer unterwürfigen Trägheit, ihrem überlebenssichernden Ein- und Unterordnungsprinzip, ihrem Fatalismus und Opportunismus aus der Sowjetzeit ins heutige Russland hineinragt."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.03.2024 - Gesellschaft

In einem Porträt Derek Scallys für die Irish Times kündigt Susan Neiman zwar nicht direkt an, Deutschland zu verlassen, aber irgendwie doch ein bisschen: "Ein Jahr vor dem Ende ihres Vertrags am Einstein Forum wird Neimans Häuschen in Kerry von Tag zu Tag attraktiver. 'Ich möchte Irland weniger als Zufluchtsort fernab von allem sehen', sagt sie, 'sondern eher als einen Ort, an dem ich am intellektuellen und kulturellen Leben teilhaben kann.'" In Deutschland herrsche eine Atmosphäre des McCarthyismus, sagt sie vorher in Scallys Porträt. "Wie zur Zeit der Kommunistenangst im Amerika der 1950er Jahre, sagt sie, muss jeder, der die extremistische israelische Regierung und ihre Politik kritisiert, beweisen, dass er kein Antisemit ist und auch nie einer war. Deutsche beschuldigen Juden wie Neiman, Antisemiten zu sein? Was sich wie ein Scherz anhört, ist durch ihre Brille betrachtet, nicht zum Lachen."

taz-Autor Daniel Bax hat sich im "Meinungskorridor" kräftig den Kopf gestoßen. Es geht natürlich um Israel: "'Das Ghetto wird liquidiert', schrieb Masha Gessen mit Blick auf Israels Kriegsführung in Gaza. Hierzulande sorgte dieser Satz in einem Essay, der im Magazin New Yorker erschien, für einen Eklat. Denn in Deutschland hat man sehr weitreichende Vorstellungen davon, was man in Bezug auf Israel alles nicht sagen darf. Der Meinungskorridor wird deshalb immer enger - und es könnte noch schlimmer kommen, wenn Kulturstaatsministerin Claudia Roth vor dem Druck einknickt, der nach der Berlinale wieder zugenommen hat." Uwe Tellkamp, der sich zuerst durch einen immer engeren "Meinungskorridor" hatte pressen müssen, wird sich für diese kulturelle Aneignung bedanken.

Jonathan Guggenberger berichtet außerdem in der taz, dass die Berliner Kulturpolitik immer noch um eine "Antisemitismusklausel" ringt, während Kulturinstitutionen Angst haben, dass sie sich mit Bekenntnissen gegen Antisemitismus vor der internationalen "Strike Germany"-Fraktion blamieren sollen. Der Berliner Kultursenator Joe Chialo, notiert Guggenberger, äußert sich einfach weiter proisraelisch: "In den sozialen Medien teilt der ehemalige Sprecher des Berliner Kultursenats und Vertrauter Joe Chialo nicht erst seit dem 7. Oktober proisraelische Inhalte. Darunter auch Statements der israelischen Streitkräfte, Fotos israelischer Geiseln und viel Kritik an propalästinensischen Aktivisten aus Kunst und Kultur. Der sich propalästinensisch positionierende Berliner Kurator Edwin Nasr und die Performerin Nomi Sladko werten diese Posts als 'zionistische Propaganda'."

Berliner Behörden erwägen ein Verbot eines demnächst geplanten "Palästina-Kongresses", berichtet Alexander Fröhlich im Tagesspiegel. Die rechtlichen Hürden dafür seien allerdings hoch: "Nach dem Willen der Veranstalter sollen Namen der prominentesten Redner bis zuletzt geheim bleiben, um Einreiseverbote zu verhindern. Wo genau der sogenannte 'Palästina Kongress' vom 12. bis 14. April in Berlin stattfinden soll, ist ebenfalls noch geheim. Organisiert wird er von radikalen Gruppen wie 'Palästina Spricht', der trotzkistischen Gruppe 'Arbeiterinnenmacht' sowie dem 'BDS Berlin'."

