9punkt - Die Debattenrundschau

Die Gefahr für Putins System

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.06.2023. Das Erstaunlichste an Jewgeni Prigoschins bizarrem Wochenend-Abenteuer, war die Reaktion der Menschen in Russland, findet Atlantic-Autorin Anne Applebaum: Die Apathie, die Putin seinem Volk eingetrichtert hatte, galt am Ende auch ihm selbst. Samantha de Bendern schlägt im Observer vor, die Ereignisse als "Fehde zwischen kriminellen Banden" zu deuten. Prigoschin selbst sollte zunächst darauf achten, dass er nicht "etwas äußerst Unverträgliches isst", rät die FAZ. In der taz zeigt der Jurist Maximilian Steinbeis, wie leicht sich Verfassungsorgane manipulieren ließen, wenn Rechtspopulisten die Mehrheit hätten. Eine Gruppe von Wissenschaftlern hofft in Zeit online, dass Künstliche Intelligenz schafft, was natürliche nicht zustande brachte: eine Alternative zum Kapitalismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.06.2023 finden Sie hier

Europa

Ein Kriegsverbrecher und seine Leute marschierten auf Moskau, um das Regime eines noch größeren Kriegsverbrechers zu beenden, CNN und BBC berichteten live, aber in Russland und speziell in Rostow-am-Don schien es niemand weiter zu scheren, staunt Atlantic-Autorin Anne Applebaum: "Die Leute schüttelten ihnen die Hände, brachten ihnen Essen, machten Selfies." Die Apathie, die Putin seinem Volk eingetrichtert hatte, um in Ruhe seine Verbrechen begehen zu können, galt am Ende auch ihm selbst: "Die Propaganda in Putins Russland dient zum Teil diesem Zweck. Die ständige Produktion absurder, widersprüchlicher Erklärungen und lächerlicher Lügen... bringt viele Menschen dazu zu glauben, dass es überhaupt keine Wahrheit gibt. Das Ergebnis ist ein weit verbreiteter Zynismus. Wenn man nicht weiß, was wahr ist, kann man schließlich auch nichts dagegen tun. Protest ist sinnlos. Engagement ist nutzlos."

Im Observer fühlt sich die Osteuropaexpertin Samantha de Bendern beim Blick auf Russland wie Churchill, der einst sagte: "Russland ist ein Rätsel, umgeben von einem Mysterium, das in einem Geheimnis steckt." Ihr Vorschlag: Um die Ereignisse der letzten Tage ansatzweise zu verstehen, sollte man sie "durch das Prisma einer Fehde zwischen kriminellen Banden betrachten, in der jeder Mafiaboss so viel Einfluss auf den anderen hat, dass das Gleichgewicht der Macht leicht in beide Richtungen kippen kann. Die Tatsache, dass Prigoschin noch am Leben ist, deutet darauf hin, dass das, was er gegen Putin in der Hand hat, so schädlich ist und von unsichtbaren Verbündeten so gut geschützt wird, dass es für Putin sicherer ist, ihn am Leben zu lassen - vorerst." Wie auch immer der Kampf zwischen Putin und Prigoschin ausgeht, eins steht für Bendern fest: "So oder so wird die Ukraine noch mehr westliche Unterstützung benötigen, da Russland am Rande des Chaos und der absoluten Diktatur schwankt."

Putins nützliche Idioten im Westen, die stets betonten, "dass Russland nicht besiegt werden kann - und dass die Ukraine mit Putin verhandeln sollte - werden vorerst verstummen", sagt Gedeon Rachman in der Financial Times an. "Und zugleich werden Putins internationale Befürworter es sich zweimal überlegen und nun aktiv über Post-Putin-Szenarien für Russland nachdenken."

"Das Schlamassel aber wird nur noch größer", meint Inna Hartwich in der taz. "Die Angst vor dem Oberbefehlshaber könnte weichen, es könnten sich Gruppierungen formieren, die mehr Gewicht in der Gesellschaft haben, als es Prigoschin, trotz aller Sympathien für sein brutales Vorgehen, je hatte. Die Gefahr für Putins System ist durch fragwürdige Abmachungen nicht gebannt."

Jewgeni Prigoschin mag ein fadenscheiniges Abkommen mit Wladimir Putin geschlossen haben, aber er muss aufpassen, dass er in den nächsten Monaten nicht "etwas äußerst Unverträgliches isst oder trinkt", rät Reinhard Veser in der FAZ. "Auch für seine Weggefährten und tatsächliche oder mutmaßliche Sympathisanten brechen gefährliche Zeiten an. Aber die Schwäche, die am Wochenende für alle Welt sichtbar wurde, kann Putin mit solchen Methoden nicht aus der Welt schaffen."

