Vom Nachttisch geräumt

Ein Philister, ein Schelm oder ein Narr

Von Arno Widmann
15.02.2016. "Sommerregen der Liebe"? Sigrid Damm zeigt in den Briefen Goethes an Frau von Stein, was der Dichter und Beamte von der Dame lernte.
Wieder Goethe. Seit Jahrzehnten führt uns Sigrid Damm immer wieder zu ihm. Ihr neuestes Buch heißt "Sommerregen der Liebe". Theodor W. Adorno erzählt irgendwo, dass er als junger Mann einmal in einer Buchhandlung nach "Im Schatten junger Mädchenblüte" gefragt habe und die Verkäuferin bedauernd meinte, "das haben wir leider nicht, aber ich kann ihnen 'Junge Liebe im Frühling' empfehlen". "Sommerregen der Liebe" ist ein Goethe-Zitat, aber dennoch ein schlechter Titel. Er verkauft das Buch unter Wert. Aber, wer weiß? Vielleicht reagiere nur ich so darauf.

Sigrid Damm erzählt die Geschichte der Liebe zwischen Johann Wolfgang Goethe und Charlotte von Stein. Sie erzählt diese zehn Jahre (1775 - 1786) an Hand der Briefe. Goethe war 26 Jahre alt. Charlotte von Stein nicht nur sieben Jahre älter. Sie war bereits seit 1761 verheiratet und hatte in den neun folgenden Jahren sieben Kinder zur Welt gebracht. Goethe war der Autor der "Leiden des jungen Werther". Kaum mehr. Ein hochbegabter Verzauberer mit einer nicht ganz zum Abschluss gebrachten juristischen Ausbildung. Von dem Briefwechsel, auf den Sigrid Damm sich stützt, sind nur wenige Briefe Charlotte von Steins - sie hatte sie zurückgefordert - erhalten, dafür mehr als tausendsiebenhundert Briefe Goethes. Angesichts dieser Situation verbietet sich das Wort Briefwechsel. Man kann sich vorstellen, dass es fast unmöglich ist, hinter so viel Goethe noch die Stimme der Charlotte von Stein zu hören.

Die Lieblingsfrage interessierter Gymnasiasten - hatten die beiden Sex? - beantwortet Sigrid Damm gleich zu Beginn: Sie hatten nicht. Es war dennoch eine erotische Beziehung. Das machte wohl für beide zu einem Gutteil ihren Reiz aus. Die sexuelle Unerreichbarkeit der verheirateten Hofdame war wohl nicht unwichtig für Goethes Faszination. In seinem Leben spielt diese Art von Beziehung immer wieder eine Rolle. Die italienische Reise beendet die Beziehung. Und die bald danach aufgenommene erotische Beziehung Goethes zu der 23-jährigen Christiane Vulpius.

Charlotte von Stein fühlt sich erniedrigt und gedemütigt. Goethe zieht der Frau, die ihn nicht nur liebt, sondern mit der er auch zusammen Gedichte schreiben kann, die ungehobelte, nicht einmal schöne Christiane Vulpius vor. Goethe antwortet ihr in einem seiner wenigen erhaltenen Briefe: "Welch ein Verhältnis ist es? Wer wird dadurch verkürzt? Wer macht Anspruch an die Empfindungen, die ich dem armen Geschöpf gönne? Wer an die Stunden, die ich mit ihr zubringe?" Mit anderen Worten: Warum soll ich mir nicht bei ihr holen, was Du mir verwehrst? Warum willst Du mir nicht geben, was sie mir nicht geben kann? Die eine für Kopf und Geist, die andere für den Penis und seine Lust. Darauf lässt sich Charlotte von Stein nicht ein. Und so endet diese Beziehung.


