9punkt - Die Debattenrundschau

Neun karge Zeilen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.09.2023. Im Tagesspiegel ruft Tatsiana Khomich, Schwester der seit Monaten in Belarus inhaftierten ukrainischen Oppositionellen Maria Kolesnikowa, die EU-Staaten zum Handeln auf. In der FAS fordert die Historikerin Christina Morina, endlich die Demokratiegeschichte der DDR anzuerkennen. Die SZ fragt, wie stark die Sinologie von China beeinflusst ist. Und in der FAZ fühlt sich der Politologe Peter Graf Kielmansegg ganz ohnmächtig angesichts der Dominanz der Grünen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.09.2023 finden Sie hier

Europa

Der Musikjournalist Axel Brüggemann interviewt im Tagesspiegel Tatsiana Khomich, Schwester der ukrainischen Musikerin und Oppositionellen Maria Kolesnikowa. Bereits im August berichteten die Medien, dass es seit Monaten kein Lebenszeichen mehr von ihr (wie von vielen anderen politischen Gefangenen in Belarus, unser Resümee) mehr gibt. Diese Qual hat sich für die Familie bis heute nicht geändert, sagt Khomich: "Leider hat die Kommunikation mit Maria im Februar 2023 aufgehört. Was wir von anonymen Quellen aus den Gefängnissen hören, scheint sie in einer Strafzelle zu sein. Wahrscheinlich allein. Es hat sie inzwischen lange niemand mehr gesehen. Das bedeutet, dass sie wohl seit sieben Monaten in Einzelhaft sitzt... Der Staat erklärt, Maria wolle nicht mit uns reden und auch keinen Rechtsanwalt mehr sehen." Khomich ruft die EU-Staaten zum Handeln auf: "Wir brauchen Verhandlungen auf diplomatischer Ebene. Wir können nicht warten, bis sich die Situation zwischen Russland und der Ukraine entspannt."

In der taz schildert Florian Bayer die aktuelle Situation in Bergkarabach, das von Aserbaidschan zunehmend isoliert wird. Unabhängige Beobachter dürfen nicht ins Land und: "'Aserbaidschan blockiert das Internet und Strom, wir wissen nicht was vor Ort passiert, ob es Säuberungsoperationen gibt oder andere Aktivitäten. Auf jeden Fall ist der Kontakt abgebrochen und die Menschen fürchten um ihr Leben', sagt Stefan Meister, Politikwissenschaftler an der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). (…) Unterdessen besteht weiterhin große Sorge vor gewaltsamer Vertreibung bis hin zu Massenmorden an der Lokalbevölkerung. Die Führung Aserbaidschans macht kaum einen Hehl aus ihren revanchistischen Motiven, bezeichnete Armenier als 'Parasiten' und 'Ungeziefer'. Das ist auch der Tenor in den Massenmedien des Landes sowie in den sozialen Netzwerken."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Das verbreitete Gefühl politischer Ohnmacht liegt für den Politologen Peter Graf Kielmansegg in der FAZ daran, "dass Minderheiten, denen man sich nicht zugehörig fühlt, die Politik in einem irritierenden Maße dominieren". Diese Minderheit sind die Grünen, die nicht nur in der Bundesregierung, sondern auch in elf von sechzehn Landesregierungen vertreten sind und die laut Kielmansegg vor allem Migrations- und Sprachpolitik bestimmen: "Die Grünen haben eine Position im Parteiensystem, die ihnen besonderen Einfluss sichert. Und: Sie repräsentieren dank ihrer Doppelagenda ein intellektuelles und soziales Milieu, das sich in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen eine hegemoniale Stellung aufgebaut hat; ein Milieu, das seinem Selbstverständnis nach als progressive Vorhut der Gesellschaft den Weg zu weisen hat. Die öffentlich-rechtlichen Medien, durch eine Art von Steuer sicher und auskömmlich finanziert, sind eine Kernzone dieses Milieus. In den Hochschulen, vor allem den Hochschulleitungen, ist das Milieu dominant, überhaupt in kulturellen Einrichtungen aller Art. Auch die evangelische Kirche ist mit einer starken Fraktion hier zu nennen. Es handelt sich ausnahmslos um Institutionen, um Akteure mit weiten öffentlichen Resonanzräumen. Man sieht sie und man hört sie."

Recht umstritten scheint in der Ampelkoalition das von Grünen und SPD vorangetriebene Projekt eines Demokratiefördergesetzes zu sein, berichtet Jochen Buchsteiner in der FAS. Intendiert ist hier eine Art eine Art Verbeamtung der "Zivilgesellschaft". Wortführer von NGOS wie die "Neuen deutschen Medienmacher" fordern seit langem, dass ihre Arbeit vom Druck häufiger Evaluieurng befreit und die Subvention auf Dauer gestellt wird. Buchsteiner nennt etwa die Initiatvie "Claim", die Intoleranz gegen Muslime bekämpft und immerhin mit 550.000 Euro im Jahr subventioniert wird: "Projekte wie dieses setzen aus Sicht von Kritikern einen Pingpong-Mechanismus in Gang. Man kann sich vorstellen, wie viele 'Fälle antimuslimischen Rassismus' - manche sprechen von 'Hassverbrechen' - dereinst 'dokumentiert' sein werden, wenn schon ein Hidschab-Verbot darunter fällt, das für Lehrerinnen in manchen Bundesländern und Arbeiterinnen bestimmter Berufssparten gilt. Erhöhte Fallzahlen wiederum würden den Eindruck verstärken, dass die Islamophobie bedenklich wächst, was dann in weiterer Unterstützung für entsprechende NGO resultieren könnte."

