Vom Nachttisch geräumt

Auch der Realismus ist eine Kunstform

Von Arno Widmann
15.02.2016. Fontanes auto- biografische Schriften kann man auch im Netz lesen, kann man auch im Netz, aber nur in der Brandenburger Ausgabe erfährt man, wann er schwindelt.
Der Band kostet 68 Euro! Es handelt sich um den zweiten Band von Fontanes Autobiografie. "Von Zwanzig bis Dreißig" heißt er. Wozu den kaufen, wenn ich mir Fontanes Gesamtwerk für 0,99 Cent auf meinen E-Reader herunterladen kann? Wer nur den Text lesen möchte, der wird wahrscheinlich gut bedient. Jedenfalls haben ein paar Stichproben nichts Gegenteiliges ergeben. Wer aber ein wenig mehr möchte, der wird gerne zur bei Aufbau erscheinenden Großen Brandenburger Ausgabe greifen.

Das geht sofort auf den ersten Seiten los. Fontane erzählt, wie er, von seiner bestandenen Apothekerprüfung kommend, sich ins Café setzt… Nein, nein. So würde Fontane niemals schreiben. Bei ihm ist alles konkret. Er setzt sich also nicht in ein Café, sondern nach der glücklich bestandenen Prüfung in die d'Heureusesche Konditorei. Eine kleine Abschweifung über die Geschichte der Konditorei konkretisiert die Konkretion noch einmal. Gibt ihr wie im Vorübergehen - auch in den Augen eines Lesers, der erst einmal ein hugenottisches Wortspiel vermutete - Glaubwürdigkeit. Der Kommentar erklärt dem Leser genau, wo die d'Heureusesche Konditorei war. Er sagt einem auch, dass dort Tageszeitungen für die Besucher auslagen. So dass der Leser die zweieinhalb Zeilen später vorgetragene Behauptung Fontanes, er sei in das Café gegangen, um dort den Berliner Figaro zu lesen, schluckt und sich mit Fontane darüber freut, dass der in der Zeitung die erste Folge seiner ersten Novelle "Geschwisterliebe" abgedruckt findet.

Fontane schildert sehr genau, wie er sich zunächst nicht traute, die Zeitung aufzuschlagen, wie um so ergriffener er dann davon war, seine Erzählung ausgerechnet in diesem Augenblick im Berliner Figaro zu finden. Fontane schließt diesen Tag und damit seine Schilderung des Jahres 1839 also mit dem glücklichen Zusammentreffen beider Ereignisse ab. Von nun an ist er Apotheker und Novellist. Beides amtlich beglaubigt innerhalb einer halben Stunde am 19. Dezember 1839 zwischen 15.30 und 16.00 Uhr. Fontane weist darauf hin, dass er von nun an kein "junger Herr", sondern ein "Herr" war. Die von ihm so detailliert beschriebene halbe Stunde ist also die seiner Mannwerdung oder besser seiner Verbürgerlichung. Die Passage endet übrigens mit dem Hinweis darauf, dass Fontane zu Hause nur von der Apothekerprüfung, nicht aber von der Veröffentlichung seiner Novelle berichtete. So steht es bei Fontane im E-Reader und in der Großen Brandenburger Ausgabe.

Aber. Ein dickes, ein fettes, ein unübersehbares Aber. In der Brandenburger Ausgabe gibt es einen Anhang mit Anmerkungen. Wer den liest, erfährt, dass nichts davon stimmt. Die erste Folge der Fontane-Novelle "Geschwisterliebe" war bereits am 14. Dezember 1839 erschienen, die letzte am 21. Dezember. Die Apothekerprüfung dagegen fand erst am 9. Januar 1840 statt. Die Geschichte, die Fontane erzählt, ist ein Lügenmärchen. Man könnte sie für eine Leistung seines sich die Dinge hübsch zusammenfügenden Gedächtnisses halten, wäre da nicht die Behauptung, er hätte zu Hause nichts über die Veröffentlichung der Novelle erzählt, um "sich vor Renommisterei" zu bewahren. Nichts anderes aber ist das, was er hier aufschreibt. Er weiß das. (Bild: Theodor Fontane mit 23, drei Jahre, nachdem er die Apothekerprüfung abgelegt hat. Zeichnung von Georg Friedrich Kesting)