Nach der taz (mehr hier) porträtiert ein Autorenteam der SZ den offenbar überaus charmanten und lange nicht als Rechtsextremen bekannten Düsseldorfer Zahnarzt Gernot Mörig, der das "Remigrations"-Treffen von AfD und Co. in Potsdam maßgeblich mit organisiert hat. Auch in allen rechtspopulistischen bis -extremen Parteien hat er gute Kontakte: "Sogar Sahra Wagenknecht, die mit ihrer Partei BSW ebenfalls nach Abgehängten, Unzufriedenen und Ampelmüden fischt, hat Mörig offenbar schon umgarnt. Wagenknecht legte den Kontakt vor einigen Wochen selbst offen und sagte im ZDF, dass sie jahrelang 'nette Mails' von ihm bekommen habe. Die Wagenknecht-Partei, die Werteunion, die AfD: als hätte Mörig drei Asse gegen das Establishment im Ärmel, von denen eins schon stechen wird."

Vor allem im Osten müssen sich Lokalpolitiker inzwischen vor vor gewalttätigen Angriffen fürchten. Im Interview mit der SZ erklärt der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, wie es dazu kommen konnte, und warum die AfD, obwohl sie offiziell Gewalt ablehnt, zu der Atmosphäre der Gewalt beigetragen hat: "Ganz entscheidend waren Normalisierungsgewinne: Auch wer nicht mit rechten Positionen einverstanden ist, wagt es nicht mehr, deutlich Widerspruch dagegen zu erheben, sondern zieht sich zurück - oder ganz weg, zum Beispiel in eine größere Stadt. Das fing alles in den 1990er Jahren an und hat den Boden bereitet für die heutige Situation. Die aktuellen Statistiken zeigen zunehmende Angriffe gegen politische Akteure. Man muss konstatieren, dass inzwischen auch AfD-Politiker Opfer von Übergriffen werden, was ebenfalls die demokratische Kultur beschädigt." Aber die AfD trag daran Mitschuld, weil sie "mit einer Gewaltmembran" hantiere. "Eine Membran hat etwas Trennendes: Prominente Akteure der AfD rufen nicht selbst zur Gewalt auf. Aber eine Membran ist auch durchlässig. Die AfD trägt zur Legitimation von Gewaltakten bei, indem aufheizend mit Begriffen wie 'Umvolkung' oder 'Bevölkerungsaustausch' gearbeitet wird."

Buch in der Debatte

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In der Welt unterhält sich Andrea Seibel mit dem Historiker Andreas Petersen über dessen neues Buch "Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand", das den Umgang mit der Tiefenpsychologie in den Gesellschaften Ost- und Westeuropas vor und nach den großen Diktaturen vergleicht. In Russland wurde "ab Ende der 1920er-Jahre durch Stalin alles Tiefenpsychologische ausgelöscht" und das hat Folgen bis heute, meint er. Ganz so weit scheint er mit seinem Buch nicht zu gehen: "Es sollte in Sachen Psyche erst einmal der historische Rahmen abgesteckt werden. Was ist in Ost und West überhaupt passiert, bis hinein in die Familien? Stichwort: gesellschaftlicher Sozialcharakter. Was bedeutet es, wenn langfristig Wissen über das Unbewusste aus der Gesellschaft draußen gehalten wird. Wir können noch lange über Renten und Erbe streiten, aber das immaterielle Erbe weiter ausblenden. Was also ist der missing link in dieser Frage zwischen Ost und West? Dabei geht es nicht um besser oder schlechter, schwarz oder weiß, sondern ums Klären der Differenzen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.03.2024 - Gesellschaft

Eine deutsche Szene beobachtet FAZ-Autor Reinard Bingener im niedersächsischen Vechta. Ins dortige Frauengefängnis soll die mutmaßliche RAF-Terroristin Daniela Klette verlegt worden sein. Ein kleines Grüppchen Sympathisanten, organisiert von der Bremer Krankenschwester Ariane Müller, hat sich eingefunden, um für sie zu demonstrieren: "Müller erklärt auf Nachfrage der FAZ, zu den Opfern der RAF 'müsste ich jetzt länger ausholen', und dafür habe sie leider keine Zeit. Ein Demonstrant erklärt, er finde Morde zwar 'nicht so sympathisch', aber die tödlichen Schüsse auf den Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder im Jahr 1991 seien ja 'nicht aus heiterem Himmel gefallen'. Es wäre 'perfide' zu behaupten, dafür hätte es keine Gründe gegeben."

