9punkt - Die Debattenrundschau

Warum verhaften Sie mich?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.04.2023. In der taz spricht Victor Martinowitsch über die Isolation und Einsamkeit der Oppositionellen in Belarus. Sylvain Prudhomme zürnt in der SZ gegen Brillanz und Hochmut Emmanuel Macrons. Statt eines TikTok-Verbots fordert die NYTimes eine Regulierung aller invasiven Apps. In der NZZ ahnt Literaturwissenschaftler Manfred Schneider, warum sich Journalisten so für Chat-GPT begeistern. In der FAZ plädiert seine Bayreuther Kollegin Tina Hartmann für die Abschaffung der Frau und des binären Abendlandes.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.04.2023 finden Sie hier

Europa

Ein zutiefst pessimistischer Victor Martinowitsch blickt im taz-Interview mit Jens Uthoff auf die Situation in Belarus, in dem die wenigen noch nicht verhafteten Oppositionellen in Einsamkeit und Isolation versinken. Doch einmal blitzt auch der Humor des Schriftstellers in ihm auf: "Neulich stand ich an einer Straßenkreuzung, neben mir eine Frau in blauer Uniform mit der Aufschrift 'Investigative Committee'. Eine Beamtin der Untersuchungsbehörden also, ich wusste, es könnte ernst werden. Ich überquerte die Straße mit wackligen Knien, sie hinter mir. Irgendwann überholte sie mich und sagte: 'Hallo. Folgen Sie mir.' Sie sagte es in diesem offiziellen Ton. Ich bin ihr also gefolgt und dachte, ich wäre verhaftet worden. Nach zweihundert Metern Fußmarsch fragte ich sie: 'Warum verhaften Sie mich?' Und sie sagte: 'Bist du Sergei?' - Ich: 'Nein.' - Sie: 'Ich habe auf Sergei gewartet. Warum sind Sie mir gefolgt?' Sie ließ mich also gehen. Ich habe einfach getan, was sie gesagt hat, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Diese absurde Szene erzählt wohl sehr viel über die heutige Zeit in Belarus."

Ob Frankreich eine Zeitbombe sei, die sich die Präsidenten weiterreichen, bis sie explodiert? Die SZ scheint diese Frage an Sylvain Prudhomme gerichtet zu haben, der Schriftsteller antwortet mit einem Text, der Emmanuel Macron vorwirft, das Land mit seiner Brillanz, seinem Hochmut und seiner Politik für die reichsten gegen sich aufgebracht zu haben: "Unter Macron, mehr noch als unter seinen Vorgängen, hat das Land sich zweigeteilt, durch einen Schnitt, der zu einem Abgrund geworden ist und sich nicht so schnell wieder schließen lassen wird: Auf der einen Seite steht ein selbstbewusstes Frankreich, modern, wettbewerbsfähig, integriert, urban, vernetzt, diplomiert, mobil, polyglott, gewohnt, von Stadtzentrum zu Stadtzentrum zu wechseln, zu reisen, Wochenendtrips zu machen. Auf der anderen Seite, die immer größer werdende Masse derer, die das Gefühl haben, nicht mehr repräsentiert zu sein, nicht mehr verteidigt, gehört, verstanden zu werden."
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Stichwörter: Belarus, Macron, Emmanuel

Internet

Angesichts der dramatischen Waffengewalt an den amerikanischen Schulen, würden Farhad Manjoo in der New York Times wichtigere Dinge zum Schutz amerikanischer Kinder einfallen, aber dass der Kongress jetzt entschlossen auf ein Verbot von TikTok zumarschiert, stößt ihn regelrecht vor den Kopf: "Eine Nichtlösung für ein aufgetürmtes Problem, ein Glücksfall für Big-Tech-Oligopolisten wie Facebook und Google, eine Verletzung der Rechte auf freie Meinungsäußerung von Millionen Amerikanern und ein Schlag für die moralische Autorität Amerikas, Werte wie die freie Meinungsäußerung zu fördern, anders als, sagen wir, die Kommunistische Partei Chinas. Selbst für diejenigen, die sich Sorgen machen über den Einfluss des Unternehmens, ist ein allein auf TikTok zielendes Verbot unnötig, da es einen viel besseren Weg gibt, diese und andere soziale Apps zu regulieren: Strenge Gesetze zum Schutz der digitalen Privatsphäre aller Amerikaner vor invasiven Apps, die überall hergestellt werden, nicht nur in China."

Nur kurz wundert sich der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider in der NZZ über die naive Begeisterung, mit der so viele Journalisten auf die  Erzeugnisse der Künstlichen Intelligenz reagieren: "Bedenkt man den Charakter dieser Chatbots, die nichts anderes tun, als den vorhandenen Reichtum und Müll menschlicher Kunst und Kommunikation auf Kommando umzuschreiben, dann ist die Reaktion vieler Journalisten in den letzten Monaten auch wieder nicht überraschend. Denn die Texte, die aus den Chatbots kommen und das kindliche Vergnügen auslösen, entsprechen in ihrer Erwartbarkeit vollkommen dem Konformismus, der längst die Arbeit der Journalisten in allen Medien charakterisiert. Was ihnen der Chatbot zu lesen gibt, könnte von ihnen selbst geschrieben sein."

