9punkt - Die Debattenrundschau

Die Linie Machiavelli-Spinoza-Marx

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.12.2023. Die Ukraine steht kurz davor, den Krieg zu verlieren, und der Westen ist schuld daran, ruft in der Welt ein verzweifelter Garri Kasparow. In der NZZ erklärt die Psychologin Anna Schor-Tschudnowskaja das Konzept des "Homo postsovieticus". Masha Gessen hat am Wochenende den Hannah-Arendt-Preis erhalten. Eine politische Diskussion fand während der umstrittenen Preisverleihung nicht statt, berichtet die taz. Und: taz, FAZ und SZ würdigen den verstorbenen Philosophen Antonio Negri als temperamentvollen Vertreter einer undogmatischen Linken.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.12.2023 finden Sie hier

Europa

In der Welt weist uns der russische Oppositionelle Garri Kasparow verzweifelt auf die dramatische Situation im Ukraine-Krieg hin: "Die Ukraine steht kurz davor, den Krieg zu verlieren, und der Westen ist schuld daran. Die Ukraine ist willens und in der Lage, Russland und seinen kriegsverbrecherischen Diktator Wladimir Putin zu besiegen, aber sie kann es nicht allein tun." In 19 Punkten listet Kasparow Gründe auf, weshalb die Ukraine vom Westen nicht fallengelassen werden sollte. Zusätzlich Unterstützung sei notwendig, Putin rücke nämlich nicht von seinen Kriegszielen ab. "Nachdem sie zwei Jahre lang zugesehen haben, wie Putin in der Ukraine einen Völkermord begeht, wissen die westlichen Staats- und Regierungschefs genau, was Putin will: die Ukraine zerstören. Er sagt es sogar immer wieder, so auch auf seiner Pressekonferenz am 14. Dezember. Seine Ziele haben sich nicht geändert, es bringt also nichts, ihn mit einer ukrainischen Kapitulation besänftigen zu wollen. Putins Lächeln spottete über die politische Ohnmacht der freien Welt. Russland hat seine gesamte Wirtschaft auf Krieg ausgerichtet, und Putin braucht ständige Konflikte, um seine Herrschaft zu rechtfertigen. Er kann nicht ignoriert werden. Er muss besiegt werden."
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Stichwörter: Ukraine-Krieg

Ideen

Masha Gessen hat ihre Dankesrede für den Hannah-Arendt-Preis aus aktuellem Anlass umgeschrieben, berichtet Benno Schirrmeister in der taz. Es ging nun darum, "dass es falsch ist, den Vergleich von Äpfeln und Birnen (im amerikanischen Original natürlich Orangen) zu verbieten, weil nur so die Erkenntnis von Unterschieden möglich sei. ... Und auch darüber, warum sie es für notwendig gehalten hatte, in einem Essay im New Yorker Magazine am 9. Dezember die Lage im Gaza-Streifen mit der in den Zwangsghettos ausdrücklich gleichzusetzen." So richtig überzeugt hat sie Schirrmeister nicht: "Wahr ist: Um die Wesensgleichheit von Zwangsgetto und Palästinensergebieten zu behaupten, muss alles, was sie ausmacht - die extreme Enge, die Funktion, Vorposten der Vernichtung zu sein, und auf der anderen Seite die Raketenangriffe aus Gaza -, zu Nebensächlichkeiten erklärt werden. Das tut Gessen, offenbar um den Mangel ihres Arguments zu überspielen, beim Festvortrag mithilfe eines Herrenwitzes. ... Und als am Ende der Veranstaltung Arendt-Preisrichter Klaus Wolschner, Ex-taz-Redakteur, darauf drängt, doch auch etwas zur Rolle der Hamas zu sagen, reagiert Gessen unwillig. Und ebenso wollen Teile des Publikums lieber glauben, schon die Wahrheit zu wissen. Politische Diskussion findet nicht statt."

In der NZZ erklärt die Wiener Russlandexpertin Anna Schor-Tschudnowskaja den Begriff des "Homo postsovieticus", den der russische Soziologe Lew Gudkow in Anlehnung an Soziologen Juri Lewada entwickelt hat und auf die aktuelle russische Gesellschaft bezieht. "Gudkow attestiert diesem neuen Menschen noch mehr Zynismus als dem im utopischen Rausch sozialisierten Homo sovieticus... Individuelles Überleben und Fortkommen ist dann nur möglich, wenn man nicht einfach ein Opportunist ist, sondern grundsätzlich an keine standfesten Werte und wahren Überzeugungen glaubt. Menschen sind in ihrem Handeln gezwungen, sich an die repressive Herrschaftssituation anzupassen und die Vorstellung von individueller normativer Integrität und wertebasierter Autonomie fallenzulassen; öffentliches Handeln kann dann gänzlich dem privaten widersprechen, die Idee einer Verantwortungsethik ist in diesem Falle nicht möglich. "

In der taz würdigt Andreas Fanizadeh in einem Nachruf den italienischen Philosophen Antonio Negri als temperamentvollen Vertreter einer undogmatischen Linken: "Mitunter konnten seine Auftritte dabei eine durchaus dramatische Wendung bekommen. Es war 2004, als Toni Negri am Schauspielhaus Zürich auf einer Veranstaltung sprach, die ich moderierte. Teile der Autonomen-Szene aus dem Umfeld der Roten Fabrik warfen uns 'Ausverkauf' vor. Wir saßen tatsächlich vor ausverkauftem Saal auf der Bühne im Schiffbau des Schauspielhauses. Negri - ein Leben lang dem Gedanken nach einem autonomen Leben in Menschenwürde, sozialer Gerechtigkeit, Egalität und Freiheit verpflichtet - brachten die eindimensionalen Polemiken gegen ihn zur Weißglut. Die hinter Masken verborgenen anonymen Zwischenrufer schienen auf ihn herausfordernd und darin anregend zu wirken. Sofort verließ er seine Vortragsroutine. Jetzt ging es um etwas. Und Negri hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. ... einmal in Rage geredet, war der Philosoph ein Ereignis. Dann war Negri schlicht furios, wusste, wie er den Saal einfing, war witzig, scharf, eine authentische und integre Persönlichkeit. Er schien in völliger existenzieller Übereinstimmung mit dem zu sein, was er sagte und einforderte."

