9punkt - Die Debattenrundschau
Gene, Technik und Markt
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
Vor drei Wochen ist der ukrainische Regisseur Oleg Senzow in den Hungerstreik getreten, er wurde nach Protesten gegen die Krim-Annexion in Russland zu zwanzig Jahren Lagerhaft verurteilt, die er in einer Strafkolonie nördlich des Polarkreises absitzen muss. In der FAZ will der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan keinen Zweifel lassen: "Oleg Senzow hat nicht zufällig seinen Hungerstreik kurz vor der in Russland stattfindenden Fußball-Weltmeisterschaft aufgenommen. Damit werden alle Menschen angesprochen, in der Ukraine und in der ganzen Welt. Ihr wollt Fußball gucken? Währenddessen sterbe ich. Und ihr sollt davon wissen. Alle, ohne Ausnahme, sollen davon wissen. Sonst wird die Position unseres Landes nichts wert sein. Sonst ist nichts mehr etwas wert. Tust du so, als wüsstest du nichts über die politischen Häftlinge?"
taz-Autor Andreas Fanizadeh durfte ins georgische Tiflis reisen, auf dessen Straßen Russisch gesprochen wurde, Stalin noch immer als Sieger des großen Vaterländischen Krieges verehrt wird und man sich dennoch nach Westen sehnt: "Als kleiner und junger Staat - in den Jahrhunderten immer wieder überrannt von den Heeren der Perser, Mongolen, Araber, Osmanen oder Russen - betonen die Georgier heute gern die Kontinuität zu einer lange zurückreichenden alten Hoch- und Volkskultur. Irina Tschitschinaze deutet auf eine Vitrine, die die weltweit ältesten archäologischen Funde von Weingefäßen enthält. Sie stammen aus dem 6. Jahrtausend vor Christus, ausgegraben auf dem Territorium des heutigen Georgiens. Wer hat's erfunden? Jedenfalls nicht die Römer, meint Frau Tschitschinaze: 'Wein ist ursprünglich ein georgisches Wort.'"
Ideen
In der NZZ hat der Philosoph Paul Hoyningen-Huene nach eigenen Worten ausführlich darüber nachgedacht, was das Fundamental-Menschliche im Fußball sei. Seine Erkenntnis: "Fußball stellt das Drama des Lebens nach."
Internet
Medien
Die Öffentlich-Rechtlichen haben sich praktisch vom klassischen Kino verabschiedet, bemerkt Ralf Wiegand in der SZ. In ARD und ZDF läuft nur noch Selbstproduziertes: "Die ARD strahlte in ihrem ersten Programm im Jahr 2016 nur noch sieben Klassiker des US-amerikanischen Films aus - im Jahr 2000 waren es noch 122 gewesen. Die Gattung erodiert gleichermaßen in den dritten Programmen (15 gegenüber 633), und im ZDF fiel die Zahl solcher Filme im untersuchten Zeitraum von 37 auf zehn." Leider hat Wiegand nicht weiter nachgebohrt, angeblich wollen die Sender mit ihren Produktionen "so präzise wie möglich den aktuellen Publikumsgeschmack zu treffen".
Aber auch die Streamingdienste ineressieren sich nicht fürs Filmsterben, stellt Nicolas Freund in einem zweiten Artikel in der SZ klar, sondern über ihre Algorithmen für Masse und Aufmerksamkeit: "Natürlich werben die Dienste nicht mit dem Schund. Geworben wird damit, ein umfassendes Filmprogramm anzubieten. Von Alfred Hitchcock bis Ingmar Bergman. Tatsächlich aber ist im Gesamtangebot der beiden größten Streaming-Anbieter nur je ein einziger Hitchcock und ein einziger Bergman zu finden. Die Streamingdienste bieten nur oberflächlich einen umfassenden Filmkanon, denn Klassiker sind nicht entscheidend, um Abonnenten zu gewinnen und zu halten."
Nhi Le fragt in der taz, ob es ein Zuviel an hysterisierenden Talkshows gibt, die nicht einmal wissen, was Framing bedeutet: "Das sieht inzwischen auch der Deutsche Kulturrat so. Der Geschäftsführer des Dachverbands, Olaf Zimmermann, regte vergangene Woche sogar an, die 'Talkshows im Ersten und im ZDF sollten sich eine einjährige Auszeit nehmen und ihre Konzeptionen überarbeiten'. 2015 begannen die Talkshows, die Themen Flucht, Terror und Islam vermehrt aufzugreifen. Von insgesamt 139 Sendungen Anne Will, Maybrit Illner, Maischberger und hart aber fair im Jahr 2015 drehten sich 50 um diese Schlagwörter, mit Titeln wie 'Der Hass und die Folgen - spaltet der Terror das Abendland?' oder 'Religiös verblendet, politisch verirrt: Gefährden Radikale unsere Gesellschaft?'."
Weiteres: Bei Übermedien zerpflückt Stefan Niggemeier die Rede von Springer-Chef Mathias Döpfner, der bei seinem Lobbying für ein schärferes Leistungsschutzrecht Facebook und Google vorwirft, die Artikel der Zeitungen zu kopieren, aus dem Kontext zu nehmen und für sich zu verwerten. Bereits vor zwei Tagen meldete Le Monde, dass Buzzfeed seinen französischen Ableger dichtmacht und sämtliche Mitarbeiter entlässt. Axel Weidemann blickt in der FAZ nach Thüringen, wo im April in Fretterode zwei Journalisten von Neonazis brutal zusammengeschlagen wurden, die Ermittlungen sich jedoch allzu schleppend hinziehen.