Nur der Mainstream hält den Bitcoin für die Utopie von gestern oder für einen Fall der Glücksspielaufsicht: Im Welt-Interview offenbart sich Ijoma Mangold als ein zum Finanzwesen bekehrter Feuilletonist. Er hat in Bitcoin investiert und promotet die Gegenfinanz, auch mit seinem Buch "Die orange Pille", mit derartiger Verve, dass man es für Satire halten könnte: "Als die Mehrheitsgesellschaft bemerkte, dass das Phänomen nicht verschwindet, kamen Wellen der Feindseligkeit auf - und der Versuch, Bitcoin zu diskreditieren, als Geld für Kriminelle, Geld des Drogenhandels oder Geld mit einem enormen CO 2Fußabdruck. Diese Stigmatisierung schweißt so eine junge, minoritäre Gemeinschaft natürlich zusammen - ähnlich dem Frühchristentum, das eine verfolgt e Minderheit im Römischen Reich darstellte."
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Politik

Der westliche Rückzug aus dem Nahen Osten stößt diesen immer tiefer in den Abgrund. Es profitieren Russland und Peking, das sogar eine Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien zuwege brachte, notiert Richard Herzinger in einer Perlentaucher-Intervention: "Im Zuge dieser Annäherung der Diktaturen steht auch das massenmörderische Assad-Regime in Syrien vor seiner internationalen Rehabilitierung. Oman und die Vereinigten Arabischen Emirate haben sich bereits offen für seine Wiederaufnahme in die Arabische Liga ausgesprochen. Dies stellt einen Triumph für Russland dar, das für Assads Machterhalt große Teile Syriens in Schutt und Asche gebombt hat - in kriegerischer Allianz mit dem Iran, der jetzt seinerseits den russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine mit Waffenlieferungen unterstützt."
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Gesellschaft

Mit der Binarität kam nicht nur die Herrschaft des Menschen über den Menschen qua Geschlecht, sondern auch Antijudaismus, Kolonialismus, Rassismus, Islamophobie und Antisemitismus, wie in der FAZ die Bayreuther Literaturwissenschaftlerin Tina Hartmann bei einem Galopp durch die Welt- und Kulturgeschichte herausfindet. Da hilft nur als radikale Kehrtwende  - die Abschaffung der Frau: "Tatsächlich skandalös ist, dass wir statt über Unterdrückung qua Geschlecht schon wieder über die Kategorie Frau diskutieren. Alt- und Neufrauen sollten sich stattdessen dringend damit auseinandersetzen, dass der überwiegende Teil weiblicher Identität männergemacht ist. 'Frau' ist ein misogyner Begriff. Den Rückweg ins nonbinäre Paradies verstellt fast die gesamte Kulturgeschichte. Uns bleibt nur der steinige Weg nach vorn. Die gute Nachricht ist, auch wir stehen in einer starken Tradition - der nonbinären Aufklärung, deren Geschichte freilich noch zu schreiben ist. Transbewegungen kannte sie noch nicht. Sie könnten einen entscheidenden Beitrag leisten, wenn es ihnen gelänge, statt 'Frau' zu diskutieren, einen gesellschaftlichen Raum des Nonbinären zu etablieren. Wenn das dazu führte, dass der binäre Teil des Abendlandes untergeht, wäre das unsere größte soziale Chance."

Ebenfalls in der FAZ kann Nina Rehfeld nur hoffen, das sich die Schüler in den USA irgendwie aus dem Schraubstock befreien können, in den sie von beiden Seiten im amerikanischen Kulturkampf gepresst werden. Während das woke Lager vor allem daran arbeitet, missliebige Bücher aus dem Verkehr zu ziehen, setzt das recht Lager auf Bevormundung im Schulunterricht, wie der Fall der Lehrerin zeigt, die gehen musste, weil sie ihren Schüler Michelangelos nackten David zutraute: "Selbstverständlich zeige man den Schülern die Kunst der Renaissance, sagte der Leiter des Schulrats, Barney Bishop, in Interviews. Aber die Eltern müssten darüber informiert werden, damit sie entscheiden könnten, ob das für ihre Kinder angebracht sei. Die Rechte von Eltern stünden über den Rechten der Kinder, und es sei hanebüchen, zu unterstellen, dass Lehrer die Autoritäten seien, wenn es um den Unterricht geht. Den Eltern die Entscheidung über die Bildung ihrer Kinder allein zu überlassen und das Lehrpersonal zu Erfüllungsgehilfen zu degradieren ist ein Prinzip im konservativen Kulturkampf an amerikanischen Bildungseinrichtungen. Und es ist eine Vernebelungstaktik. Tatsächlich geht es darum, unangenehme Themen, etwa die Geschichte des Rassismus in Amerika, aber auch Sexualität, auszuklammern oder streng zu reglementieren."

In der SZ berichtet Ronen Steinke von der Klage eines Vaters gegen ein Gymnasium, das seine Kinder durch das Gendern indoktriniere. Das Gericht stellte allerdings fest, dass sich die alle beteiligten Lehrpersonen strikt an die Vorgaben hielten, Gendersterne in Klassenarbeiten als Fehler zu bewerten. Für Steinke die eigentliche Form des "Sprachzwangs".
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