"Vorsicht bei Grünanlagen", schrieb der Feuilletonist der Wochenpost, der unvergessene Hans Knobloch, der nicht müde wurde, darauf hinzuweisen, worüber man so gerne Gras wachsen ließ. Wer die Anmerkungen zur Brandenburger Fontane-Ausgabe liest, der lernt, dass höchste Vorsicht angebracht ist, wenn es gar zu detailliert wird. Auch der Realismus ist eine Kunstform. Wer den Eindruck von Wirklichkeit erzeugen will, der muss die Namen der Vögel kennen, die er sieht, die Straßen müssen Namen haben und ihre Einwohner eine Adresse. So etwas, denkt der Leser, kann man sich nicht ausdenken. Die Wahrheit ist eher, so etwas kann man sich nur ausdenken, denn kein Mensch kann sich das alles merken. Realismus ist die Form der Fantasie, die uns mit Realien füttert. Sie sind der Leim, auf dem wir kleben bleiben. Wer das weiß, der misstraut der literarischen Reportage. Wenn sich die Dinge gar zu schön fügen, sind sie sicher erfunden. Bei dieser Fontane-Lektüre erinnert man sich an den Kollegen, in dessen preisgekrönter Reportage man Seehofer zuschaute beim Eisenbahnspielen. Ein Erlebnis, das der Leser dem Reporter voraushatte.

Es gibt wohl mehr als hundert weitere Gründe, die Brandenburger Ausgabe zu lesen. Zum Beispiel werden auch von Fontane gestrichene Textstellen in den Anmerkungen zitiert. Zum Beispiel über seinen Freund Wilhelm Wolfsohn. "Es ließ sich an ihm die Kulturüberlegenheit der Juden ganz wundervoll nachweisen. Er war in Brody geboren und nach Odessa hin übersiedelt, wo die Eltern, durch Vermögensverluste, bald in eine sorgenvolle Lage gerieten, aber seine Knabenjahre hatten noch die guten Zeiten gesehn, in denen seine Eltern ein Haus gemacht und eine reiche Gastlichkeit geübt hatten, und diese Tage voll Repräsentation hatten ausgereicht ihm jene Formen feiner Sitte zu geben, wodurch er sich über uns alle erhob."

Stringent argumentiert ist anders. Die Formen feiner Sitte hat Wolfsohn ganz offensichtlich nicht seiner Jüdischkeit, sondern seiner gesellschaftlichen Stellung zu verdanken. Was meint Fontane mit "Kulturüberlegenheit der Juden"? Vielleicht hatte er die Erfahrung gemacht, dass die christlichen bürgerlichen Haushalte weniger Wert auf Kultur legten als die jüdischen? Man kann das nur vermuten. Fontane wird die Stelle gestrichen haben, weil er merkte, dass er viel genauer werden müsste, konziser auch. Das aber schien ihm, als er sein Manuskript bearbeitete, wohl zu mühsam und so strich er die Passage. Jetzt stehen folgende Sätze ein wenig in der Luft. "Wolfsohn dagegen ein 'feiner Herr'. Hätte nicht sein kluger, interessanter Kopf die jüdische Deszendenz bekundet, so würde man ihn für einen jungen Abbé gehalten haben; er verfügte ganz über die verbindlichen Formen und das überlegene Lächeln eines solchen, vor allem aber über die Handbewegungen." Hier schloss sich die gestrichene Textpassage an. Es wäre noch ein weiter Weg gewesen bis zur Erklärung der Handbewegungen. Ein Nebeneffekt dieser Streichung war, dass in "Zwanzig bis Dreißig" von der "Kulturüberlegenheit" der Juden, von ihren feineren Sitten nicht mehr die Rede war. 1898 war das unter Auflage-Gesichtspunkten womöglich kein Fehler.

Theodor Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig - Autobiografisches, herausgegeben von der Theodor Fontane-Arbeitsstelle, Universität, Göttingen, Große Brandenburger Ausgabe, Aufbau Verlag, Berlin 2014, 967 Seiten, 68 Euro. Buch bestellen bei buecher.de.