9punkt - Die Debattenrundschau

Europa endet dort, wo die Demokratie endet

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.09.2023. "Nicht nur der Ukraine rennt die Zeit davon. Es ist Europa, das freie Europa, das den Krieg zu verlieren droht", schreibt Navid Kermani in einem düsteren Zeit-Essay zur Lage im Krieg gegen die Ukraine. In Zeit und FAZ reagieren Hamed Abdel-Samad und Susanne Schröter auf Constantin Schreibers Ankündigung, nichts mehr über den Islam sagen zu wollen. In der NZZ fragt SaÏda Keller-Messahli, warum die Linke in Frankreich die Idee des Laizismus aufgegeben hat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.09.2023 finden Sie hier

Europa

Drei sehr wichtige Interventionen zum Krieg finden sich heute in der Zeit.

Navid Kermani zieht in einem Zeit-Essay eine düstere Bilanz des jetzigen Kriegsstands: "Nicht nur der Ukraine rennt die Zeit davon. Es ist Europa, das freie Europa, das den Krieg zu verlieren droht." Die ukrainische Offensive steckt fest, Putin kann auf Zeit spielen, hofft auf einen Wahlsieg Trumps in Amerika, der wahrscheinlicher wird, und die immer stärkere radikale Rechte in Europa (das Desinteresse der dezidierteren Linken und ihre objektive Komplizenschaft mit der Rechten erwähnt er nicht). Der Westen steht vor Putin wie das Kaninchen vor der Schlange und weigert sich, die Ukraine in den Stand zu setzen, den Krieg zu gewinnen. Der "bestmögliche Friede" sähe für Kermani so aus: "Am plausibelsten erscheint mir noch das Szenario eines 'Einfrierens' des Krieges, ohne dass die Ukraine den Anspruch auf ihre territoriale Integrität aufgäbe oder die internationale Gemeinschaft die besetzten Gebiete anerkennen würde. Zweifellos müsste eine solche Waffenruhe mit belastbaren Sicherheitsgarantien des Westens für den freien Teil der Ukraine einhergehen, vergleichbar denen für Israel, oder, sicherer noch, mit der Aufnahme in die Nato und die EU. Und warum sollten britische und französische Soldaten nicht in Kiew stationiert sein, falls Russlands Armee in Donezk und Sewastopol verbleibt? " Allerdings zweifelt Kermani selbst an seinem Szenario und bricht seinen Artikel sozusagen ab: "Nein, ich weiß nicht, was konkret die Alternative wäre zu dem Krieg, der auf dem Schlachtfeld offenbar nicht entschieden werden wird."

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"Europa endet dort, wo die Demokratie endet. Die Ukraine braucht eine feste Grenze, die sich militärisch verteidigen lässt, um in die Nato zu können und dann als Frontstaat zu dienen, wie im Kalten Krieg die Bundesrepublik", sagt die Historikerin Mary Elise Sarotte, die in ihrem Buch "Nicht einen Schritt weiter", die Geschichte der Nato-Erweitung nach 1990 untersucht hat, im Gespräch mit Elisabeth von Thadden von der Zeit. Zwar hätte es mildere Alternativen für eine neue Sicherheitsarchitektur gegeben, meint sie, aber "wer die Schuld einfach bei der Nato sucht, wird bei mir nicht fündig. Mich interessiert das Zusammenspiel zwischen den Regierungen in Ost und West, dessen Dynamik zum heutigen Krieg geführt hat. Ich halte die Osterweiterung der Nato für richtig. Denn die Osteuropäer, die sich aus der Sowjetherrschaft freigekämpft hatten, hatten das Recht der freien Bündniswahl; Moskau hat dem zugestimmt, Gorbatschow hat es bestätigt. Und doch sah dieser demokratische Aufbruch der Osteuropäer für Moskau aus wie der Zusammenbruch seines Imperiums."

Putin kann an einem Frieden nicht interessiert sein, schreibt - ebenfalls in der Zeit - Michael Thumann: Putin stehe eher für eine Verabsolutierung des Krieges - nicht nur weil sein eigenes Überleben davon abhängt: "Mehr als eine Million Menschen haben das Land verlassen, darunter Tausende IT-Techniker; die Geburtenrate fällt, die Sterberate steigt dramatisch. Das alles würde für eine katastrophale Bilanz von Putins Herrschaft reichen. Aber sein Krieg rechtfertigt jeden Verlust. Und er begründet damit die furchtbaren Repressionen, mit denen er seit einem Jahr seine Herrschaft absichert. Die knapp 20.000 Verhaftungen von russischen Bürgern, die gegen den Krieg sind und damit angeblich 'die Streitkräfte der Russischen Föderation verunglimpft' hätten. Die drakonischen Freiheitsstrafen für unliebsame Meinungsäußerungen. Die hochgerüsteten Polizeitrupps an jeder Straßenecke in den Großstädten. Muss alles sein, schließlich herrscht Krieg."

