Vom Nachttisch geräumt

Eine mutterlose Gesellschaft

Von Arno Widmann
14.10.2015. Ach, wenn man doch so genau zu lesen verstände! Marlene Streeruwitz über Bertha von Suttner!
Manche Autoren lesen wenig. Sie schreiben. Das genügt ihnen. Sie schreiben nicht etwa die Bücher, die sie lesen möchten. Nein, sie schreiben. Punkt. Die meisten Autoren, die ich kenne, sind dagegen begeisterte Leser. Es gibt unter ihnen, wie unter den nicht schreibenden Lesern auch, Gourmants und Gourmets. Die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz ist womöglich beides oder keines von beiden. Ihre kleine Studie über Bertha von Suttners Roman "Die Waffen nieder!" zeigt, wie dumm diese Kategorien sind. Genauer sie führt es vor. Sie zeigt, wie man lesen kann, ohne zu verschlingen und ohne abzuschmecken und die Zunge genüsslich über die Lippen streifen zu lassen. Streeruwitz analysiert. Sie tut das so genau, dass jeder Leser es nachvollziehen kann. Kurzsichtige kennen das Erlebnis. Als ich das erste Mal eine Brille bekam, staunte ich, dass ich an den Bäumen im Schulhof auch ganz oben noch jedes Blatt einzeln sehen konnte.

So ging es mir wieder nach der Lektüre der ersten Seiten des Vortrags, den Marlene Streeruwitz am 17. Juni 2014, dem hundertsten Todestag von Bertha von Suttner, im Wiener Rathaus hielt. Streeruwitz vergleicht den Wikipedia-Eintrag über Bertha von Suttner mit dem über Picasso. Das kommt Ihnen abwegig vor? Lesen Sie Streeruwitz und Sie werden sehen, wie erhellend ein solcher Vergleich sein kann. In der Picasso-Biografie steht das Private immer im Bezug zum Werk. Auch das Verhältnis des Künstlers zur minderjährigen Marie-Thérèse Walther. In dem Wikipedia-Eintrag zu Bertha von Suttner spielt das Werk kaum eine Rolle, dafür wird das Verhältnis zu dem sieben Jahre jüngeren, immerhin 23-jährigen, späteren Ehemann Arthur Gundaccar von Suttner skandalisiert. "Nach Wikipedia ist jedes Frauenschicksal ein Frauenschicksal", schreibt Marlene Streeruwitz. Das ist sicher ein Pauschalurteil, aber es liegt an uns Lesern und Benutzern, Anwendern der Texte von Streeruwitz und Wikipedia, das zu überprüfen und zu ändern oder in ein Urteil zu verwandeln.


Bertha Suttner, dritte von links, beim Weltfriedenskongress von 1907. Bild: The Bertha von Suttner Project

Streeruwitz bleibt nicht bei Wikipedia stehen. Sie wendet sich bald dem Roman zu. Sie weist darauf hin, dass der Staat keine Rolle spielt in ihm. Die Erzählfigur setzt ganz darauf, dass die, die das Sagen haben, zur Vernunft gebracht werden müssen, damit mit dem Rüsten und Kriegen endlich ein Ende ist. So weit so vertraut. Dann aber zeigt uns Streeruwitz eine auffällige Lücke in der Erzählung. Auffällig ist ein missverständliches Wort. Mir war sie nicht aufgefallen. Aber jetzt, da Streeruwitz mir die Augen dafür geöffnet hat, scheint sie mir riesig und unübersehbar: Das Fehlen der Mutter. "Gleich auf Seite 14 wird geheiratet", stellt Streeruwitz fest.

Bei der Feststellung bleibt es nicht. Die erzählte erzählende Frauenfigur definiert sich gegenüber einer männlichen Welt. Ohne mütterliche Vermittlung. Der Prozess, in dem die Erzählfigur sich immer weiter von der Welt der Männer - alle ihre männlichen Verwandten sind Offiziere - entfernt, ist Produkt ihrer Arbeit am Selbst. Sie wird nicht eingeübt, hineingezwungen, in die Identifikation mit der von einer Mutter vorgelebten weiblichen Rolle. Sie ist frei, ihren eigenen Weg zu gehen. Streeruwitz schreibt: "Ohne den lästigen und kulturell aufgedrängten Vergleichszwang des Weiblichen und in eine Herkunftslosigkeit befreit, gelingt es, die Autorin freizulegen." Nicht erst die Exegeten legen die Autorin frei. Sie selbst muss auch erst einmal freigelegt werden, um sich selbst freilegen zu können. Bei Autoren ist das auch so, aber es sind deutlich weniger Hemmnisse und Hemmungen beiseite zu räumen als bei Autorinnen. Jedenfalls war das sehr lange so.

Marlene Streeruwitz über Bertha von Suttner, mandelbaum verlag, Wien 2014, 61 Seiten, 9,90 Euro.