Vom Nachttisch geräumt

Disney, Strawinsky und die Beatles

Von Arno Widmann
04.12.2016. Zeigt eine Renaissance-Werkstatt in Action: Der von Daniel Kothenschulte herausgegebene Band über die Walt Disney Filmarchive.
Weihnachten ist Disney-Zeit. Oder war es doch jedenfalls, als noch Eltern mit ihren Kindern ins Kino gingen und als viele Jahre später diese Kinder mit ihren Kindern vor dem Fernseher saßen oder lagen und sich das "Festtagsprogramm" ansahen. Darum also jetzt dieser Hinweis auf das dickste Disney-Bücherpaket, das es derzeit auf dem Markt gibt. "Walt Disney Filmarchiv - Die Animationsfilme von 1921 - 1968". Herausgeber ist einer der besten Filmkenner Deutschlands: Daniel Kothenschulte. Er tritt in seiner knappen Einleitung der Vorstellung entgegen, nur der junge Disney sei ein innovativer Künstler gewesen. In den Augen Kothenschultes waren auch Filme nach "Fantasia" (1940)  und "Bambi" (1942), die beide zunächst an den Kinokassen floppten, "modernistische Meisterwerke", wie zum Beispiel "Adventures in Music: Melody" (1953) und "Toot, Whistle, Plunk and Boom" (1953).



Er erwähnt "Das Dschungelbuch" (1967) nicht, in das meine spätere Gattin mich völlig hingerissen mehrmals hineintrieb. Ich fand den Film widerwärtig kitschig. Ich schwärmte damals für Pasolinis "Teorema" (1968). Dass wir beide nicht zusammenpassten, war außer uns jedem klar. Das Schlimme war nicht, dass sie das Dschungelbuch und ich Teorema toll fand. Schlimm war, dass wir beide keinen Sinn hatten für das, was den anderen faszinierte. Disney soll, so schreibt Kothenschulte, ganz anders gewesen sein: "Der reiche Stilpluralismus der in diesem Buch präsentierten Disney-Filme zeugt von einem Geschmack, der sich in viele Richtungen öffnet. Die meisten Menschen, die sich mit Kunst befassen, legen sich auf bestimmte Stile fest und verwahren sich gegen andere. Walt Disney besaß dagegen eine einzigartige Offenheit für die Verschiedenartigkeit künstlerischer Stile und die Fähigkeit, innerhalb all dieser Vielfalt Qualität zu erkennen. Dieses Talent, sich in unterschiedliche künstlerische Welten einzudenken, ist der Schlüssel zur einzigartigen Qualität der Disney-Animationskunst."

Kothenschulte weist auch auf einen Film hin, in dem Walt Disney zeigte, wie unterschiedliche Maler nicht nur zusammenarbeiten an einem Film, sondern auch wie unterschiedlich sie alle denselben Baum sehen. Man kann diesen gerade mal eine Viertelstunde dauernden Streifen hier sehen:



Er ist eine sehr eindrückliche Vorstellung für Disneys Grundgedanken: Kunst ist das, was jemand macht, wenn er seinen eigenen Ideen folgt. Das ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was man mit einer Zeichenfabrik, wie die Disney-Studios in ihren Hochzeiten es sicher waren, verbindet. Kothenschulte gibt darum seiner Einleitung in den riesigen Band die Überschrift "Die letzte Renaissance-Werkstatt: Auf der Suche nach dem Disney-Stil". Das "letzte" stimmt sicher nicht. Aber Kothenschulte hat natürlich recht. Die große Kunst war immer wieder der Stil einer Werkstatt. Das "Händescheiden", eine der Lieblingsbeschäftigungen der Kunstgeschichte des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, scheiterte regelmäßig daran. Man kann sich vorstellen, dass mancher Schüler den Meisterstil besser traf als dieser selbst. Wie ein Fälscher gewissermaßen die Essenz des gefälschten Künstlers - oder was eine bestimmte Epoche dafür hält - so genau trifft, dass vor allem die Experten, die ja diese "Essenz" manchmal über Jahrzehnte herausdestilliert haben, auf die Fälschungen hereinfallen - ich bin versucht zu sagen - müssen.