In der NZZ hatten die Sinologen Thomas Heberer und Helwig Schmidt-Glintzer, die als führende Kapazitäten gelten, einen ausgesprochen China-freundlichen Text veröffentlicht, der sie in den Verdacht rückte, offizielle Formulierungen der kommunistischen Partei, zum Beispiel in Bezug auf die Uiguren, kommentarlos zu übernehmen (unser Resümee). Der Text ist in den sozialen Medien und auch in Medien empört kommentiert worden. Kai Strittmatter, ehemaliger China-Korrespondent der SZ,  stellt sich nun die Frage, wie stark die Sinologie von China beinflusst wird. "Ein Punkt, auf den sich Heberer und Schmidt-Glintzer in ihrem Stück berufen ist die zuletzt beobachtete Auflösung vieler Umerziehungslager. Die haben auch Xinjiang-Forscher gemeldet - und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass viele der Entlassenen gleich weitergereicht wurden in Gefängnisse oder Zwangsarbeit. 'Wahrscheinlich Hunderttausende sind noch immer in Gefangenschaft, deren Leben sind zerstört', sagt Xinjiang-Forscher Björn Alpermann. 'Und dann davon zu sprechen, wie die beiden Kollegen das tun, jetzt wäre die Phase der Verrechtlichung angebrochen, ist absolut zynisch.'"
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

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Die DDR war "nicht nur eine Diktaturgeschichte", behauptet die Historikerin Christina Morina, deren Buch "Tausend Aufbrüche - Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren" diese Woche erscheint, auf den "Leben"-Seiten der FAS im Gespräch mit Stefan Locke: "Der Demokratiebegriff hat in der DDR nicht nur eine rein propagandistische Rolle gespielt, sondern er war eine wirkmächtige Formel. Dahinter steckte ein Anspruch, der durchaus vergleichbar war mit dem Demokratieanspruch in der Bundesrepublik, nämlich aus dem Nationalsozialismus Lehren zu ziehen und eine bessere, eben demokratische Ordnung aufzubauen. Die Breite der ostdeutschen Gesellschaft, über die viel zu wenig gesprochen wird, hat diesen Anspruch geteilt und auf vielfältige Weise versucht, ihm gerecht zu werden. Diese weitere gesellschaftliche Perspektive auf Revolution und Einheit fehlt bislang. Wir verstehen die Geschichte aber besser, wenn wir anerkennen, dass es nicht nur eine westdeutsche Demokratiegeschichte gab, zu der die Ostdeutschen 1990 unvermittelt dazukamen."

Die Schweiz pflegte bis zur Revolution 1917 ein gutes Verhältnis zu Russland. Russische Aristokraten kamen auf Kur ins Land, Revolutionäre wie Lenin planten hier ihre nächsten Schritte. Diese Idylle zerbrach, schreibt Urs Hafner in der NZZ, als die Schweiz, auf Druck anderer westlicher Staaten hin, selber russische Diplomaten ausweisen muss. Der sowjetische Vertreter des Roten Kreuzes, Sergei Bagozki, ist "für einige Jahre der einzige Repräsentant der Sowjetunion, der im Ausland geduldet wird." Somit gilt er für eine lange Zeit als einzige Interessenvertretung der Russen in Europa - und wurde gleichzeitig von den Behörden verdächtigt und denunziert. "Die Anschuldigungen sind abstrus. Die Gazette de Lausanne berichtet, er wolle das Bundeshaus in die Luft sprengen. (...) Der italienische Botschafter behauptet, Bagozki installiere im Auftrag Moskaus eine Sowjetregierung." Außerdem: Sepp Mall, auch NZZ, erinnert an das Schicksal der Süd-Tiroler Bevölkerung, als diese sich 1939 zwischen NS-Deutschland und dem faschistischen Italien entscheiden musste.
Archiv: Geschichte

Kulturpolitik

In der Welt (und in seinem Blog) ist Thomas Schmid jetzt schon bedient von den Plänen für das "Deutsch-Polnische Haus", das im Tiergarten entstehen soll. Die Planer haben sich nämlich für ein Informations- und Bildungszentrum entschieden, von einem Denkmal ist kaum noch die Rede: "Wie unwichtig das 'Erinnerungszeichen' ist, lässt sich schon daran erkennen, dass ihm in Roths Eckpunktepapier gerade einmal neun karge Zeilen gewidmet sind. Fast als ginge es darum, ein neu eröffnetes Einkaufszentrum ein wenig künstlerisch aufzuhübschen, heißt es in schlampiger Sprache, das Erinnerungszeichen solle 'ein markantes künstlerisches Element (!) in Verbindung mit dem Gebäude oder in der landschaftlichen Gestaltung des Umfeldes des Deutsch-Polnischen Hauses sein'. (…) Man entwertet eine Gedenkstätte, wenn man sie zum Appendix einer großen Belehrungsaktion macht. Die Verantwortlichen des 'Deutsch-Polnischen Hauses' haben das Pferd vom falschen Ende her aufgezäumt. Sie bewiesen Größe, wenn sie noch einmal gründlich neu nachdächten."
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Deutsch-Polnisches Haus