In der FAZ erklärt Christian Geyer: "In seinem 1982 bei Wagenbach auch auf deutsch publizierten Gefängniswerk spannt Negri die Linie Machiavelli-Spinoza-Marx. Als ein 'armes Doktorlein' wolle er zu den revolutionären Möglichkeiten der nicht-idealistischen Vernunft 'einen wahren Meister' befragen, so der Autor als einer den Ton setzenden Vorkämpfer des im industriellen Norditalien gegen ausbeuterische Verhältnisse der Fabrikarbeit gerichteten 'Operaismo'. Die Bestreikung von Automobilfabriken, dieser operative, immer weitere Branchen erfassende Protest, geschah im Zeichen des von Negri so genannten gesellschaftlichen Arbeiters. Der rabiaten, subversiv entgrenzten, jedenfalls nicht staatskommunistisch oder gewerkschaftlich gezähmten neomarxistischen Bewegung ging es um die biopolitisch geöffnete Subjektivität der Arbeiter von den Wohnverhältnissen bis zur Krankenpflege." In der SZ schreibt Willi Winkler den Nachruf auf Negri und erinnert sich an einen Philosophen, "der das Glück hatte, Ideologe und auch noch Träumer, Kommunist und trotzdem Romantiker zu sein".

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Politik

Im FR-Interview mit Michael Hesse nimmt die Yale-Professorin Seyla Benhabib ihre Kolleginnen Nancy Fraser und Judith Butler nach deren Veröffentlichung der 'Philosophy for Palestine' (unsere Resümees), in der die Auflösung des "ethno-suprematistischen" Staates Israel gefordert wurde, vor dem Vorwurf des Antisemitismus in Schutz. "Beide sind liebe Kolleginnen und beide sind Jüdinnen. Es ist vollkommen unsinnig, ihnen Antisemitismus vorzuwerfen." Der Text sei lediglich "unvorsichtig formuliert, zweitens fehlt es an historischer Nuance, und drittens enthält er unbegründete Behauptungen." Mit der postkolonialen Kritik sollte man sich allerdings zumindest auseinandersetzen: "Ich versuche, die postkoloniale Kritik ernst zu nehmen, ohne jedoch diese vereinfachende Geschichtsinterpretation zu akzeptieren. In dieser Hinsicht unterscheidet sich meine Position etwas von der meiner geschätzten Kollegin Susan Neiman... Es gibt Ansätze darin, die ernst genommen werden müssen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass man dem Relativismus oder Kontextualismus folgen sollte."
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Geschichte

Das deutsch-tschechische Verhältnis lag nach dem Zweiten Weltkrieg am Boden, erinnert die deutsch-tschechische Publizistin Alena Wagnerová in der NZZ. Nach dem Zweiten Weltkrieg standen sich die beiden Nationen, bedingt durch die Gräuel des Krieges und gegenseitige Vertreibung, unversöhnlich gegenüber. "Die Zeit der Versöhnung nach 1989 aber hat diese Wunde geheilt. Heute überrascht die Freundlichkeit und Herzlichkeit, mit der sich Sudetendeutsche und Tschechen begegnen. Ihre seit 1938 real existierende Trennung zu überwinden, war eine Arbeit von fünfzig Jahren. (...). Zum Wendepunkt wurde das Jahr 1997, in dem Ministerpräsident Václav Klaus und Bundeskanzler Helmut Kohl die deutsch-tschechische Erklärung unterzeichneten, in der endlich klipp und klar das Wesentliche stand... Im selben Jahr wurde der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds gegründet, ein wegweisendes Projekt für den Aufbau freundschaftlicher Beziehungen."
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Medien

In der FAZ kritisiert Michael Hanfeld scharf das neue Mediengesetz der EU. Verleger würden damit ebenso übergangen wie der Presserat und die Bundesländer, denen in Deutschland die Aufsicht über die Presse oblag. Künftig haben "EU-Bürokraten" das Sagen, so Hanfeld: "Insbesondere Verleger werden entrechtet, heißt es im Medienfreiheitsgesetz doch, Journalisten sollten vollkommen unabhängig in ihrer Arbeit sein. Auch das zielt erkennbar auf Ungarn oder Polen, treffen aber wird es alle. Und wie wir die EU kennen, lässt sie ihre Muskeln nur dort spielen, wo die rechtsstaatlichen Verhältnisse in Ordnung sind. Viktor Orbán, da gehen wir jede Wette ein, wird sich bei seiner Zerstörung der EU von innen nicht beirren lassen und keinen Deut um das Gesetz scheren. Und die EU, die nicht in der Lage ist, Orbáns Unterstützung für Putins Vernichtungskrieg in der Ukraine zu konterkarieren, wird nichts tun." Immerhin soll aber auch Regierungswerbung in Medien kontrolliert werden - die deutsche Praxist ist da bisher eher intransparent.
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