Intervention

Der Schleier des Schweigens

Von Richard Herzinger
31.03.2023. In die Lücke, die der westliche Rückzug im Nahen Osten hinterlässt, stoßen die autoritären Mächte Russland und China. Peking ist es jüngst gelungen, die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den bislang tödlich verfeindeten Rivalen Saudi-Arabien und Iran zu vermitteln. Putin als Inbild eines skrupellosen Machtmenschen genießt auch bei sunnitischen arabischen Herrschern wie dem saudischen Kronprinzen Mohammad bin-Salman hohes Ansehen. Tour d'horizon durch einen sich immer weiter verdüsternden Nahen Osten nach dem Désengagement des Westens.
Seit dem Rückzug der USA und ihrer westlichen Verbündeten aus dem Irak und Afghanistan schwingt im Nahen Osten das Pendel zurück: von den Ansätzen zu einer Demokratisierung der Region zur neuerlichen Verfestigung autoritärer Herrschaftssysteme.

Insbesondere die fluchtartige Preisgabe Afghanistans hat dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit des Westens in der Region einen weiteren schweren Schlag versetzt. Die freiheitlichen Errungenschaften der afghanische Zivilgesellschaft, die sich in den Jahrzehnten westlichen Engagements am Hindukusch herausgebildet hatte, werden von dem totalitär-islamistischen Taliban-Regime jetzt restlos ausgelöscht. Insbesondere die afghanischen Frauen sind schutzlos ihrer vollständigen Entrechtung ausgeliefert, und der Kollaps der Wirtschaft stürzt die Bevölkerung in Verelendung und Hunger. In der westlichen Öffentlichkeit aber legt sich über diese Katastrophe der Schleier des Schweigens und Vergessens.

Der Verrat des Westens an einem Land, dem er Sicherheit und Fortschritt versprochen hatte, bestätigt in den Augen der Machthaber im Nahen Osten, dass dieser selbst nicht mehr an seine eigenen Werte glaubt und als gestaltende Kraft einer Neuordnung der Region abgedankt hat. Das bestärkt sie darin, die Schrauben ihrer autokratischen Herrschaft noch fester anzuziehen und sich nicht einmal mehr den Anschein demokratischer Reformwilligkeit zu geben. Auf die prodemokratischen Strömungen in der Region hingegen wirkt die Tatsache, dass die westlichen Demokratien in Afghanistan - aber auch in Syrien - jene Kräfte, die ihre Werte teilen, zynisch im Stich gelassen haben, zutiefst demoralisierend.

In die Lücke, die das westliche Desengagement im Nahen Osten hinterlässt, stoßen nun die autoritären Mächte Russland und China. Peking ist es jüngst gelungen, die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den bislang tödlich verfeindeten Rivalen Saudi-Arabien und Iran zu vermitteln. Es unterstreicht damit seine Ambition als Stifter einer neuen Sicherheitsarchitektur für den zerrütteten Nahen Osten, bei deren Entwicklung der Westen nur noch Zuschauer sein soll. Wie tragfähig die saudisch-iranische Übereinkunft tatsächlich ist, bleibt indes ungewiss - insbesondere angesichts der Tatsache, dass Teheran in Kürze die Fähigkeit zum Bau der Atombombe erreicht haben könnte. Doch fürs erste stabilisiert der Deal die Verhältnisse im Sinne autokratischer Ordnungsideale und auf Kosten der Menschenrechte sowie emanzipatorischer Freiräume in der Region.   

Im Zuge dieser Annäherung der Diktaturen steht auch das massenmörderische Assad-Regime in Syrien vor seiner internationalen Rehabilitierung. Oman und die Vereinigten Arabischen Emirate haben sich bereits offen für seine Wiederaufnahme in die Arabische Liga ausgesprochen. Dies stellt einen Triumph für Russland dar, das für Assads Machterhalt große Teile Syriens in Schutt und Asche gebombt hat - in kriegerischer Allianz mit dem Iran, der jetzt seinerseits den russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine mit Waffenlieferungen unterstützt. Doch trotz seines symbiotischen Bündnisses mit dem schiitischen Teheraner Regime genießt Putin als Inbild eines skrupellosen Machtmenschen auch bei sunnitischen arabischen Herrschern wie dem saudischen Kronprinzen Mohammad bin-Salman hohes Ansehen.

In Tunesien, von dem der "Arabische Frühling" ausgegangen war und dem als einzigem der von ihm erfassten arabischen Ländern die Errichtung einer pluralistischen Demokratie gelang, wird diese jetzt von einem autoritären Präsidenten systematisch demontiert. Zudem steht die tunesische Wirtschaft vor dem Zusammenbruch. So bleibt als arabischer Staat, der zumindest Überreste einer demokratischen Ordnung aufweist, der Irak, den die US-Invasion vor zwanzig Jahren von der Terrorherrschaft Saddam Husseins befreit hat. Ungeachtet aller blutigen Krisen, die das Land seitdem durchlitten hat, ist dort eine aktive Zivilgesellschaft entstanden, die gegen die korrupte politische Führungsschicht sowie die zunehmende Fremdsteuerung der Geschicke des Landes durch den Iran aufbegehrt. Doch sie gerät immer mehr unter den Druck staatlicher Repression und gesetzloser Gewalt vonseiten proiranischer Milizen.

Die Hoffnung auf eine freiere Zukunft für die Region ruht nun in erster Linie auf der Aufstandsbewegung im Iran. Dass an ihrer Spitze Frauen stehen, die unerschrocken ihre Menschenwürde, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung einfordern, stellt eine neue Dimension dar, die Freiheitsbestrebungen auch in der arabischen Welt einen mächtigen neuen Impuls verleihen könnten. Einstweilen jedoch hält sich das iranische Regime durch brutale Repression, terroristische Einschüchterung und mit Unterstützung der Unterdrückungsspezialisten in Moskau und Peking fest im Sattel. Solange der iranische Widerstand über keine effektive Organisation und politische Führung verfügt, wird er das herrschende System nicht stürzen können.

Weit davon entfernt, sich im Nahen Osten auszubreiten, ist die Demokratie jetzt sogar in Israel gefährdet. Auch wenn die von der neuen Rechtsaußen-Regierung forcierte Justizreform durch eine breite gesellschaftliche Erhebung vorübergehend gestoppt worden ist, bleibt die Bedrohung der rechtstaatlichen Verfasstheit und der säkularen Grundlagen des jüdischen Staats durch eine wachsende radikal-religiöse Rechte akut.

Eine westliche Strategie, die dem massiven Rückfall der Region in autokratische Willkür entgegenwirkt, ist derzeit nicht zu erkennen. Dabei sind Regime wie das Saudi-Arabiens ökonomisch und militärisch noch immer in hohem Maße vom Westen, das heißt in erster Linie: von den USA abhängig. Einfluss zurückgewinnen kann der Westen ihnen gegenüber nicht dadurch, dass er die autokratischen Spielregeln als vermeintlichen Ausdruck "kultureller Eigenheit" akzeptiert. Nur durch konsequentes Eintreten für universale Werte und Rechte kann er sich in der Region wieder Respekt verschaffen.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.