Eine Gruppe linksradikaler Organisationen plant für 12. bis 13. April einen Hamas-freundlichen Kongress unter dem Titel "Palästina Kongress", berichtet Sebastian Leber im Tagesspiegel. Unter anderem seien Greta Thunberg oder die israelfeindliche UN-Funktionärin Francesca Albanese eingeladen (ob sie zugesagt haben, ist ungewiss): "Die Planungen zu dem Kongress begannen bereits im Dezember. Dafür schlossen sich diverse radikale Kleingruppen aus Berlin zusammen. Zum Beispiel die Splittergruppe 'Revolutionäre Linke', die sich nach dem Massaker der Hamas mit den Terroristen solidarisch erklärte. Oder das Netzwerk 'Palästina Spricht', das en 7. Oktober als Tag sieht, der gefeiert gehört. Sprecher Ramsis Kilani hält die am 7. Oktober ermordeten israelischen Zivilisten für 'Kriegsverbrecher'."


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Es gibt allen Ernstes ein "Berliner Register", das zu Folgendem aufruft: "Melde Diskriminierung und extrem rechte Aktivitäten an uns." Dort ist jetzt auch ein Buch von Henryk Broder und Reinhard Mohr gelandet, "Durchs irre Germanistan", berichtet Jan Fleischhauer in seiner Focus-Kolumne. Gemeldet wird in dem Register, dass sich die Autoren gegen das Gendern wenden. Fleischhauer zitiert aus dem Register: "Geschlechtergerechte Sprache wurde als Ausdruck von Kleingeist und Konformität dargestellt. Beispielsweise wurde einem Radiomoderator, der einem der Autoren durch seine geschlechtergerechte Ausdrucksweise aufgefallen war, unterstellt, hätte er im Nationalsozialismus gelebt, hätte er auch mit 'Heil Hitler' unterschrieben. Diese Analogie kann zudem als NS-verharmlosend interpretiert werden." Das Berliner Register, so Fleischhauer, wird vom Berliner Senat finanziert.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.03.2024 - Gesellschaft

Neue Berichte belegen ein weiteres Mal, dass der Sexualpädagoge Helmut Kentler "im Namen progressiver Pädagogik" Kinder und Jugendliche zu Pädosexuellen schickte, die sie mit seiner stillen Billigung - und der der Behörden - missbrauchten. Das ganze geschah in Berlin in den achtziger Jahren. Nina Apin berichtet in der taz. "Kentlers Grundthese dabei: Da sie Interesse an einer sexuellen Beziehung mit den Jungen hätten, würden sich die Pädosexuellen besonders viel Mühe mit ihnen geben. Die Pflegestellen wurden unter der Zuständigkeit und, davon muss man ausgehen, mit dem Wissen zumindest einiger Verantwortlicher des zuständigen Jugendamtes eingerichtet. In den folgenden Jahrzehnten verstand es Kentler, solche sexuellen Ausbeutungsverhältnisse als progressive Pädagogik zu verkaufen. Unkonventionelle Ansätze in der Jugendhilfe waren in Mode und Kentler besaß Renommee, unter anderem durch sein Engagement in der evangelischen Jugendarbeit." Die taz hatte vor Jahren zum ersten Mal über Kentler berichtet, hier unsere Resümees. Neuer Aspekt bei der Sache. Kentlers Aktivitiäten gingen weit über West-Berlin hinaus: "Vom Berliner Jugendamt betreute Kinder wurden regelmäßig an die hessische Odenwaldschule geschickt, in die Familie des pädosexuellen Schulleiters Gerold Becker. Dieser hatte mit Kentler am Pädagogischen Zentrum in Göttingen studiert, man war befreundet."

Der in San Francisco lehrende Sozialwissenschaftler Jan Voelkel hat für eine große Studie Ideen gesammelt, die gegen die grassierende Polarisierung helfen. Einige stellt er im Gespräch mit Antje Lang-Lendorff von der taz vor. "Ein Video, das von einem Bierunternehmen vor einigen Jahren gedreht wurde, hatte den größten Effekt. In dem kurzen Film sieht man sechs Menschen, die sich nicht kennen und die mithilfe einer Anleitung jeweils zu zweit eine Bar aufbauen sollen. Sie verstehen sich gut. Erst am Ende erfahren sie, dass sie komplett andere Meinungen vertreten, zu Feminismus, Klimawandel, transgender. Trotzdem entscheiden sie sich dafür, an der Bar ein Bier miteinander zu trinken und über ihre Meinungen zu diskutieren. Sie reden sehr respektvoll miteinander."

