9punkt - Die Debattenrundschau

Am Ende beigedreht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.02.2024. Alle sind erleichtert, dass Viktor Orban vor der EU kleinbeigeben musste: die hat hier erfolgreich ihre Stärke demonstriert, meint die FAZ. Orban wurde klar, dass er sonst niemanden hat, freut sich die SZ. Sofi Oksanen prangert die sexualisierte Gewalt der russischen Armee an: bis vor ein paar Jahren wollte ihr auch in Deutschland niemand zuhören, erzählt sie der Zeit. Michail Schischkin erklärt in der Welt, warum man Russland vor Putin retten muss. Die Debatte um Umverteilung wird leider wieder mal von rechts bestimmt, konstatiert Linus Westheuser auf Zeit Online.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.02.2024 finden Sie hier

Europa

Die 50 Milliarden Euro der EU für die Ukraine sind freigegeben - trotz des von Viktor Orban mit viel Brimborium inszenierten Widerstands, freut sich Nikolas Busse in der FAZ: "Dass der Ungar, der gerne weit über seiner Gewichtsklasse kämpft, am Ende beigedreht hat, dürfte an zwei Umständen liegen, die er nicht beeinflussen kann. Zum einen hätten die anderen 26 Mitgliedstaaten durchaus die Möglichkeit gehabt, die Hilfe für die Ukraine außerhalb des regulären EU-Budgets zu organisieren oder auch bilateral. Das wäre komplizierter gewesen, schwächte aber Orbáns Hebel. Außerdem zeigte man ihm kurz vor dem Gipfel ganz offen die Folterinstrumente, als in einem sichtlich gezielt durchgestochenen EU-Dokument darüber nachgedacht wurde, wie die ungarische Wirtschaft unter Druck gesetzt werden könnte."

Hubert Wetzel will in der SZ die Lage der Ukraine nicht beschönigen, aber dass Orban hier klein beigeben musste, ist für ihn auf jeden Fall als Erfolg zu verbuchen: "Der Rest Europas hat dem Möchtegern-Autokraten mit Erfolg gezeigt, wo Schluss ist. Denn am Ende ist es so: Orbán braucht die EU, andernfalls ist er nicht mehr als der korrupte Regierungschef eines wirtschaftlich mittelmäßigen Zehn-Millionen-Einwohner-Ländchens. Wladimir Putin gibt ihm kein Geld, und Donald Trump erzählte neulich, Orbán sei der Anführer der Türkei. Nur wenn Orbán in der EU mitreden und an der EU mitverdienen kann, ist er jemand. Am Donnerstagmorgen stand für ihn beides auf dem Spiel, das Mitspracherecht und das Geld."

Auch taz-Autorin Anastasia Magasowa ist erleichtert: "Trotz interner Spannungen war die EU in der Lage, eine Führungsrolle zu übernehmen. Die Einigkeit und Entschlossenheit der westlichen Länder macht Putin zu schaffen, weshalb er sich immer wieder Partner sucht, die dieses Gleichgewicht stören."

Aus Sicht des Politologen Thorsten Benner sprechen verschiedene Gründe dagegen, das eingefrorene russische Zentralbankvermögen der Ukraine zur Verfügung zu stellen, wie es zum Beispiel die USA fordern. Auch wenn es naheliegend erscheint, legt er auf Zeit Online dar, das Geld für die Verteidigung gegen Russland zu beschlagnahmen, sollte sich die EU dagegen entscheiden, meint Benner. Zum Einen sende es ein Signal der Schwäche: "Wenn Europa schon Anfang 2024 politisch die Puste ausgeht beim Mobilisieren der Finanzmittel, ist das ein fatales Signal." Zum Anderen gebe es rechtlich keine Grundlage für diese Maßnahme: "Der bessere Weg ist, das Vermögen weiter eingefroren zu lassen. Putin kann es schon heute in keinerlei Weise für die Kriegsführung nutzen. Das hat jetzt schon eine abschreckende Wirkung gegenüber möglichen Nachahmern Russlands wie China. Nach Beendigung der Kampfhandlungen in der Ukraine kann das Vermögen dann für Reparationszahlungen an die Ukraine eingesetzt werden."

