9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Geschichte

1353 Presseschau-Absätze - Seite 7 von 136

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.11.2023 - Geschichte

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Genau vor hundert Jahren versuchte Hitler mit der Hilfe der SA gegen die Reichsregierung in Berlin zu stürzen. Der deutsche Historiker Wolfgang Niess, der auch ein Buch zum Thema verfasst hat, erinnert im SZ-Interview daran, "dass die Beseitigung der angeblich 'jüdisch und marxistisch verseuchten' Republik keineswegs nur das Projekt Hitlers war. Er war im Getriebe des geplanten Umsturzes nur ein relativ kleines Rädchen. Der entscheidende Kopf war Gustav von Kahr, der schon 1920/21 als Ministerpräsident die Vorstellung hatte, Bayern müsse zur 'Ordnungszelle' Deutschlands werden. Kahr war Monarchist, glühender Antisemit und entschiedener Gegner der Demokratie." Auch die bayerische Justiz versagte in der Aufarbeitung des Falls, so Niess. Auch mit dem Blick auf den heutigen Antisemitismus der deutschen Gesellschaft, plädiert Niess dafür, sich endlich den historischen Tatsachen zu stellen: "Als Gesellschaft hat uns das 'Führerprinzip' so lange - und möglicherweise bis heute - daran gehindert, den Tatsachen offen ins Auge zu blicken und Konsequenzen zu ziehen. An den Novemberpogromen etwa waren keineswegs nur Schlägertrupps der SA beteiligt, sondern auf die eine oder andere Art und Weise etwa zehn Prozent der Deutschen. Wir sollten aufhören, uns hinter Hitler zu verstecken - in Sachen "Hitlerputsch" und im Hinblick auf Antisemitismus. Den gab es hierzulande vor Hitler und auch nach ihm. Inzwischen zeigt er sich wieder ganz offen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.11.2023 - Geschichte

Faschismus braucht Wegbereiter aus der gesellschaftlichen Mitte, wie auch die jüngsten Ereignisse zeigen. Der Historiker Michael Brenner erinnert in der FAZ daran, dass der 9. November 1938 nicht ohne die Vorgeschichte in den zwanziger Jahren möglich gewesen wäre: "In Bayern setzte bereits 1920 die konservative Regierung auf die antisemitische Karte, teilweise genährt aus Ressentiments gegen die mit Beteiligung prominenter jüdischer Akteure durchgeführte Revolution von 1918 und die Räterepubliken vom Frühjahr 1919. Der neue Ministerpräsident Gustav von Kahr spielte mit dem Gedanken, osteuropäische Juden auszuweisen, die Gerichte ließen die Gewalt von rechts oft ungesühnt, und die Münchner Polizei war fest in der Hand von Hitlers Gesinnungsgenossen, allen voran der Polizeipräsident Ernst Pöhner, der 1923 mit Hitler zur Feldherrenhalle marschieren sollte. Auch die katholische Kirche spielte in dieser Gemengelage keine rühmliche Rolle."

Preußen ist tot, aber als Untoter doch noch recht präsent in den Debatten, schreibt der Historiker Christoph Markschies auf der "Ereignisse und Gestalten"-Seite der FAZ. Ein Beispiel ist für ihn die Debatte um die Kuppelinschrift an der Berliner Stadtschlossattrappe: Sie sei "im Kern ebenfalls eine öffentliche, auf die Ambivalenzen zugespitzte Debatte über das preußische Erbe. Sie konzentriert sich auf ein weithin sichtbares Zeichen der persönlichen Frömmigkeit dessen, der diese Kuppel in Auftrag gab und bis in Details prägte. König Friedrich Wilhelm IV. war, wie einige seiner Vorgänger, ein recht gut gebildeter Laientheologe, der an das Gottesgnadentum glaubte, aber sich als Monarch von Gottes Gnaden in evangelischer Tradition als Gottes sündiger Knecht fühlte und mit der Kuppel zugleich auch die Demut der Monarchen vor dem göttlichen Thron sichtbar inszenieren wollte. Das verstehen heute aber bestenfalls noch die Fachleute."
Stichwörter: Brenner, Michael

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.11.2023 - Geschichte

Buch in der Debatte

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In seinem neuen Buch "Weltenbrand" plädiert der britische Historiker Richard Overy den Zweiten Weltkrieg in einem größeren Zusammenhang zu betrachten - auch die deutschen Verbrechen (unser Resümee). Im Welt-Interview mit Richard Kämmerlings wehrt er sich zudem gegen den Begriff vom stalinistischen Imperialismus: "Stalin will den Kommunismus überall verbreiten, wohin die Rote Armee auch gelangt." Trotz alledem handele es sich hierbei aber um eine Hegemonialmacht. "Eine Hegemonialmacht, wie bösartig sie auch immer ist, ist etwas anderes als eine Kolonialherrschaft, wie sie etwa Deutschland, Italien und Japan in den Gebieten errichteten, die sie besetzten. Aber ich weiß natürlich, dass gerade Leute in Osteuropa das für eine reine semantische Spitzfindigkeit halten. Aber eben deswegen verwende ich in meinem Buch viel Raum auf die konkrete Herrschaftsausübung der Achsenmächte. Weil sie sofort die Muster kolonialer Verwaltung kopieren, die die 'alten' Kolonialmächte ausübten."

