9punkt - Die Debattenrundschau

Null Koalition

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.04.2024. Vor einem halben Jahr verübte die Hamas ihre Pogrome an israelischen Zivilisten. Die Medien bringen viele pessimistische Einschätzungen der Lage: Gegen Al Qaida oder den Islamischen Staat kämpften noch Bündnisse, Israel steht alleine da, meint Bernard-Henri Lévy im Midi Libre. Israel ist zum Paria-Staat geworden, findet Jonathan Freedland im Guardian. Das "Nie wieder" war nie so gemeint, fürchtet Howard Jacobson in Unherd. Serhij Zhadan hat sich zur Armee gemeldet, sein Übersetzer Juri Durkot erklärt in der Welt, warum. Russen würden nie eine Schuld zugeben, erzählt Viktor Jerofejew in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.04.2024 finden Sie hier

Politik

Der 7. Oktober geschah vor einem halben Jahr. Überall finden sich Reflexionen über Israel und die Reaktionen der Welt, leider selten optimistische. Den eindrücklichsten Essay publiziert vielleicht der britische Autor Howard Jacobson in Unherd: "Ist dies das Ende Israels?" Angesichts der bizarren Verdrehung der Diskurse, in denen nun fast ausschließlich Israel in der Kritik steht, das jedes Maß verloren habe, wie etwa Mathieu von Rohr im Spiegel schreibt, während die Pogrome der Hamas in einem Nebel der Unbenanntheit oder indirekten Rechtfertigung verschwinden, konstatiert Jacobson vor allem Folgendes: "In dem langen schlaflosen Tag und der Nacht nach dem Massaker, in denen Juden verschiedener Nationalitäten und politischer Überzeugungen, orthodoxe und unorthodoxe, versuchten, sich einen Reim auf das Geschehene zu machen, dämmerte die schreckliche Erkenntnis, dass 'Nie wieder' gar nichts bedeutet. Es würde niemals ein 'Nie wieder' geben. Diejenigen, von denen wir annahmen, dass sie unsere Verbündeten sein würden - die Informierten, die Fortschrittlichen, die Liberalen - waren nicht fortschrittlich, wenn es um uns ging."

Für Guardian-Autor Jonathan Friedland ist Israel durch seine Reaktion zum "Paria-Staat" geworden. Auch für die Hamas sei zwar nicht alles nach Plan gelaufen, aber am Ende stehe sie vor der Welt als moralischer Sieger da. Der Tod von sieben Mitgliedern einer Hilfsorganisation habe die Geduld enden lassen. Selbst Amerika drohte mit Aussetzen der Waffenlieferungen. "Die Drohung ist nicht leer: Andere westliche Verbündete haben bereits die Waffenlieferungen eingestellt oder erwägen dies. Diese Regierungen reagieren damit auf eine weltweite Stimmung, die sie nicht länger ignorieren können. Denn es sind nicht die ewigen Kritiker Israels, die das Land anprangern, sondern Israels Freunde."

Jakob Hessing beschreibt in der FAZ den Zweispalt des Machtfanatikers (der sonst an nichts glaube) Benjamin Netanjahu im Angesicht des Hamas-Führers Yahya Sinwar. "Netanjahu muss sich entscheiden: Will er Sinwar wirklich vernichten, dann werden auch alle Geiseln sterben; will er hingegen die Geiseln befreien, dann muss er den Krieg beenden und Sinwar das Feld überlassen. Beides zugleich ist nicht zu haben."

Bernard-Henri Lévy hat gerade ein Buch über "Israels Einsamkeit" publiziert. Auf die Frage eines Interviewers in Midi Libre (hier verlinkt), ob die Reaktion Israels auf die Pogrome nicht maßlos sei, antwortet er: "Maßlos ist vor allem seine Einsamkeit. Denn ich wiederhole es: Als es in Afghanistan darum ging, die Kommando-Strukturen von Al Qaida zu zerbrechen, gab es eine starke internationale Allianz. Um in Mossul den Islamischen Staat zu besiegen, kämpfte eine Menge Verbündeter an der Seite des Iraks. Nun sind wir in Etappe 2 angelangt. Wir haben es mit einer Hamas zu tun, die sich selbst auf einen regelrechten Kern von Verbündeten stützt (Iran, Katar, Türkei, Russland, vielleicht China) und darum noch furchterregender ist als Al Qaida oder der Islamische Staat. Und paradoxerweise ist da nun niemand mehr. Null Koalition. Israel ist allein."