Über ähnliche Themen spricht die Philosophin Romy Jaster mit Lea De Gregorio, ebenfalls von der taz. Sie betrachtet klassisch habermasianisch das Internet als verantwortlich, da die "Gatekeeper" -Medien nicht mehr die Macht haben, die Schäfchen zu hüten: "Es gibt natürlich immer noch Medien, die hohe Zugangshürden und Qualitätsstandards haben, aber man kann sie heute auch umgehen."

Auch der Historiker Norbert Frei beklagt in seiner SZ-Kolumne "die Konsequenzen jener Kommunikationsrevolution, die in den frühen Neunzigerjahren mit der Einführung des World Wide Web einsetzte und die vor kaum zwanzig Jahren mit medienrechtlich völlig unregulierten sogenannten Plattformen ihre heutige Missgestalt anzunehmen begann". Und "derweil versteht sich die AfD perfekt darauf, den vor unser aller Augen sich vollziehenden Strukturbruch der Öffentlichkeit - das Wort vom 'Strukturwandel' trifft es nicht mehr - für ihre demokratieverachtenden Zwecke zu nutzen." Die Geschichte zeigt, das schon Hitler ohne Facebook gar nicht möglich gewesen wäre!

9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.03.2024 - Gesellschaft

Frederik Eikmanns stellt in der taz zwei Studien zu Antisemitismus an Hochschulen vor - einer von ihnen wurde gestern von  Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) der Öffentlichkeit präsentiert. Die Ergebnisse sind nicht überraschend, besonders israelbezogener Antisemitismus ist weit verbreitet: "Die Forscher*innen hatten online rund 2.000 Studierende befragt. Rund 8 Prozent stimmen allgemein antisemitischen Aussagen zu, weitere 10 Prozent teilweise. Ähnlich sind die Zustimmungsanteile auch auf israelbezogenen Antisemitismus. Hoch sind die Zustimmungswerte unter muslimischen Studierenden, hier stimmt mehr als ein Drittel antisemitischen Aussagen zu, auch in der Gesamtbevölkerung stimmten ähnliche viele Muslim*innen zu. Wer im Ausland seine Hochschulberechtigung erworben hat, ist zudem im Schnitt öfter antisemitisch (18 Prozent) eingestellt als Personen, die das deutsche Schulsystem durchlaufen haben (7 Prozent). Unabhängig von der Konfession steigt mit zunehmender Religiosität auch die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen."

Laut Charlie Hebdo werden jetzt auch an Pariser Elite-Unis Schuluniformen eingeführt.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.03.2024 - Gesellschaft

Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty erklärt den überall blühenden Rechtspopulismus mit einem Gefälle zwischen Metropolen und Provinz, denn die Arbeitsplätze in der Industrie seien eher auf dem Land als in den großen Städten verloren gegangen und die Menschen fühlten sich zurückgelassen, sagt er im Gespräch mit Marcus Gatzke und Mark Schieritz in der Zeit: "Es geht dabei um die Qualität der öffentlichen Infrastruktur in den vergangenen Jahrzehnten. Ich meine damit Dinge wie den Zugang zu hochmodernen Krankenhäusern oder Universitäten. Die stehen häufig in den Städten. Das war vor dreißig oder vierzig Jahren nicht so problematisch, es reichte aus, wenn es in einer Kleinstadt ein gutes Gymnasium gab oder einen guten Arzt. Sehr wenige Leute gingen an die Universität. Heute ist das anders, und da haben die Leute in der Großstadt einen Vorteil. Und gleichzeitig werfen die Städter der Landbevölkerung vor, sie seien mit ihren Autos und Häusern verantwortlich für den Klimawandel, während sie selbst für ein Wochenende nach Barcelona fliegen."