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In Thüringen hat zum ersten Mal in Deutschland ein AfD-Mann eine Landratswahl gewonnen. Der Jurist Maximilian Steinbeis, Gründer des Verfassungsblogs, hat wegen dieser Tendenzen ein "Projekt Thüringen" gegründet. Damit will er herausfinden, wo die Stellschrauben wären, mit denen eine rechtspopulistische Regierung auf Landes-, aber auch auf Bundesebene, das Funktionieren der Demokratie dauerhaft in ihre Richtung manipulieren könnte. Man braucht gar keine Zweidrittelmehrheit, um die Verfassung zu gefährden, erklärt Steinbeis im Gespräch mit Gareth Joswig von der taz, man kann auch einfach an der Besetzung des Bundesverfassungsgerichts arbeiten, "weil zum Beispiel ganz viele technische Details zum Bundesverfassungsgericht in einem einfachen Bundesgesetz geregelt sind, das man mit einfacher Mehrheit ändern kann. Zum Beispiel lässt sich die Zweidrittelmehrheit, die im Moment für die Wahl von Verfassungsrichter*innen in Bundestag und Bundesrat nötig ist, mit einfacher Mehrheit im Bundestag abschaffen. Und ebenso kann man einen zusätzlichen dritten Senat in Karlsruhe einrichten und die Zuständigkeitsbereiche im Verfassungsgericht so ändern, dass die politisch heißen Sachen im dritten Senat landen. Wenn man diesen dann zur Hälfte mit loyalen Gefolgsleuten besetzt, hat man vom Bundesverfassungsgericht kaum mehr etwas zu befürchten." Besonders im Justizapparat - etwa auch bei der Besetzung von Richterposten - kann auch auf Landesebene manipuliert werden, so Steinbeis.
Archiv: Europa

Internet

Künstliche Intelligenz kann nicht denken, darum ist sie auch nicht intelligent, meint der emeritierte Germanistikprofessor Lutz Götze in der NZZ. Intelligent sind aber die Produzenten von KI und da wird ihm ungemütlich: "Die große Gefahr der Moderne besteht nun darin, dass Individuen in ihrem Größenwahn allen Ernstes glauben oder zumindest hoffen, mit der weiteren Entwicklung der 'generellen künstlichen Intelligenz' das menschliche Gehirn einzuholen oder gar zu übertreffen. Sie ahnen, gelegentlich, bei immer neuen Rückschlägen, dass sie das nie werden schaffen können. Also versuchen sie, den Menschen der Maschine anzupassen, genauer: mit der Maschine den Menschen zu dominieren. Nicht umgekehrt, wie bislang gemeinhin üblich. Die Maschine soll das Leben des Menschen bestimmen, ihn steuern. Dabei geben die Protagonisten vor, dass auf diese Weise das Alltagsleben erleichtert werde, mithin der Mensch von, in der Tat, lästigen Pflichten befreit werde: Saubermachen, Pflegedienst, Kommunikationsverbindungen. Das Reich der Notwendigkeit sei vorüber, jenes der Freiheit beginne. In Wahrheit wird der Mensch auf diese Weise abhängig gemacht, genauer: entmündigt."

Sehr viel weniger pessimistisch sind einige Wirtschaftswissenschaftler, berichten Houssam Hamade und Christoph Sorg in einem sehr ausführlichen Artikel in der Zeit. Ihre Hoffnung: KI könnte helfen, endlich eine Alternative für den Kapitalismus zu schaffen. Das nennt sich dann "smarte Planwirtschaft". Zu den Anhängern dieser Theorie gehören etwa Paul Adler, Professor für Management and Organization an der University of Southern California und die kanadischen Autoren Leigh Phillips und Michal Rozworski, die in ihrem Buch "People's Republic of Walmart" erklären, warum gerade hyperkapitalistische Riesenkonzerne wie Amazon und Walmart auf geplantes Wirtschaften setzen. "Der frühkapitalistische Wettbewerb zwischen kleinen Familienunternehmen, den der Begründer der Nationalökonomie Adam Smith einst beschrieb, ist mittlerweile einer Dominanz global agierender Konzerne gewichen. Diese nutzen modernste Technologien, um Arbeitsprozesse, transnationale Lieferketten und Ressourcenverbrauch präzise zu steuern. Nicht Angebot und Nachfrage, sondern die Planung des Managements herrschen innerhalb dieser riesigen Institutionen. Der Ökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger Herbert Simon formulierte es einmal sinngemäß so: Stellen wir uns vor, ein Wesen vom Mars hätte ein Teleskop, das soziale Strukturen offenbart, und würde damit auf die Erde schauen. Stellen wir uns weiter vor, dass dieses Wesen Unternehmen als große grüne Flächen und Märkte als rote Striche zwischen den konkurrierenden Unternehmen sehen würde. Dieses Wesen, so Simon, wäre sicherlich überrascht, dass wir dieses mehrheitlich grüne, von dünnen roten Linien verbundene System Marktwirtschaft und nicht Organisationswirtschaft nennen."