In der Zeit erinnert der Historiker Volker Ullrich an den Hitlerputsch am 8. November vor hundert Jahren, der zwar mit der Verurteilung Hitlers endete, aber: "Wäre es nach Recht und Gesetz gegangen, hätte Hitler für viele Jahre hinter Gitter gemusst. Doch er und seine Mitverschwörer stehen im Frühjahr 1924 am Volksgericht München I vor dem Vorsitzenden Richter Georg Neithardt, der seine Sympathien für die Angeklagten nicht versteckt. Er lässt es zu, dass Hitler sich zum Herrn des Verfahrens aufspielen und das Tribunal als Bühne für seine Propaganda nutzen kann. Am 1. April 1924 wird das Urteil verkündet: Ludendorff wird freigesprochen, Hitler zur Mindeststrafe von fünf Jahren Festungshaft verurteilt, allerdings mit der Aussicht, schon nach sechs Monaten auf Bewährung freizukommen. Unter luxuriösen Haftbedingungen schreibt er das Buch Mein Kampf und bereitet sein politisches Comeback vor."
Stichwörter: Ullrich, Volker, Hitlerputsch

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.10.2023 - Geschichte

Buch in der Debatte

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Der Historiker Richard Overy lässt in seinem Buch "Weltenbrand" die Ära des Zweiten Weltkriegs mit Japans Überfall auf die Mandschurei 1931 beginnen. Harry Nutt unterhält sich in der FR mit ihm und Sönke Neitzel über diesen globalisierenden Blick. Relativiert er auch die deutsche Schuld? Overy antwrotet: "Dabei geht es mir nicht um einen billigen Vergleich, aus dem am Ende hervorgeht, dass die Deutschen vielleicht doch nicht ganz so schlimm waren. Ich denke vielmehr, dass es eines geschärften Blicks für andere Aspekte des Krieges bedarf. Das gilt auch für den Umgang mit der deutschen Schuld, die in vielen anderen Ländern entlastend gewirkt hat. Ich denke, so altmodisch kann man da nicht länger herangehen. Man muss die deutschen Verbrechen analysieren und zugleich in der Lage sein, sie in einem größeren Zusammenhang zu betrachten." Neitzel stimmt ihm zu: "Das Fehlen einer internationalen Perspektive ist einer der Gründe dafür, dass wir uns häufig um unsere eigenen Debatten drehen. Was Richard Overys Buch so wohltuend davon unterscheidet, ist diese sachliche Abgeklärtheit, der analytisch scharfe Blick von oben."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.10.2023 - Geschichte

"Wenn die Vergangenheit ein fremdes Land wäre, würden die Ukrainer nicht für sie kämpfen", schreibt die Archäologin Esther Widmann in der NZZ und blickt auf die Zerstörung von historischen Bauwerken in der Ukraine. Die Vergangenheit ermögliche es nämlich erst, eine Identität für sich zu beanspruchen: "In der Ukraine stammen der Name der Währung, Hrywna, und sogar das Staatswappen, der Dreizack, aus der Kiewer Rus, einem mittelalterlichen Großreich. Das ist keine Nostalgie, sondern eine politische Aussage. Die Kiewer Rus war der erste Staat auf ukrainischem Boden, eigenständig, zu einer Zeit, als Moskau noch ein Dorf war. Die Vergangenheit der Ukraine ist der Beweis ihrer Unabhängigkeit."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.10.2023 - Geschichte

"Die Hamas hat sich offen einer Ideologie des Rassismus und des Genozids verschrieben", sagt der amerikanische Autor Paul Berman im NZZ-Gespräch: "Die Hamas-Idee hat sich einiges abgeschaut von der Nazi-Idee. (…) Die Hamas sind ein Ableger von den Muslimbrüdern in Ägypten. Die Muslimbrüder, die in den 1930er Jahren als islamische fundamentalistische Erneuerungsbewegung entstanden, wurden zu einer Massenbewegung, die eine Reihe von europäischen Ideen aufnahm. Mussolini und Hitler wollten die Gesellschaft 'säubern' und auf ihre Weise das Römische Reich auferstehen lassen. Hassan al-Banna, der Gründer der Muslimbrüder, hatte ähnliche Säuberungsfantasien und wollte seinerseits das islamische Reich des Propheten Mohammed wiedererwecken. (…) Hassan al-Banna bewunderte insbesondere Hitler und förderte im Stil Hitlers einen Todeskult. 'Der Märtyrertod auf dem Pfad Gottes ist unsere größte Hoffnung', war Bannas Slogan. Der größte Theoretiker der Muslimbrüder war dann aber Sayyid Qutb, der zufällig auch ein Gelehrter der englischen Romantik war. Qutb vertiefte die Ideen der Bruderschaft kulturell und psychologisch. Und er brachte all dies in seinem Denken über die Juden zusammen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.10.2023 - Geschichte