Auf Social Media sind gerade die sogenannten "tradwifes" (Unser Resümee) sehr beliebt, weil sie ein traditionelles Mutterbild vermitteln. Im Welt-Interview mit Hannah Lühmann spricht die Kulturwissenschaftlerin Barbara Vinken über diesen Trend, der durch Corona an Kraft gewonnen hat. "In Deutschland ist die Familie seit Luther das Heilige, die Institution des Allgemeinwohls - und des Überlebens. Wir haben nie an etwas anderes geglaubt. Wir glauben an die Familie. Und die ist natürlich in der Coronazeit irrsinnig überlebenswichtig geworden. Wenn die Kinder plötzlich nur noch zu Hause sind, weil es draußen nichts mehr gibt und sie nur in der Familie leben können. Familie heißt: Die Mutter arbeitet für das Essen, für die Erziehung, für die Kinder und der Vater versucht, das Geld ranzuziehen, das ist eben leider so. Dieses Bild hat sich während Corona noch einmal extrem verstärkt."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.03.2024 - Gesellschaft

Man darf ja gar nichts mehr sagen, war lange das Klagelied rechter oder zumindest unsensibler Zeitgenossen. Jetzt ist es nach links gewandert: In der taz beklagt Ilija Trojanow bitter, dass die "Global Assembly", die diese Woche in Frankfurt über "autoritäre Herrschaft und Demokratisierung, Klimagerechtigkeit und ökologische Transformation, Menschen- und Naturrechte" diskutieren wollte, ihre Veranstaltung selbst absagte, weil sie fürchtete, "unabsehbaren Risiken" ausgesetzt zu sein, wenn sie über Gaza diskutieren würde. Gemeint war offenbar Kritik, wie sie zuletzt die Berlinale traf. "Anstatt eine Debatte zuzulassen und zugespitzte Meinungen auszuhalten, soll eine Verbotskultur den Diskurs regulieren. Die Wortwahl der herrschenden Kritik war symptomatisch: 'Diese Bilder, diese Töne will ich nicht aus Berlin sehen und hören.' Ein Bürgermeister, der Sprechen und Zuhören mit einem Verkehrsleitsystem verwechselt. Solche Aussagen lassen sich nur durch Schwarz-Weiß-Denken erklären, durch die Vorstellung, dass es nur eine Option gibt, die bedingungslose Unterstützung der einen oder der anderen Seite. So als könnte von uns nicht verlangt werden, Empathie für alle Opfer und Empörung gegenüber allen Tätern zu empfinden... Die regelmäßig geäußerte Behauptung, der Vorwurf des Antisemitismus sei keine Zensur, man könne ihm ja mit Argumenten begegnen, ist verlogen. Wir wissen alle, was für eine Wucht dieser Vorwurf in Deutschland entfaltet. Er kann ein Individuum, aber auch eine von öffentlichen Förderungen und Spenden abhängige Organisation zerstören."

Als  Saba-Nur Cheema den Bericht zur Muslimfeindlichkeit der Öffentlichkeit vorstellte, den sie zusammen mit Kollegen für das Bundesinnenministerium erstellt hatte, war das Echo in den Medien groß. Nun zieht das Ministerium den Bericht endgültig zurück, meldet unter anderem tagesschau.de: "Gegen den Bericht hatten der Publizist Henryk M. Broder und die Islamismus-Expertin Sigrid Herrmann zum Teil erfolgreich geklagt. Sie sahen sich durch wertende Erwähnungen in ihrem Ruf geschädigt. Das Bundesinnenministerium hat den Bericht mit insgesamt 1,5 Millionen Euro finanziert. Der Expertenkreis hat sich nach Vorlage des Berichts aufgelöst."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.03.2024 - Gesellschaft

Auch Patrick von Braunmühl weiß nicht, wer seinen Vater Gerold ermordet hat. Mit Stefan Hunglinger von der taz spricht er über seine Erwartungen an einen Prozess gegen die "dritte Generation" der RAF: "Mein Interesse ist die Aufklärung. Damit meine ich nicht nur, dass ich unbedingt wissen muss, wer meinen Vater erschossen hat, sondern auch die Begleitumstände. Wer war in dieser dritten Generation? Wie hat sie sich entwickelt? Wie hat sie ihre Opfer ausgesucht? Es gibt da viele offene Fragen und die Aufklärung kommt mir insgesamt zu kurz in der Debatte. Teilweise auch bei den Behörden. Dass die Behörden die Fahndungsfotos nicht mit Bildern im Internet abgeglichen haben, finde ich schon erstaunlich. Meine Hoffnung wäre jetzt, dass der bevorstehende Prozess zu mehr Erkenntnissen über die dritte Generation der RAF führt." Scharf kritisiert er auch die Behörden: "Das staatliche Interesse, den Fall heute noch aufzuklären, scheint mir eher begrenzt zu sein."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.03.2024 - Gesellschaft

