Vom Nachttisch geräumt

Das Nichts ist die Negation von Wicht

Von Arno Widmann
04.12.2016. Barbara Cassins Wörterbuch unübersetzbarer philosophischer Begriffe ist ganz auf Europa konzentriert.
2004 erschien das Buch auf Französisch. 2014 auf Englisch. Dass es es gibt, erfuhr ich vor zwei Wochen. Ich wollte es haben. Auf Französisch kostet es 112 Euro, auf Englisch "nur" 51 Euro. Also kaufte ich die englische Ausgabe. Das ist eine ökonomisch kluge, in der Sache aber eher verrückte Entscheidung. Es handelt sich nämlich um ein "Dictionnaire des Intraduisibles", ein Wörterbuch unübersetzbarer philosophischer Begriffe. Jetzt liegt es vor mir. Ich habe es noch nicht gelesen. Ich blättere darin und mache ein paar Bemerkungen. Der erste Begriff der englischen Ausgabe lautet "Abstraction". 12 Spalten lang. Autor ist der gar nicht hoch genug zu schätzende Alain de Libera. Er verfolgt den Begriff von Aristoteles über Abelard bis Hume. Also den "unübersetzbaren Begriff" durch eine Reihe von Übersetzungen hindurch. Der letzte Artikel  beginnt auf Seite 1265 und beschäftigt sich mit dem Begriff "Wunsch". Man erfährt, dass er wie das englische "wish" auf die Sanskrit-Wurzel "wunskjan" zurückgeht. Dann ist man aber schon bei Freud. An keiner Stelle wird eingegangen darauf, ob das "wunskjan" eine Rolle in der indischen Philosophie spielt. "Wunskjan" taucht jedenfalls, wenn das Register nicht trügt, an keiner anderen Stelle des Buches auf.

Tatsächlich gibt es vor allem französische, englische, deutsche Begriffe. Spanische, portugiesische und russische kommen auch noch vor. Indische und chinesische dagegen fehlen ganz. Also kein Satya und kein Dao. Auch beim Artikel "Light" (Licht) wird auf das indoeuropäische "leuk" hingewiesen, ohne dass der globalphilosophisch Interessierte etwas über "Bhati" erfährt, das Wort für Licht im Sanskrit, das auch "Erkenntnis" bedeutet. Das Buch ist der - hoffentlich - letzte Zeuge einer Philosophiegeschichte, die glaubt, rein europäisch die Wahrheit über sich sagen zu können. Hätte ich mir die französische Ausgabe gekauft, wäre ich nicht der weltbürgerlichen Illusion erlegen, die der englische Titel mir nahelegte.  "Vocabulaire européen des philosophies: Dictionnaire des intraduisibles" wurde bei der Princeton University Press zu "Dictionary of Untranslatables. A philosophical Lexicon." Man kann die Rechtfertigung dafür auf Seite IX nachlesen. Einerseits soll die englische Ausgabe in späteren Auflagen offen sein für neue außereuropäische Einträge. Andererseits werde der Begriff europäisch, da zu oft mit Christentum, Humanismus und Aufklärung gleichgesetzt, der Komplexität Europas nicht gerecht.

Das ist nicht gerade helle argumentiert. Von einer zweiten Auflage eines mehr als eintausendseitigen Werkes kann selbst Princeton University Press nicht träumen. Es geht wohl vor allem darum, dass "europäisch" in manchen US-amerikanischen Ohren als "unamerikanisch" gilt. Princeton University Press! Die 1947 geborene Barbara Cassin, Forschungsdirektorin am Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, ist die Herausgeberin des Originalwerkes. Ihr wäre es niemals eingefallen, auf das einschränkende "europäisch" zu verzichten. Sie ist sich sehr genau darüber im Klaren, dass die Frage nach den wirklich unübersetzbaren Begriffen sich ja erst dann stellt, wenn man es mit tatsächlich bisher nicht übersetzten Begriffen zu tun hat. Oder doch mit Wörtern, die man erst jetzt anfängt, als Begriffe zu sehen. Man lese ihr 2014 erschienenes Buch: "Les intraduisibles du patrimoine en Afrique subsaharienne". Es fällt schwer, sich mit der seitens der Herausgeber der Princeton-Ausgabe bewusst hergestellten Horizontverengung abzufinden.