Die Historikerin Kristina Milz erinnert in der FAZ an die Gründung der türkischen Republik durch Atatürk vor hundert Jahren, ein durchaus zwiespältiges Ereignis, meint sie, dessen Dimensionen hierzulande kaum bekannt sind. "Der zweifellos tiefste Eingriff in die Gesellschaft kam 1928: Die komplexe osmanische Hochsprache sollte der Vergangenheit angehören, als einzige Amtssprache künftig das Türkische gelten. Mit der Reform, die die Sprache einerseits europäisierte, andererseits türkisierte, durfte nur noch die lateinische Schrift verwendet werden; 'fremder', insbesondere kurdischer Wortschatz wurde verbannt. Die Entscheidung richtete sich nicht nur gegen Minderheiten, sondern war auch als Vorgehen gegen religiöse Traditionen zu deuten, denn die alten Zeichen wurden als Schrift des heiligen Korans interpretiert."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.10.2023 - Geschichte

Im Tagesspiegel blickt der Journalist Konstantin Sakkas auf die 2000 Jahre vor der Gründung Israels zurück. Nach diesen 2000 Jahren in der Diaspora kehrten "die Juden nicht als Glaubensgemeinschaft, sondern als Nation" zurück nach Israel - nach dem der Holocaust ihnen das Leben in Europa unmöglich gemacht hatte. Die Vereinten Nationen wollen das Gebiet, auf dem Israel entstehen soll, in einen jüdischen und arabischen Staat aufteilen, dies "lehnen bis auf König Abdallah I. von Jordanien alle arabischen Regierungen ab, woraufhin es zu Flucht und Vertreibung von palästinensischen Arabern durch jüdische Milizen wie die 'Hagana' kommt, für die sich der mindestens ungenaue arabische Begriff Nakba ('Unglück') eingebürgert hat. (...) Im Mai 1948 verkündet David Ben Gurion im Dizengoff-Museum in Tel Aviv unter dem Bild Theodor Herzls stehend die Gründung des Staates Israel. Sie war kein Projekt westlicher Kolonisatoren - sondern das erfolgreiche Ergebnis einer Dekolonisierung von außen, zu der der Holocaust nur der finale Anstoß war."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.10.2023 - Geschichte

"Wie gelangte der moderne Antisemitismus, der das Denken und Fühlen von heutigen Islamisten prägt, in den arabischen Raum?", fragt Christoph David Piorkowski im Tagesspiegel. Der Politikwissenschaftler Matthias "Küntzel und andere Forscher erklären, dass der Import mit der Zeit des Kolonialismus begann. Journalisten, Botschaftsangehörige und christliche Fundamentalisten hätten den Antisemitismus westlicher Provenienz in den arabischen Raum getragen. 1840 machte der falsche Vorwurf des Ritualmordes an Kindern erstmals im osmanischen Reich die Runde und provozierte eine Reihe von Pogromen. Um die Jahrhundertwende begann die Übersetzung westlich-antisemitischer Pamphlete ins Arabische. Dennoch konnten sich antisemitische Einstellungen als relatives Massenphänomen erst sehr viel später etablieren. Der in Europa und speziell in Deutschland seinerzeit wachsende Antisemitismus wurde etwa in ägyptischen Zeitungen anfangs heftig kritisiert." Dass die Verachtung für Juden in der muslimischen Welt schon etwas älter ist, kann man u.a. hier nachlesen.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.10.2023 - Geschichte

In der NZZ gibt der Historiker Philipp Ammon einen sehr ausführlichen Überblick über die Geschichte des Bergkarabach-Konflikts, der in der Gründung des Staates im vorchristlichen Zeitalter wurzelt und über viele Kriege im Mittelalter führt. In dieser Zeit wurden viele Pogrome an den Armeniern in diesem Gebiet begangen. "Durch ihren Exodus aus Nagorni Karabach sind die Armenier um einen Phantomschmerz und ist ihre Geschichte um eine Tragödie reicher geworden. Er reiht sich ein in die Geschichte der ethnischen Homogenisierungen des 20. Jahrhunderts."

1973 hielt sich die Schweiz mit Stellungnahmen zum Jom-Kippur-Krieg zurück, erinnert der Journalist Peter Bollag in der NZZ. Mit den Öl-Staaten wollte man es sich doch nicht verscherzen. Einer der wenigen "einsamen Rufer in der Wüste" war Friedrich Dürrenmatt, aus dessen damaligen Artikel Bollag zitiert. "'Zwar ist es seit Jahren salonfähig geworden, die Israeli als Faschisten abzutun und die palästinensischen Terroristen als Helden zu betrachten, die aus schierer Verzweiflung so handeln (als ob es keine Lust am Terror gäbe), aber dass sich der neue arabisch-israelische Krieg nicht so recht ins Prokrustesbett der Ideologien spannen lässt, spüren sogar die Ideologen dumpf.' Damals wie heute drohten 'die arabischen Unschuldslämmer den jüdischen Wolf zu verschlingen'."
Stichwörter: Bergkarabach