In Deutschland herrscht die übliche moralische Taubheit, was die Geiseln angeht, die der Journalist Joshua Schultheis in der Jüdischen Allgemeinen thematisiert. Viele von ihnen haben die deutsche Staatsangehörigeit: "Informationen über die Entführten werden nur tröpfchenweise preisgegeben. Dies verhindert, dass ein Gesamtbild der deutschen Betroffenheit vom 7. Oktober entsteht, und erschwert die Anteilnahme am Schicksal der Geiseln in der deutschen Öffentlichkeit. ... In den USA sind die 'Gaza Six', die sechs in Geiselhaft verbliebenen Amerikaner, medial präsent. In Deutschland gibt es für die eigenen 'Gaza Ten' - Oder sind es elf? Oder zwölf? - keine vergleichbare Aufmerksamkeit. Dabei rührt ihre Geschichte an den Kern von Deutschlands Selbstverständnis. Viele Vorfahren der hier Genannten wurden von den Nazis entrechtet, ermordet oder aus ihrer Heimat vertrieben."

Aber vielleicht kommt Bewegung in die Sache: "Genau ein halbes Jahr nach dem 7. Oktober haben Israel und die Hamas wieder Gespräche über einen Waffenstillstand aufgenommen. Israel hat Teile der Armee aus Gaza abgezogen", berichtet unter anderem Felix Wellisch in der taz.
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Gesellschaft

Antisemitismus ist kein jüdisches Problem, sondern "eines der westlichen Zivilisation", meint im Interview mit der Welt der schwule kanadische Comedian Daniel-Ryan Spaulding, der offenbar viel einstecken musste für seine Verteidigung Israels. Und er versucht zu erklären, was eine Gruppe wie "Queers for Palestine" antreibt, die keinen Tag unter einer Hamas-Regierung überleben würde: "Viele junge Queers lieben die Opferrolle, dementsprechend auch Opfererzählungen (victimhood culture). In Bezug auf Palästina zielen sie nicht auf Frieden und ein gutes Leben für kommende Generationen ab, sondern halten vielmehr an Kriegen fest, die vor 75 Jahren stattgefunden haben. Das Verharren im Traumazustand, der Opferrolle und die kognitive Dissonanz, dass die Hamas sie töten würde, stören sie dabei nicht. Im Gegenteil, es entsteht eine Verbindung durch den vermeintlichen Opferstatus. Diese ideologische Realität basiert auf der selektiven Umdeutung von Worten und Begriffen. Unsere Gesellschaft kann jedoch nur funktionieren, wenn sie auf der objektiven Realität und gemeinsamen Definitionen beruht."
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Stichwörter: Hamas

Geschichte

Die Türkei war eigentlich immer ein guter Verbündeter Israels und der Juden, erinnert in der NZZ der Historiker Rasim Marz. Das habe sich erst in den letzten Jahren geändert. Zuvor hätten in der arabischen Welt vor allem Christen einen militanten Judenhass gepflegt: "1927 zählte die türkische Republik noch 81.000 jüdische Staatsbürger. Trotz vereinzelten antisemitischen Pogromen wie 1934 in Thrakien wurde die Türkei während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland zu einem wichtigen Exil verfolgter europäischer Juden. Erst staatliche Repressalien ab 1942 und die Gründung Israels 1948 forcierten eine Auswanderung, so dass bis heute nur noch 14.500 Juden im Land verblieben sind. 2011 verfügte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit einem Erlass die Rückgabe konfiszierter Immobilien und Sakralbauten, die in den vierziger Jahren beschlagnahmt worden waren. Der arabische Antisemitismus wurde erst sehr spät in der Türkei durch linke oder islamistische Kräfte adaptiert."