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Iris Radisch besucht für die Zeit die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen, die in ihrem neuen Essay "Putins Krieg gegen die Frauen", die systematischen, sexualisierten Gewalttaten der russischen Armee in den Blick nimmt. Oksanen warnte schon früh vor den Gefahren des Putin-Regimes, in Deutschland wurde sie deshalb noch vor zehn Jahren als 'Kriegstreiberin' bezeichnet, erzählt sie Radisch. Zu jenem Zeitpunkt über Vergewaltigungen als Kriegwaffe zu schreiben, sei unmöglich gewesen. Das hat sie nun mit ihrem Essay nachgeholt: "Für Sofi Oksanen, die in ihren Romanen seit zwanzig Jahren nach einer Sprache für die vergewaltigten und misshandelten Frauen im sowjetischen Kolonialreich sucht, wiederholt sich im Augenblick die Geschichte, als habe jemand auf die Repeat-Taste gedrückt, so sehr ähnelten sich die Muster der Gewalt gegen die Frauen. Frauenrechte gelten in Russland heute als verwerfliche westliche Importware, die Russlands mythologische Größe bedrohen. Viele russische Frauen, davon berichten abgehörte Telefongespräche aus dem ukrainischen Kriegsgebiet, zeigten sich sogar einverstanden damit, dass ihre Männer ukrainische Frauen vergewaltigen. 'In so einer Welt', schreibt Sofi Oksanen, 'ist es völlig normal, dass ein Soldat die Wohnung einer Ukrainerin betritt, ihren Kleiderschrank durchwühlt und seine Freundin anruft, um sie nach ihrer Körbchengröße zu fragen.'"

Der russisch-schweizerische Schrifsteller Michail Schischkin, der vor Kurzem zusammen mit Fritz Pleitgen das Buch "Frieden oder Krieg? Russland und der Westen - eine Annäherung" (bestellen) veröffentlicht hat, spricht im Welt-Interview mit Wojciech Szot über sein Verhältnis zu Russland und darüber, warum man die russische Kultur vor Putin retten muss: "Russen, Russland, russische Kultur - das sind Begriffe, die neu gedacht, neu definiert werden müssen. Man muss bedenken, dass es im Russischen zwei Begriffe gibt: 'Rossijanie' und 'Russkie' (etwa: Russländer und Russen) - Als ob es zwei Nationen gäbe. Sie sprechen dieselbe Sprache, leben im selben Land,  haben aber eine völlig unterschiedliche Mentalität. ...In Russland leben die Menschen in dem Glauben, dass sie eine Insel sind, umgeben von einem Ozean von Kannibalen. Alle sind gegen uns und einzig der Zar kann uns retten. Im Westen hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die Verantwortung für den Wandel bei den Menschen liegt. Ein Jeder hat Einfluss auf die Entwicklung. Aber dann muss sich jeder auch den Fragen stellen: Was ist gut? Was ist böse? Und wenn mein Land auf dem falschen Weg ist, habe ich das Recht und sogar die Pflicht, dagegen zu protestieren."

In Deutschland wird eine Partei gegründet, die sich an die türkische Diaspora wendet, die nun dank doppelter Staatsbürgerschaften all ihre Loyalitäten voll ausleben kann. "Dava" heißt die Partei - bei der Europawahl, wo es keine Fünfprozenthürde gibt, hat sie durchaus Chancen. Ihr Name ist ein Wortspiel und bezieht sich auf das arabische Wort "Da'wa", was soviel heißt wie "Ruf zum Islam". Ali Ertan Toprak, Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland, warnt im Gespräch mit Lotte Laloire von der taz: "Ich würde die Dava-Partei als eine türkische AfD bezeichnen. Und genauso müssen wir sie auch behandeln. Ihre Ideologie ist antidemokratisch, sie hassen Israel und beschwören einen neuen Kulturkampf. Das wird die gesellschaftliche Spaltung mit vorantreiben. Sie versucht, Muslime vom Westen zu entfremden. Diese Partei ist eindeutig ein deutscher Ableger der AKP."
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Ideen

Beide Seiten im Nahostkrieg müssen am Ende lernen, "dass auch das andere Volk zum Land gehört", insistiert der Historiker Dan Diner in einem ziemlich komplizierten, aber am Ende optimistischen Essay für die FAZ. Er lotet die verschiedenen Modelle der Legitimität für Israel aus. Die aus dem Holocaust erwachsende und die biblische Legitimität verwirft er, weil die Araber sie nicht anerkennen könnten. Bliebe die auf "Natalität" beruhende Variante, dass also, wenn man recht versteht, die Israelis da und mit dem Land verbunden sind. Nach dem 7. Oktober scheine es zwar nicht sehr plausibel, dass die Araber die Israelis von sich aus anerkennen, aber "letztendlich könnte es sich herausstellen, dass mit der Erlösung der israelischen Geiseln und den Maßnahmen zu einer einvernehmlichen Beendigung des Gazakrieges wie einer Behebung von Not und Elend der dort darbenden Menschen institutionelle Keime einer zukünftigen Entwicklung gesetzt werden könnten, in der palästinensische, arabische, internationale und israelische Instanzen derart zusammenwirken, dass auch dort und daraus ein erwünschter Neubeginn erwachsen könnte. Alles andere hieße, weiter mit dem Sieb Wasser zu schöpfen."
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Religion

