9punkt - Die Debattenrundschau

Zensur des öffentlichen Raumes

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.01.2016. Die europäische Wirtschaft atmet auf: Endlich Versöhnung mit dem Iran! Italien verhüllt aus diesem Anlass seine antiken Statuen - zum Erstaunen von Spiegel Online. Heute wird der iranische Präsident Hassan Rohani in Paris empfangen. Ob der französische Präsident dem Auslober des "Holocaust Cartoons Contest'" in Erinnerung bringt, dass heute Auschwitz-Gedenktag ist? Huffpo.fr zweifelt. Die FAZ macht sich Sorgen um das Berliner Schloss, das vollendet sein könnte, bevor Ideen dazu entwickelt sind. Wolf Lepenies bezweifelt in der Welt, dass sich die Deutschen mit ihrer "Willkommenskultur" in Europa beliebt machen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.01.2016 finden Sie hier

Europa

Die Italiener haben glatt nackte antike Statuen mit Holz verkleidet, damit deren Anblick den eifrig umworbenen Staatsbesucher Hassan Rohani aus dem Iran nicht irritiert. Frank Paralong von Spiegel Online fasst sich an den Kopf: "Dass Rom anlässlich des Rohani-Besuches die eigene Kultur versteckte, erscheint unangenehm unsouverän. Rom ist für seine Statuen bekannt, nicht für seine Kisten. Die römische Zensur des öffentlichen Raumes wirkt übereifrig im Bemühen um Milliardengeschäfte mit Iran."

Heute kommt Rohani nach Paris, und den französischen Unternehmen läuft das Wasser im Munde zusammen. Was zählen da ein paar Details? Immerhin, die huffpo.fr stellt ein kleines Dossier aus dem Anlass zusammen. Die Autorin Pauline Delpech macht auf eine pikante Koinzidenz aufmerksam: "Der iranische Präsident wird heute von Präsident François Hollande empfangen. Heute? An diesem Mittwoch, dem 27. Januar? Das ist der Auschwitz-Gedenktag, ein Tag, der weltweit dem Gedenken der Opfer des Holocaust gewidmet ist. Und Rohani ist in Paris. Jenseits des Vergessens ist der Kalender voll: Airbus A320, A380, A330... zehn vom einen, hundert vom anderen..."

Dazu passt folgende kleine Erinnerung aus The Daily Beast: "Pünktlich zum Internationalen Holocaust-Gedenktag hat die iranische Regierung angekündigt, dass sie einen weiteren 'Holocaust Cartoon Contest' abhält. Dem Karikaturisten, der sich am bösesten über den Genozid lustig macht, winkt ein Preis von 50.000 Dollar."

Rama Yade, die ehemalige Ministerin für Menschenrechte in Frankreich, bringt in huffpo.fr andere Fakten in Erinnerung: "Mit mehr als tausend Exekutionen im Iran markiert das Jahr 2015 einen traurigen Rekord, der sogar noch die blutige Bilanz unter Präsident Achmadinedschad übertrifft. Insgesamt sind laut der Organisation Amnesty International, die die 'Frenesie der Exekutionen' anprangert, im Iran 2.000 Personen allein unter dem Mandat von Hassan Rohani exekutiert wurden, darunter 57 Frauen, und häufig öffentlich."

Wer glaubt, die anderen Europäer seien besonders beeindruckt von unserer "Willkommenskultur" gegenüber den Flüchtlingen, sollte noch mal genau hinhören, meint Wolfgang Lepenies in der Welt: "Verstärkt durch die historische Semantik des Kulturbegriffs gewann das nationalpolitische Projekt der Willkommenskultur seinen exemplarischen Anspruch: Nur wir Deutschen tun, was alle Europäer tun sollten. Dabei war es ein Irrtum anzunehmen, durch die großmütige Haltung in der Flüchtlingskrise werde Deutschland nach der ökonomischen und politischen auch die moralische Führungsrolle auf dem Kontinent übernehmen. Deutsche Arroganz in der Fiskal- und Schuldenpolitik werde durch die Empathie gegenüber den Flüchtlingen mehr als kompensiert werden. Das Gegenteil ist eingetreten: Deutschland gilt als moralischer Parvenü, der sein Gutmenschentum auf Kosten der anderen Europäer zur Schau stellt."