Das Reizvolle eines Lexikons der unübersetzbaren Begriffe liegt natürlich vor allem darin, dass sie ja fortwährend übersetzt wurden und die internationale Karriere eines Begriffes wie zum Beispiel "Wunschdenken" lässt sich ja bis in die Verästelungen alleraktuellster Politik verfolgen. In Wahrheit könnte man mit gleichem Nachdruck behaupten: Kein Begriff ist unübersetzbar und jeder Begriff ist unübersetzbar. Erheiternd ist, dass zwar das französische "culture" seinen Auftritt hat, das deutsche "Kultur" dagegen nicht. Es wird im Artikel "culture" erwähnt, auch die antifranzösisch gemeinte Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation. Unübersetzbar, das macht der Artikel nolens volens deutlich, ist nicht "culture" sondern "Kultur".

Das "Unübersetzbare" ist wohl immer auch eine politische Entscheidung. Begriffe sind ja darum Begriffe, weil sie sich von anderen absetzen. Das geschieht wohl nur in den seltensten Fällen aus Gründen definitorischer Akribie. Meist spielt der Wille, sich gesellschaftlich-sozial oder politisch-national voneinander zu unterscheiden, eine wichtige Rolle. Der Artikel "Dasein" macht das sehr deutlich. Es ist ein umgangssprachliches Wort, das Heidegger im zwanzigsten Jahrhundert zu einem der zentralen Begriffe seiner Philosophie machte. Im Daseins-Artikel wird sehr schön auf Kants Verwendung des Begriffs hingewiesen. Der fragte nach dem Dasein Gottes. Er übersetzte 1763 damit den lateinischen Begriff Existenz. Später schrieb Kant: "Gott muss nicht als Substanz außer mir vorgestellt werden… Gott ist nicht ein Wesen außer mir sondern bloß ein Gedanke in mir." Existenz ("ex-sistere") aber kommt ja gerade dem zu, was außer mir ist. Der Artikel geht weiter zu Goethe, Fichte, Hegel, Schelling und kulminiert dann bei Heidegger, der ausdrücklich auf der Unübersetzbarkeit seines Begriffes besteht. Auch von Kants Wortgebrauch setzt er sich ausdrücklich ab. Gegen Kant schreibt er nicht Dasein, sondern Da-sein, betont also "ex-sistere".

Beim flüchtigen Durchblättern fällt auf, welche deutschen Begriffe einen eigenen Eintrag haben: Anschaulichkeit, Aufheben, Begriff, Beruf, Bild, Bildung, Dasein, Dichtung, Entstellung, Ereignis, Erleben, Erscheinung, Erzählen, Es,  Es gibt, Gefühl, Gegenstand, Geisteswissenschaften, Gemüt, Geschichtlich, Geschlecht, Glaube, Glück, Gut, Heimat, Herrschaft, Jetztzeit, Kitsch, Leib, Macht, Menschheit, Merkmal, Mitmensch, Momente, Negation, Neuzeit, Religion, Sachverhalt, Schicksal, Sehnsucht, Sein, Selbst, Sollen, Sorge, Sprechgesang, Stand, Standard, Stimmung, Tatsache, Verb, Verneinung, Vorhanden, Welt, Weltanschauung, Wert, Willkür, Wunsch.

Wäre das Lexikon vor dreißig Jahren entstanden, es wäre wahrscheinlich mehr Hegel und Marx und vielleicht ein wenig weniger Heidegger darin. Dass "Nichts" kein "Meister aus Deutschland" ist, verstehe ich schon. Aber dass es einer aus England sein soll, will mir nicht in den Kopf. Also schlage ich "Nothing" auf. Der Eintrag folgt gleich nach Nonsense und Nostalgia. In ihm geht es freilich nicht um den unübersetzbaren Charakter des englischen "Nothing". Der Artikel weist den Leser hin auf die unterschiedlichen Formen, in denen in verschiedenen Sprachen das Nichts artikuliert wird. Also zum Beispiel als Kein-Ding. Auch unser Nichts ist ein solches Kompositum, erfährt der Leser. Es setzt sich zusammen aus einem Wicht, einem winzigen geisterhaften Etwas, und seiner Negation. Sprachlich war wohl immer zuerst Etwas. Erst durch dessen Negation entstand das Nichts. Wer nicht an die Realität des Nichts glaubt, könnte sich dadurch gestärkt fühlen, wehte ihn nicht der Verdacht an, er könnte der Sprache in die Falle gegangen sein.

Zu den 160 Mitarbeitern des Mammutwerkes zählen: Alain Badiou, Rémi Brague, Judith Butler, Ruedi Imbach, Gayatri Chakravorty Spivak, Immanuel Wallerstein. Einige von ihnen sind nur in der englischen Ausgabe vertreten.

Dictionary of Untranslatables - A Philosophical Lexikon, edited by Barbara Cassin, Princeton University Press, Princeton and Oxford 2014, 1297 Seiten, 51,94 Euro.