Auch die Welt bringt einige Beiträge zum Weltfrauentag, darunter einen Text von Mirna Funk, die mit jenen Feministinnen der dritten Welle abrechnet, die bis heute kein Wort über die brutalen Schändungen der Hamas an Frauen verloren haben: "Während es sonst wegen jedes falsch angewendeten Pronomens von den Feministinnen dieser Welt lautes Aufbegehren gab und man selbst wegen der Mikroaggression 'Auf den Po starren' sofort mit einer Cancel-Fackel durch die Gegend jagte, kam es nach dem 7. Oktober zu keinem kollektiven Schweigen. Das liegt insbesondere daran, dass die aktuell führenden feministischen Bewegungen marxistisch-anti-imperialistisch geprägt sind. Und für sie gibt es nur Unterdrücker und Unterdrückte und den Kampf der Unterdrückten gegen die Unterdrücker. Dieser Kampf darf mit allen Mittel geführt werden. Und weil die Israelis die Unterdrücker sind, sind die Israelinnen, denen man in ihre Genitalien schoss auch nur gemeine Unterdrücker, die den 'Befreiungsvergewaltigungen' zum Opfer fielen."

Ebenfalls in der Welt ergänzt Anna Staroselski, Vizepräsidentin der Deutsch-Israelischen Gesellschaft: "Das Trauma jüdischer Frauen findet keine Anerkennung. Dieser Schmerz und diese Ungerechtigkeit sind kaum auszuhalten. Seit dem 7. Oktober kämpfen jedoch jeden Tag mutige Frauen dafür, den ermordeten und misshandelten Frauen ihre Würde und den ihnen zustehenden Respekt einzufordern und zurückzugeben. Und sie zwingen die Welt, hinzuschauen."

In der FR macht Maria Sterkl derweil auf das Schicksal der Frauen in Gaza aufmerksam: "Besonders schwer betroffen sind die mehr als 50.000 Schwangeren in Gaza. Die anhaltende Unterversorgung mit Nahrung und sauberem Wasser führt laut Angaben der Al-Helal-Geburtenklinik zu einem gehäuften Auftreten von Fehlgeburten und Stillgeburten. Viele Babys kommen aufgrund von Komplikationen so früh auf die Welt, dass sie nicht am Leben erhalten werden können. Laut UN-Angaben bringen jeden Tag durchschnittlich 180 Frauen in Gaza ein Kind zur Welt. Humanitäre Helferinnen erzählen von Entbindungen unter schwersten Bedingungen - im Freien, in öffentlichen Toiletten, in überfüllten Massenlagern."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.03.2024 - Gesellschaft

Gerne würde man das Dossier über den "Feminismus mit variabler Empörungsbereitschaft" der Zeitschrift Franc Tireur lesen. Steht aber leider nicht online.
Die taz bringt ein mehrseitiges Dossier zum Tag der Frau, der ja morgen in Berlin bekanntlich Feiertag ist. Hauptthema ist Schönheit. Ein Pro und contra beschäftigt sich mit der drängenden Frage: "Sollten sich Feminist*innen überhaupt mit ihrem Aussehen beschäftigen?" Valérie Catil schreibt über den Hype um das Diabetes- und Abnehmmedikament Ozempic ("wenn es sich durchsetzt, gewinnt vor allem das Unternehmen dahinter"). "Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, werden permanent auf Äußerlichkeiten angesprochen und verspottet", sagt die grüne Bundestagsabgeordnete Tessa Ganserer (Frage: "Sie haben selbst lange in einer männlichen Rolle gelebt. Hätte sich die Frage nach Schönheit damals für Sie anders angefühlt?") Was es in dem Dossier nicht gibt: Nichts über den Iran, nichts über die Ukraine oder Russland, nichts über den Streit Gender- versus klassischer Feminismus.