Virtualienmarkt

Middelhoff, Anderson und das Netz

Von Robin Meyer-Lucht
17.12.2004. Thomas Middelhoff fordert Massenumsätze auch im Internet. Für Chris Anderson, Chefredakteur von Wired, ist dagegen die Tyrannei von Hits und Mittelmaß vorbei. Doch auch die neue Ökonomie des "langen Endes" kann ein "kommerzieller Selbstmord" sein.
Als Thomas Middelhoff kürzlich auf zehn Jahre kommerzielles Internet zurückblickte, geriet sein Text zum Lehrstück in Manager-Sprache (hier). Es gibt diese Phrasen von schlagender Einfachheit mit Zustimmungs-Automatik. Manager haben sie sich bei der Politik abgeschaut. Middelhoff bediente sich ihrer ausgiebig: "Die Zukunft ist mit den Mitteln von gestern nicht zu gewinnen." Oder: "Wer unternehmerisch primär mit Blick auf den Umsatz handelt, wird weniger Erfolg haben, als derjenige, der vor allem die Interessen seiner Kunden im Auge hat."

Gerade als sich der Leser an das Herabprasseln solcher Motivationssätze gewöhnt hat, zückt Middelhoff im letzten Absatz doch noch eine sehr beachtliche Formulierung: "Massenumsätze müssen sein, damit Gewinne möglich sind." Dieser harmlos wirkende Satz tut nichts weniger als die Institution und das Geschäftsmodell der Massenmedien auch auf das Internet zu übertragen. Wuselt nicht länger in Nischen herum, ruft der einstige "Superstar der New Economy" (laut FAZ, mehr hier) der virtuellen Betriebsversammlung von umsatzgebeutelten Medienmanagern zu, sondern baut Massenmedien im Internet. Big Media müsse auch online Big Media bleiben. Middelhoff liefert die passende Instant-Logik-Phrase dazu.

Ganz anders sah dies zur gleichen Zeit Chris Anderson, Chefredakteur des inzwischen zwölfjährigen Magazins für digitale Inbrunst Wired. Anderson hat sich die Nutzungsstatistiken des Online-Musikdienstes Rhapsody und des Online-Videoverleihs Netflix angeschaut und dabei eine "radikal neue Entertainment-Ökonomie" entdeckt (hier sein ausführlicher Artikel). Die Tyrannei von Hits und Mittelmaß sei vorüber, so Anderson, denn das Internet erlaube eine viel breitere, spezifischere Distribution als der allein physische Vertrieb. Online würden die Nutzer tief in den Backkatalogen wühlen.

Im physischen Vertrieb sei der Absatz zumeist auf jenes Repertoire begrenzt, das ein Buchladen oder Videoverleih ausstellen könne. Online reiche die Absatzkurve weit darüber hinaus, so Anderson. Es entstehe die neue Entertainment-Ökonomie des "langen Endes", die nicht mehr allein vom Massenabsatz weniger Titel, sondern zugleich vom breiten Absatz lebe. Anderson verkündet auch gleich in Kevin-Kelly-Manier (zur Erinnerung) die neuen Regeln für die neue Entertainment-Ökonomie: 1. Alles verfügbar machen. 2. Preise mindestens halbieren. 3. Die Dinge finden helfen.

Anderson ist selbstredend ein versierter Verführer und Geschichtenerzähler in eigner Sache. Grandios prescht er in eine Richtung vor, denkt Technik uneingeschränkt positiv, Nutzer uneingeschränkt souverän. Auf diese Art durchbricht er so manche Tristesse über beschränkte Möglichkeiten und das Klammern an traditionelle Geschäftsmodell-Mechaniken. Er liefert einen angenehm emphatischen Beitrag zur fälligen Re-Utopisierung des Netzes. Selbst die Anzeigenkunden nervt schließlich schon die Einfalt der klassischen Medien (mehr hier).

Man ahnt es: Die "neue Entertainment-Ökonomie" des Internets ist nicht gar so einfach und wunderbar, wie Anderson sie ausmalt. Der wohl wichtigste Mechanismus hinter der Tyrannei von Hits und Mittelmaß, sozusagen die Hauptgeißel der Massenmedien in Sachen Vielfalt, ist die Fixkostendegression: In der Masse wird alles günstiger. Anderson bleibt eine Antwort schuldig, wie die gemächlich vor sich hin verkaufenden Nischenprodukte denn zu finanzieren seien.

Ein weiterer, für die Vielfalt eher ungünstiger Mechanismus ist das Auftreten sehr mächtiger Online-Händler. Da im Netz Regionalität weitgehend entfällt, verdichtet sich das Angebot schnell auf wenige große Akteure. Eine sehr unangenehme Konstellation für Zulieferer. In diesem Sommer wollte sich bekanntlich der Verlag Diogenes nicht länger von Amazon "auswringen" lassen (mehr hier). Auch iTunes diktiert Konditionen, die so manches Independent-Label als "kommerziellen Selbstmord" bezeichnet (mehr hier). Die Musikindustrie hat sich auch deshalb so schwer im Internet getan, weil sie versucht hat, einen mächtigen Intermediär wie iTunes irgendwie zu verhindern.

Für reine Online-Angebote kommt erschwerend hinzu, dass der Qualitätswettbewerb häufig an der Bezahlschranke endet. Gerade Nischenangebote wären jedoch auf direkte Zahlungen angewiesen, um sich gegenüber werbefinanzierten Massenprodukten behaupten zu können. Zugleich konzentriert sich die Internetnutzung auf erstaunlich wenige Angebote: 70 Prozent aller deutschen Internetnutzer besuchen maximal zehn Internetseiten regelmäßig, ergab die Allensbacher Studie ACTA 2004.

Die Vielfalt des Internets ist nicht so sehr das Ergebnis von Andersons "Ökonomie des langen Endes". Sie entsteht durch eine fulminante Ausweitung des selbst gewählten Zugangs, durch Globalisierung, Dekommerzialisierung, PR-isierung und ein löchriges Urheberrecht.

Dabei ist Vielfalt ohnehin nur eingeschränkt ein Problem der (Distributions-)Technik, sondern vor allem auch eines der Haltung. Stefan Zweig schrieb in seinem Essay über die "Monotonisierung der Welt": "Man kann nicht das Individuelle in der Welt retten, man kann nur das Individuum verteidigen in sich selbst. Des geistigen Menschen höchste Leistung ist immer Freiheit, Freiheit von den Menschen, von den Meinungen, von den Dingen, Freiheit zu sich selbst." So gesehen hilft das Netz jeden Tag, als geistiger Mensch etwas zufriedener zu sein. Das hat Anderson sicher auch gemeint.