Das Modell "Putins als Landesvater mit plebiszitärer Legitimität", der hohe Funktionäre vor Publikum abkanzelt wie Schuljungen und dafür die Liebe des Volks gewinnt, funktioniert nicht mehr, konstatiert Reinhard Veser in der FAZ: "Putins Macht stützte sich immer stärker auf Repression, und zwar sowohl gegenüber der Bevölkerung als auch gegenüber den Eliten. Seit den ersten Tagen des Einmarsches in die Ukraine hat sich dieser Prozess rasant beschleunigt. Putins Vorgehen wird auch im Inneren immer gewaltsamer." Veser zieht daraus den Schluss, dass die Präsidentenwahl im Frühjahr 2024 deshalb zum Problem für Putin werden könnte.

Außerdem: Im Windschatten des Ukraine-Krieges schaltet Aserbaidschan Bergkarabach gleich. Putin hat Armenien und damit die armenische Minderheit in Aserbaidschan offenbar fallen gelassen, der Westen hängt von Gas aus dem Land ab. Lisa Schneider kommentiert in der taz. Hier und hier die Berichte zur Lage. In der FAZ berichtet Friedrich Schmidt.
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Gesellschaft

In der letzten Zeit hatte Constantin Schreiber annonciert, nach Attacken auf ihn nichts mehr über den Islam sagen zu wollen (unser Resümee). Die Zeit hat einige mit dem Thema Islam befasste AutorInnen um Reaktionen gebeten. Hamed Abdel-Samad schreibt: "Wie oft habe auch ich erwogen zu schweigen. Auf offener Straße werde ich trotz Polizeischutz angegriffen. Am meisten bedrücken mich aber Rufmordkampagnen durch vermeintliche Liberale, die mich und andere Kritiker des Islamismus als Rassisten brandmarken. Dazu kommen falscher Beifall von rechts und fehlende Solidarität von links. Spitzenpolitiker versichern uns hinter verschlossenen Türen, wie wichtig wir sind für die Debatte. Aber wenn wir diffamiert oder attackiert werden, lassen sie uns im Stich."

Die Ethnologin Susanne Schröter schreibt sowohl in der Zeit, als auch in der FAZ zum Thema, dort ausführlicher: "Ungehindert verbreiten radikale Organisationen wie 'Muslim interaktiv' oder die im Rhein-Main-Gebiet beheimatete Gruppe 'Realität Islam' in sozialen Medien Videos, in denen Islamismuskritiker als Feinde des Islam dargestellt werden. Welche Konsequenzen dies haben kann, wissen wir seit der Fatwa gegen Salman Rushdie, der in diesem Jahr schwer verletzt einen Anschlag überlebte, sowie der Ermordung der Mitarbeiter von Charlie Hebdo und des Lehrers Samuel Paty." Bei t-online.de schreibt Ahmad Mansour.

Der Rechtsextremismusforscher Oliver Decker hat eine Ursache für das Erstarken der AfD gefunden: Es ist die Wirtschaft, Dummkopf. Im Gespräch mit Caspar Shaller von der taz erläutert er seine These. "Es gibt die sogenannte Deprivationsthese: Wenn Leute Abstiegsängste haben, dass sie nächstes Jahr weniger zur Verfügung haben, dann steigt in der Regel auch die Zustimmung zu antidemokratischen Ansichten. Dieser Befund gilt eigentlich in allen untersuchten Ländern. In Deutschland ist es aber nicht die befürchtete eigene Deprivation, die zum Fremdeln mit der Demokratie führt, sondern die nationale. Wenn die Befürchtung verbreitet ist, dass es 'uns' als Nation ökonomisch schlechter geht, dann steigt die Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen." Die Wirtschaft sei in Deutschland zur Ersatzreligion geworden. Auch dass die AfD in den Neuen Ländern besonders stark ist, kann er erklären: "Es gibt kaum tarifliche Bindung, selten Betriebsräte. In Sachsen war es seit 1989 eine Strategie der Politik, faktisch ein innerdeutsches Niedriglohnland zu etablieren."

Die Abaya, eine Art Überkleid, gilt als "modest fashion", also ein Kleidungsstück, das Frauen zum Beispiel in Saudi-Arabien immer im öffentlichen Raum tragen müssen, um "anständig" zu sein. Jetzt wurde auf der Grundlage des 2004 verabschiedeten Gesetzes über das Verbot von religiösen Symbolen an französischen Schulen für das Schuljahr 2023/2024 ein Verbot der Abaya beschlossen. Ein Teil der Linken brandmarkt dies als "Islamophobie", schreibt Saida Keller-Messahli, Präsidentin eines Schweizer "Forums für einen fortschrittlichen Islam", in der NZZ. "Laizität ist in den Augen dieser Linken ein überholtes Konzept, das die angeblich strukturelle 'Islamophobie' und den Rassismus des Staates verschleiern soll. Vertreter dieser Richtung verkennen jedoch hartnäckig, dass Teenager, die provokativ mit ihrer religiösen Zugehörigkeit in der Schule spielen, sehr oft von islamistischen Organisationen oder Personen aus ihrem Umfeld instrumentalisiert werden."