Tobias Rapp führt im Spiegel mit dem Historiker Michael Brenner ein sehr instruktives Gespräch über die Geschichte des Zionismus. Es gibt Elemente des Kolonialismus in der Geschichte Israels, sagt er, aber insgesamt ist der Vorwurf alles andere als zutreffend: "Es gäbe mehr gute Argumente dafür, New York den Native Americans zurückzugeben, als Israel den Arabern. Selbstverständlich waren die frühen Zionisten Kinder ihrer Zeit - das war die Ära der Kolonien. Sie glaubten, dass Europa überlegen sei. Aber sie waren natürlich keine Kolonialisten, wenn man sie mit den britischen, den französischen oder den deutschen Kolonialherren vergleicht. Es wäre ahistorisch zu behaupten, dass sie keine Beziehung zum Land gehabt hätten. Es gibt seit Jahrtausenden kontinuierlich jüdische Gemeinschaften in diesem Land. Das ist ein viel engerer Bezug als ihn die Leute hatten, die auf der 'Mayflower' nach Amerika auswanderten."
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Ideen

FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube kann die Aufregung um die Ausladung Nancy Frasers von der Albertus-Magnus-Professur der Uni Köln (unser Resümee) nicht nachvollziehen - Fraser hatte mit anderen nach den Hamas-Pogromen zu einem Israel-Boykott aufgerufen: "Eine Gastvorlesung ist abgesagt worden, weil an den Begriff des Gastes bestimmte Kriterien gebunden sind. Die Universität zu Köln möchte die Kontrolle darüber behalten, wen sie ehrt. Professoren, die glauben, das müsse vielmehr 'der internationale Diskurs' definieren und aus 'internationaler Anerkennung' entspringe das Recht auf folgenloses Unterschreiben jeglichen Unfugs, sehen sich im Irrtum."

Für taz-Autor Daniel Bax offenbart sich durch die Ausladung aber vor allem eine schlimme Tendenz des Uni-Präsidenten, der es nicht mal ablehnt, mit dem israelischen Botschafter zu sprechen: "Der Anglist Joybrato Mukherjee, der auch Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) ist, vertritt die deutsche Staatsraison sehr engagiert. Im Januar lud er etwa den israelischen Botschafter Ron Prosor, einen rechten Hardliner, zu einem Vortrag an die Universität ein. Proteste versuchte Mukherjee, schon im Vorfeld zu unterbinden."
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Stichwörter: Fraser, Nancy, Hamas

Europa


Serhij Zhadan sollte eigentlich "eine Urkunde für den Nobelpreis in der Hand halten, kein Gewehr", meint der ukrainische Übersetzer Juri Durkot in der Welt, nachdem er erfahren hat, dass sich Zhadan zur Armee gemeldet hat. Zhadan habe lange geglaubt, man müsse dem Westen diesen Krieg erklären, so Durkot, "heute glaubt er das nicht mehr. Oder nicht mehr richtig. Wie kann man denn wirklich glauben, dass Worte wichtig sind, wenn deine Stadt, Charkiw, wieder regelmäßig unter Beschuss steht, und der Westen eher ratlos zuschaut? Wenn die dringend notwendigen Abwehrsysteme gegen russische Raketen in unendlichen, zermürbenden Diskussionen im US-Kongress feststecken? Und dies zu einer Zeit, zu der Russland laut dem ukrainischen Energieexperten und Vorsitzenden des Thinktanks 'Strategie XXI', Mychajlo Hontschar, die 'Aleppo-Taktik' anwendet - die Stadt wird Schritt für Schritt zerbombt, ohne einen Unterschied zwischen ziviler Infrastruktur und militärischen Objekten zu machen. Inzwischen geht man davon aus, dass das städtische Fernwärmenetz nicht mehr wiederherzustellen ist. Steht die Stadt nun auf der 'Todesliste' der russischen Führung, weil sie, vor dem Überfall überwiegend russischsprachig, nicht die Regeln der 'russischen Welt' akzeptieren wollte? Und wie reagiert der Westen darauf?"