Neueste Untersuchungen zuigen, dass es in der Evangelischen Kirche Deutschlands, die übrigens nur zögerlich kooperierte, auch nicht so viel weniger sexuellen Missbrauch gegeben hat als in der katholischen. Für den in der FAZ schreibenden Religionssoziologen Detlef Pollack durchaus ein überraschendes Ergebnis, "denn die Strukturen der beiden Kirchen sind grundverschieden. Die evangelische Kirche ist demokratisch verfasst. Fast alle Leitungsämter, von der Bischöfin bis zum Präses der Synoden, werden demokratisch gewählt, die Hierarchien sind flach, weithin herrscht ein kollegiales Verhältnis zwischen den Hauptamtlichen vor, man versteht sich als Gemeinschaft, seit 1972 haben Frauen Zugang zu allen geistlichen Ämtern. Das ist bekanntlich in der katholischen Kirche mit ihrer männlich dominierten klerikalen Machthierarchie anders. Die gängige Behauptung, der Missbrauch sei ein Ausdruck der klerikalen Machthierarchie in der katholischen Kirche, muss also überdacht werden."
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Geschichte

Die Ukraine "erlebt gerade ihre zweite Wiedergeburt" als Nationalstaat, schreibt Ulrich M. Schmid in der NZZ und gibt einen historischen Überblick über drei verschiedene Nationalstaatsmodelle, das deutsche, französische und italienische, die die Ukraine im Laufe ihrer Geschichte durchlief: "In Galizien gab es bereits 2013 eine überwältigende Mehrheit, die sich zur ukrainischen Nation bekannt hat. Im Zeitraum zwischen 2013 und 2015 stieg auch die Zahl der Befragten, die sich in der Zentral- und Ostukraine als 'Ukrainer' bezeichneten, deutlich an. Der Grund dafür liegt in der patriotischen Reaktion auf die doppelte russische Aggression in der Krim und in der Ostukraine im Jahr 2014. Der offene Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat das ukrainische Nationalprojekt auch in der Ostukraine weiter gestärkt. In diesem Sinne ist Putin der wichtigste Geburtshelfer einer ukrainischen Nationsbildung, die mit einem 'deutschen' Sammeln der Länder begann, sich in einer 'französischen' kulturellen Homogenisierung fortsetzte und in einer 'italienischen' Ost- und Südexpansion abgeschlossen wurde."
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Gesellschaft

Der Soziologe Linus Westheuser, der mit Steffen Mau und Thomas Lux die Studie "Triggerpunkte - Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft" (bestellen) verfasst hat, spricht im Zeit Online-Interview mit Robert Pausch darüber, dass die Debatte über die Schere zwischen Arm und Reich von rechts bestimmt wird. Das zeige sich beispielsweise im Streit um die Erhöhung des Bürgergeldes: "Im Hintergrund steht eine historische Schwäche von Gewerkschaften und linken Parteien. Beide Arten von Organisationen sind ja dafür da, denjenigen Machtressourcen an die Hand zu geben, die nicht über ein hohes Erbe oder ein florierendes Unternehmen verfügen. Sozialdemokratische Umverteilungspolitik galt lange als 'demokratischer Klassenkampf', als ein Ausbalancieren der Ungleichheit, die dem Kapitalismus innewohnt. Und Gewerkschaften gibt es, weil auch im Betrieb über Verteilungsfragen verhandelt wird, etwa das Verhältnis von Löhnen und Profiten. Wenn beide Institutionen heute geschwächt sind, gehen für viele Menschen Erfahrungen der Handlungsfähigkeit verloren. Gerade in einer solchen Situation der Demobilisierung werden diese Debatten zunehmend von einer moralisierten Konkurrenz zwischen Lohnabhängigen dominiert. Menschen, die das Gefühl haben, ihre Leistung würde nicht honoriert, grenzen sich dann eher nach unten ab, von denen, die es vermeintlich leichter haben als man selbst."
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