Goethe, Christiane und Charlotte

Es gehört zu den herausragenden Begabungen Sigrid Damms, dass sie beides sieht: den Teil und das Ganze. Das Buch erzählt von der vertrackten Geschichte der Liebesbeziehung zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Charlotte von Stein. Es greift einzelne Wendungen aus den Briefen heraus, verdeutlicht an winzigen Details, worum es geht. Gleichzeitig aber stehen Sätze darin, die schlaglichtartig verdeutlichen, wie viel größer das Leben der Charlotte von Stein war als die zehn Jahre mit Goethe: "Dreiundvierzig Jahre ist Frau von Stein, als Goethe sich von ihr trennt. Fünfzig, als ihr Ehemann stirbt. Noch über dreißig Jahre lebt sie als Witwe in Weimar." Die Trennung war definitiv, aber in dem kleinen Weimar nicht wirklich einzuhalten. Es kommt zu Tischgesellschaften, bei denen Goethe, Christiane und Charlotte beisammen sitzen. Man schreibt einander auch wieder: "Aus den Jahren 1794 bis 1826 sind vierundneunzig Briefe von Steins an Goethe überliefert", zählt Sigrid Damm. Was dachte Goethe, als Charlotte von Stein am 6. Januar 1827 starb? Wir wissen es nicht. "Kein Wort zu einem Dritten über Charlotte von Steins Tod, keine Notiz im Tagebuch. Keine Würdigung. Kein Rückblick."

Diese im Nachhinein geleugnete Zeit, darauf weist Sigrid Damm hin, ist für Goethe einer der wichtigsten Lebensabschnitte überhaupt. Es sind die ersten zehn Jahre in Weimar. Goethe ist die rechte Hand des Herzogs, seine Einsatztruppe. Goethe genießt das. Er genießt seine Stellung? Ja. Aber wohl ebenso, wenn nicht mehr noch, genießt er die Tätigkeit. Er will ein Macher werden, einer, der das Leben verändert. Und nicht nur das eigene, sondern das vieler Menschen im Herzogtum. (Großherzogtum wird das Land erst auf dem Wiener Kongress). Charlotte von Stein ist ihm dabei eine große Hilfe. Sie kennt sich aus bei Hofe, sie weiß - durch ihren Mann - wie Verwaltung funktioniert, sie liebt ihn und sie liebt den Dichter in ihm.

Nach zehn Jahren aber fühlt Goethe sich ausgetrocknet. Der lange Marsch durch die Institutionen hat nicht die Institutionen, sondern ihn verändert. Er flieht nach Italien, will wieder den Dichter in sich spüren. Er notiert, was nicht nur bei Hofe, sondern wohl auch im Management mehr oder weniger großer Konzerne gilt: "Wer sich mit der Administration abgibt, ohne regierender Herr zu sein, der muss entweder ein Philister oder ein Schelm oder ein Narr sein." Dazu hatte Goethe keine Lust mehr, also floh er nach Italien. Als er zurückkommt, hat er günstigere Bedingungen, größere Selbstständigkeit für das eigene Schaffen ausgehandelt. Aber, so zitiert Sigrid Damm Goethe, im Unterschied zum Werk seien ihm "die Lebenswerke nie recht gelungen". Wir sind mit Sigrid Damm näher an Goethe als mit jenen seiner Biografen, die uns glauben machen wollen, ihm sei "ein Kunstwerk des Lebens" geglückt. Als Goethe den Schattenriss der ihm damals noch unbekannten Charlotte von Stein sah, erklärte er: "Sie sieht die Welt wie sie ist, und doch durch's Medium der Liebe." Das "doch" ist's. Dass man die Welt sehen kann, wie sie ist und doch lieben kann, das hat Goethe an Charlotte von Stein immer wieder erfahren. Das schien ihm reizvoll auch für den Umgang mit dem eigenen Leben. Aber wir sehen darin - sowohl was Charlotte von Stein als auch was Goethe selbst angeht - doch mehr einen Wunsch, eine Sehnsucht gar, als die Erfüllung, das Kunstwerk des Lebens. Das gibt es nicht.

Jetzt habe auch ich 5000 Zeichen geschrieben und immer nur über Goethe, statt über Charlotte von Stein gesprochen. Da hilft nur eines, liebe Leserin: selbst lesen.

Sigrid Damm: Sommerregen der Liebe - Goethe und Frau von Stein, Insel Verlag, Berlin 2015, 405 Seiten, 22.95 Euro. Buch bestellen bei buecher.de.