In der NZZ versucht Viktor Jerofejew am Beispiel seiner Großmutter zu erklären, warum Russen nie eine Schuld zugeben. Und resümiert: "Vollkommenes Vergessen und kein Schuldgefühl, das ist das Schicksal unserer Landsleute. Wer von ihnen erinnert sich noch an den sowjetisch-finnischen Krieg? Jeder Finne weiß um diesen Krieg, aber bei uns gibt es keinen einzigen Schuldigen. Das Gleiche lässt sich über den Krieg in Afghanistan und über beide Kriege in Tschetschenien sagen. Warum ist das so? Weil dies keine Kriege des Volkes sind. Auch der Krieg gegen die Ukraine ist kein Krieg unseres ganzen Volkes (wie der gegen Nazideutschland). Wie kann das sein, wo doch das Volk darin umkommt? Es ist ein Krieg um großes Geld, wie russisches Roulette, entweder werde ich getötet, oder ich verdiene gutes Geld. Das wirkt verlockend für eine bestimmte Bevölkerungsschicht."

Die taz bringt ein Dossier mit vielen Artikeln zum "Tag der Roma". Die Ausgrenzung hält an, schreibt Nizaqete Bislimi-Hošo, Vorsitzende des Bundes Roma Verbandes, im Leitartikel: "Geschichte braucht die Verantwortungsübernahme in der Gegenwart. Diese suchen wir aber vergeblich. Still war und ist es, wenn es um Abschiebungen geht. Wenn Staaten als sicher erklärt oder neue Verschärfungen eingeführt werden. Die permanente Ausgrenzung produziert permanente Migration. Menschenrechtlich und auch wirtschaftlich ist dies fatal, doch der Wille zur Ignoranz scheint unermesslich."

Dass es einen Porajmos, eine systematische Ermordung von Roma und Sinti durch die Nazis gab, haben die Deutschen noch später registriert als den Holocaust, sagt auch der Autor Gianni Jovanovic im Gespräch mit Ulrich Gutmair von der taz: "In den Bildungsinstitutionen war das bestenfalls eine Randnotiz oder wurde gar nicht erwähnt. Im Bereich der Kultur, in der Musik, im Theater, in der Literatur, aber auch im familiär weitergegeben Wissen wurden auch nach dem Krieg extrem rassistisch konnotierte Bilder überliefert. Sinti und Roma haben darin den Charakter des Antagonisten im Sinne von: Die dürfen wir angreifen, alle anderen nicht, aber die sind so, mit denen darf man das machen."

Zwei Fälle extremer Gewalt an Schulen erschüttern Frankreich - und dann doch wieder nicht, denn die Medien berichten äußerst zurückhaltend. In Montpellier wurde die 13-jährige Samara von einer Mitschülerin und Kumpanen bewusstlos geschlagen - erst im Krankenhaus erwachte sie wieder aus ihrem Koma. Grund: Sie trug kein Kopftuch, schminkte sich (mehr etwa hier in Le Point). In Viry-Châtillon, einer ruhigen Kleinstadt in der südlichen Pariser Banlieue, wurde der 15-jährige Shamseddine von vier oder fünf Mitschülern so brutal zusammengeschlagen, dass er es nicht überlebte. Im Midi Libre werden nun erste Vermutungen über Motive bekannt: "Nach ersten Erkenntnissen der Ermittlungen und den Aussagen der Angeklagten wurde der 15-jährige Shemseddine von einer Gruppe Jugendlicher, zu der auch zwei Brüder gehörten, wegen eines Streits im Zusammenhang mit ihrer 15-jährigen Schwester über 'Themen im Zusammenhang mit  Sexualität' verprügelt, wie Staatsanwalt Grégoire Dulin erläuterte. Laut dem Staatsanwalt, der von BFMTV zitiert wurde, hätten die Geschwister 'um den Ruf ihrer Schwester gefürchtet', während Shamseddine 'damit prahlte, dass er frei mit ihr sprechen könne, da es noch keinen Druck von ihrer Seite gegeben habe'." Mehr im Figaro.
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