Der Fortschritt mag notorisch eine Schnecke sein, aber es gibt ihn eben doch, erkennt Thomas Schmid, der sich in seinem Blog schaudernd an die Haltung der Deutschen zu ihren Einwanderern von den fünfziger Jahren bis in die Neunziger erinnert, als in Hoyerswerda Flüchtlingsheime brannten. "Heute dagegen existieren zwar auch Sorgen, Ängste und mancherorts der dringliche Wunsch, es möge Schluss sein mit der Einwanderung. Aber es gibt eine offene Auseinandersetzung, und auch den meisten Skeptikern ist bewusst, dass sich Deutschland und Europa nicht wirklich von den vielfältigen Krisenherden abkoppeln können, die Europa umgeben. Wir streiten im Grunde nur noch darüber, wie wir die Einwanderungsgesellschaft gestalten sollen: eng oder weit."
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Kulturpolitik

Humboldt-Forum aller Orten. Durch den Rücktritt Manfred Rettigs, des Vorstands der Schloss-Stiftung, ist Bewegung in die Sache gekommen. Andreas Kilb lässt in der FAZ die nun auch schon fast zwanzigjährige Idee des Forums Revue passieren und blickt mit Grauen auf den entstehenden Neubau der Schloss-Attrappe, wo zwar die Orte der großen Museen schon festgelegt sind, nicht aber, was im Parterre und der ersten Etage entstehen soll. Auf den Webseiten der Institute findet er nur "unausgegorene Planungen": "Und die Lage wird dadurch nicht besser, dass der Rohbau des Schlosses seit acht Monaten fertig ist und der Innenausbau unaufhaltsam fortschreitet. Es ist, als würden in einem Haus die Leitungen verlegt und Heizkörper eingebaut, bevor überhaupt feststeht, wo sich Wohn- und Schlafzimmer, Küche und Bad befinden werden."

Bernhard Schulz lauschte unterdessen für den Tagesspiegel der Jahrespressekonferenz von Hermann Parzinger, der über die vielen Bauvorhaben der Preußen-Stiftung berichtete.
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Ideen

Marlen Hobrack fragt sich in einem kleinen Essay für den Freitag, ob nicht Pierre Bourdieu unter den Linken die plausibleren Dinge über "Geschlecht" zu sagen hatte als Judith Butler: "Bourdieu wendet sich gegen die Vorstellung des Geschlechts als beliebige Rolle, die man ablegen könnte. Zwar sieht er die Möglichkeiten des Spiels mit Geschlechteridentitäten. Aber er bezweifelt im Gegensatz zu Judith Butler dessen subversives Potenzial. Ebenso kritisch betrachtet er die an eine 'magische' Vorstellung grenzende Annahme, die symbolische Herrschaft des Mannes ließe sich durch Sprachregelungen abschaffen."

Der niederländische Künstler Jonas Staal, erklärt im Interview mit der SZ, warum er in den Niederlanden kein Parlament bauen würde, dies in der autonomen syrischen Kurdenregion Rojava aber sehr wohl getan hat. Rojava, sagt er, bestehe nicht auf einen eigenen Staat. Es ist "ein anderes Modell. Und die Kurden haben damals den von uns entwickelten New World Summit als Möglichkeit entdeckt, mit anderen staatenlosen, autonomen Bewegungen in einen Austausch zu treten. Und wir fanden umgekehrt, dass wir die Arbeit an der Kultur solcher Versammlungen in Rojava gut weiterführen können. Es geht um ein permanent tagendes Parlament, das sich von der Idee des Staats ablöst."
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Geschichte

Heute begehen wir den Tag zum Gedenken an die Befreiung von Auschwitz. Aber in diesem Andenken waren wir schon mal weiter, meint Götz Aly in der FR: "Gegenwärtig schwatzen Journalisten, Historiker und Politiker einhellig davon, es seien 'die Nationalsozialisten' gewesen. Das geschieht in einem Ton, als handele es sich um Marsmenschen, die keiner kennt. All diese Kollektivbegriffe schaffen Distanz, schieben die Schuld an Krieg, Zerstörung und Massenmord auf nicht mehr existente Personen, Gruppen, Institutionen und politische Programme, die uns fremd sind. Wer ist schon mit einem Rassenantisemiten, Ideologen, Diktator oder Monopolkapitalisten verwandt oder verschwägert? Die Wirklichkeit war anders."

Außerdem: Die NZZ stellt einen Band des australischen Historikers Nicholas Stargardt vor über den Durchhaltewille der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, der auch gespeist war von der Erkenntnis, dass der Genozid an den Juden nicht ungestraft bleiben würde.
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Medien

Es war nur eine Frage der Zeit, bis solche Kommentare kommen. "Während der 'offene' Guardian finanziell dahinschwindet, macht die Times mit ihrer Paywall Gewinne" - so schreibt es Dominic Ponsford in der britischen Press Gazette: "Gestern offenbarte die Guardian Media Group, dass sie mehr als 100 Millionen Pfund im letzten Jahr verloren hat... Unterdessen sind die Times und die Sunday Times (so weit ich weiß) profitabel. Die Paywall ist nicht der einzige Faktor. Aber die desaströsen Nachricht, dass der Guardian 20 Prozent, das heißt 54 Millionen Pfund, in seinem Jahresbudget kürzen muss, ist ein Schlag für sein offenes Modell." Nun sollte Dominic Ponsford noch herausfinden, ob die Times tatsächlich profitabel ist!
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