In einem Gastbeitrag gewährt Hartmut Dorgerloh im Tagesspiegel einen Ausblick auf seine zweite Amtszeit als Generalintendant des Humboldt Forums. Die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte sei weiterhin sehr wichtig, das Forum sollte aber internationaler denken. "So berichten uns etwa Menschen vom Pazifik-Atoll Tuvalu, dass der durch uns im globalen Norden maßgeblich verursachte steigende Meeresspiegel ihre Lebensgrundlage alsbald für immer zu vernichten droht. Es muss also auch für uns mehr um das Zuhören gehen - weit über die hiesigen Debattenräume hinaus. Denn wir sollten nicht schon wieder zu wissen glauben, was woanders gebraucht wird. Mit dem für 2026 vorgesehenen Schwerpunktthema 'Erbe und Eigentum' wollen wir in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut und seinen weltweiten Netzwerken genau dies: Zuhören. Zuhören, um sich anderen Fragen zu öffnen." Außerdem soll "die Realisierung, respektive Weiterentwicklung des kulturellen Nutzungskonzepts Humboldt Forum als 'Ort der demokratischen, weltoffenen Debatte'" weiter voran getrieben und dadurch mehr Besucher angezogen werden.Mit dem für 2026 vorgesehenen Schwerpunktthema "Erbe und Eigentum" wollen wir in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut und seinen weltweiten Netzwerken genau dies: Zuhören. Zuhören, um sich anderen Fragen zu öffnen,
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Geschichte

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Christopher Clark legt eine große Studie zur "europäischen" Revolution von 1848 vor. Sie sei nicht so restlos gescheitert wie oft behauptet. Die Ironie sei, dass gerade Konservative nach dem Ende der Revolutionen ihre Ideen vollstreckten: "Die Konservativen blockieren die Revolution, können sie aber nicht rückgängig machen. Bismarck hat zeit seines Lebens anerkannt, dass er ein Mann von 1848 war. Er hat immer gesagt: In der Zeit vor 1848 wäre meine politische Laufbahn nicht möglich gewesen. Er hatte weder die Beziehungen noch das Sitzfleisch, um durch die Ränge des Beamtentums zum Minister aufzusteigen. Das Jahr 1848 hat die Welt aufgerissen. Bismarck kletterte durch diesen Riss und wurde zu dem, was er dann war".

Wie exemplarisch man auf einem Historikertag versagen kann, offenbarte für Patrick Bahners die Eröffnungsrede Frank-Walter Steinmeiers. Es ist ja schön und gut, dass es gegen die AfD geht, aber funktioniert das ohne Nachdenken über den eigenen Anteil an Geschichte? "'Der 24. Februar 2022 hat viele Gewissheiten der letzten Jahrzehnte hinweggefegt.' Unpersönlicher hätte der Rückblick des Präsidenten auf den Außenminister nicht ausfallen können. Im Inkognito des Staatsnotars, der wo immer möglich das Passiv verwendet, ersparte sich Steinmeier jede Andeutung einer Reflexion darüber, dass er selbst ein Handelnder gewesen war, dessen nach ihrer Widerlegung als Gewissheiten ausgegebene Maximen lange vor 2022 Kritik erfahren hatten." In der SZ berichtet Joachim Käppner über den Historikertag.

Außerdem: Was heute der "Globale Süden" ist, war früher die "Dritte Welt", die sich zum Teil in den "Blockfreien" zusammenschloss. Der Historiker Jonas Kreienbaum erinnert in der taz an deren Ruf nach einer "Neuen Weltwirtschaftsordnung" in den 1970er Jahren.
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Wissenschaft

Karin Truscheit informiert in der FAZ über die faszinierenden Erscheinungsformen des Fuchsbandwurms, der sich immer weiter ausbreitet. Beim Menschen kann der Parasit zum Tumor anwachsen und, da er meist nicht erkannt wird, zum Tode führen: Im Menschen "nimmt der Fuchsbandwurm eine andere Form an. Es ist eben kein Wurm, der sich durch die Leber schlängelt wie der Fadenwurm im Gehirn einer Australierin, deren Fall vor Kurzem bekannt wurde. Der Fuchsbandwurm sei das einzige bekannte Tier auf der Welt, das in der Lage sei, sich von einer 'tierischen Erscheinungsform', also einer Larve, 'umzuwandeln in tumorös wachsendes Gewebe', erklärt Klaus Brehm, Professor für medizinische Parasitologie an der Universität Würzburg. 'Es ist entwicklungsbiologisch ein einzigartiges Phänomen.' Dabei bleibt es ein fremdes Lebewesen, das sich im Körper eines Menschen immer mehr ausbreitet." Die Erkrankung bleibt aber selten.
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Stichwörter: Fuchsbandwurm, Würzburg