Doch zurück zum Buch: Auf 620 großformatigen Seiten 1500 Abbildungen, sagt der Verlag. Nachgezählt habe ich es nicht. Essays nicht nur über die wichtigsten Filme, sondern auch Auszüge aus "Storykonferenzen" oder ein Gespräch, das wird meine Ex-Ehefrau interessieren, mit einem der Songschreiber des Dschungelbuches: Richard M. Sherman. Kothenschulte fragt ihn: Die Geier im Dschungelbuch sind doch eine Hommage an die Beatles. Habt ihr sie gefragt mitzumachen? Shermans Antwort: "Ja, das haben wir. Wir hatten ursprünglich sogar versucht, das Lied in einer Rock'n-Roll-Version in der Art der Beatles zu machen. Und wir dachten sogar daran, die Beatles dazu zu bringen, es einzuspielen. Aber dann entschied John Lennon, dass er zum damaligen Zeitpunkt nichts für einen Trickfilm machen wolle."



Oder dieser Dialog aus der Storykonferenz zu "Bambi": Autor Ted Sears sagt: "Ich sehe die Sache so: Der Haupttitel der Story sollte lauten: Eine Fantasie, inspiriert durch Felix Saltens Buch 'Bambi'. Wir sollten uns jetzt entscheiden, ob der Dialog modern sein soll - Saltens Bambi war zwanzig Jahre früher in Wien erschienen - oder nicht. Ich finde, wir sollten uns vom Buch entfernen. Wir sollten es als eine Symphonie ansehen, die auf der Geschichte von Bambi aufbaut. Wenn wir versuchen, uns an das Buch zu halten, schränken wir uns von Anfang bis Ende ein. Und die Geschichte wird zu steif."

Am 13. September debattierten ein Musikwissenschaftler, Walt Disney, der Story Man und der Dirigent Leopold Stokowski über die richtige Musik zu "Fantasia": "Walt: Wurde jemals irgendetwas komponiert, auf dem wir etwas über ein prähistorisches Thema aufbauen könnten - mit prähistorischen Tieren? Musikwissenschaftler: 'Le Sacre du Printemps' wäre etwas in der Art. Walt: Dinosaurier, fliegende Eidechsen und prähistorische Monster hätten etwas Fantastisches. Auch die Szenerie könnte schön sein. Story Man: Das Thema 'Anbeginn der Schöpfung'. ('Der stählerne Schritt' von Prokofiew wird gespielt) Walt: Sollten wir uns so genau wie möglich an die ursprünglich der Musik zugrunde liegende Idee halten? Das heißt dort, wo eine Geschichte damit verbunden ist? Stokowski: Komponisten sind bei solchen Dingen ganz und gar nicht streng. Sie schreiben für eine bestimmte Idee, aber wenn man etwas anderes vorschlägt, dann stimmen sie höchstwahrscheinlich zu. Wir sollten uns keine Sorgen machen. Der Geist der Musik ist auf unserer Seite. (Strawinskys 'Le Sacre du Printemps' wird gespielt) Walt: Das ist großartig. Das wäre perfekt für prähistorische Tiere, Höhlenmenschen etc. Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Wir könnten Parallelen zu modernen Situationen herstellen, zum Beispiel mit Höhlenmenschen, die prähistorische Ungeheuer als Haustiere halten."



Es ist Blödsinn hier abzubrechen, denn jetzt steigern sich Stokowski und Disney erst hinein in den Film und in die Musik und in das, was aus beidem dann gemacht werden soll. Ich habe nur über die Texte gesprochen und nicht darüber, dass uns die Bilder im Buch auch erzählen, wie ein Disney-Film gemacht und wie er verwertet wurde. Ein Trumm von einem Buch. Und klug dazu. Danke.

The Walt Disney Film Archives - The Animated Movies 1921 - 1968, herausgegeben von Daniel Kothenschulte, Verlag Taschen, 620 Seiten, 1500 Abbildungen in s/w und Farbe, alle Texte gibt es in einem Beiheft auf Deutsch, 150 Euro.
(Die auf 2500 Exemplare beschränkte Collector's Edition enthält noch ein Faksimile des 64-seitigen Storyboards für Mickys Auftritt als "Der Zauberlehrling" in Fantasia und ein Faksimile-Portfolio mit fünf Cel-Setups aus den Cartoon-Musicals von Disneys Silly Symphonies aus den Jahren 1929 bis 1939. Diese Edition kostet aber 400 Euro.)