Weiteres: Ebenfalls in der Zeit ist Jakob von Lindern wenig beeindruckt von den Warnungen führender KI-Hersteller wie OpenAIs Sam Altman: Am Ende dient selbst das nur dem Lobbying, meint er. Und in der SZ prophezeit Michael Moorstedt das "Ende des Endes" mit dem Einzug der KI in die Kunst, wenn jeder Film, jedes Buch, jedes Kunstwerk mit KI immer weiter geschrieben werden kann: "Nach beinahe zwanzig Jahren kontinuierlichen Medienkonsums wirkt ein Abbrechen des Content-Streams in den Nutzerhirnen wie der ultimative Affront. Bewegt man sich in dieser Deutungswelt, stellt ein Bilderrahmen oder ein abgeschlossenes Narrativ nicht mehr als den Egoismus des Schöpfers dar. Ein abgeschlossenes Werk wird in dieser Wahrnehmung zu einer willkürlichen Zugangsverweigerung für das Publikum. Dass Kunstwerke selbstauferlegten Grenzen unterliegen, dass Geschichten ein Finale haben müssen, um überhaupt von Belang zu sein, lässt diese Menschen fassungslos zurück."
Archiv: Internet

Gesellschaft

Maram Stern, Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses, nimmt auf der "Gegenwart"-Seite der FAZ Stellung zu den jüngsten deutschen  Debatten um Israel und Antisemitismus - von der Mbembe-Debatte bis zur Documenta. Er beobachtet, dass die gegnerischen Lager eigentlich gar nicht mehr miteinander, sondern nur noch übereinander diskutieren, hofft aber, "diese Diskussionen zwar in der Sache hart, aber im Ton moderat und vor allem ohne Diskreditierung des Gegenübers zu führen". Und unterstreicht seine Liberalität: "Ich halte auch nichts davon, den Lebenslauf jedes Teilnehmers einer Podiumsveranstaltung daraufhin zu durchforsten, ob sie oder er sich irgendwann einmal positiv zu BDS geäußert hat. Und selbstverständlich wäre es absurd, wenn eine deutsche Universität keine Gastvorlesung von der amerikanischen Philosophin Judith Butler organisieren dürfte, nur weil sie BDS immer noch unterstützt. Eine Antisemitin ist sie dessen ungeachtet bestimmt nicht. Antisemiten aber darf natürlich kein Podium geboten werden. Und weil BDS mindestens eine gefährliche Nähe zum Antisemitismus aufweist, sollte man zumindest genau hinsehen, bevor man einen Unterstützer dieser Bewegung einlädt." Auch die verschiedenen Lager innerhalb Israels brauchen Verständigung, schreibt unterdessen Christian Gampert, der die israelischen Demos gegen die aktuelle Regierung des Landes beobachtet, im Feuilleton der FAZ.

Edo Reents findet die Forderung nach einem sozialen Pflichtjahr für Jugendliche im FAZ-Feuilletonaufmacher fadenscheinig: "Statt der Jugend offen zu sagen, dass man sie zur Entlastung der Staatsausgaben für Verteidigung und Pflege ganz gut gebrauchen kann, sie also einfach nur nützlich ist, will man den jungen Leuten weismachen, sie würden erst zu richtigen, verantwortungsbewussten Menschen und fänden eigentlich erst dann einen Sinn im Leben, wenn sie anderen Leuten für wenig Geld die Nase putzen."

Mutiert das Fahrrad zum veganen Würstchen des Verkehrswesens? So schien es zumindest FAZ-Autor Jannik Müller, der auf der Frankfurter Fahrradmesse "Eurobike" beobachtete, dass immer mehr aufgeplusterte Fahrräder aussehen wie "Reminiszenzen an das motorisierte Fahrzeug": "Ein 'Heritage-Bike' ist der Optik eines Oldtimer-Motorradgespanns nachempfunden, der Hersteller verspricht, 'keine Kompromisse bei Stil, Qualität und Ergonomik' gemacht zu haben. Kostenpunkt: knapp 10.000 Euro. Das Premiummodell einer österreichischen Holzräder-Manufaktur ist der 'MyEsel eSUV'. Einer der Angestellten leitet sich den Begriff anhand der Tatsache her, dass das Velo ein reines Stadtfahrrad sei."
Archiv: Gesellschaft