Post aus Istanbul

Das große Reinemachen in Mahmutpasa

Von Constanze Letsch
26.04.2007. Im alten Handelsviertel von Istanbul, Mahmutpasa, drängeln sich Stoffhändler, Teeküchen und Goldschmiede, meist in halb verwitterten Karawansereien oder selbstgezimmerten Anbauten. Nun hat die Regierung ihnen ein Ultimatum gestellt. Bis Ende Juni müssen sie die historische Halbinsel verlassen haben.
Neben dem gepriesenen Stadtviertel Sultanahmet, bekannt für die Hagia Sophia, die Blaue Moschee oder den Topkapi-Palast, liegt, von Touristen weitgehend unbeachtet, das größte und älteste "Einkaufszentrum" der Stadt, Mahmutpasa. Einstiger Handelsknotenpunkt, ist das Viertel vor allem seit der Liberalisierung der Märkte 1980 zunehmend ins Abseits geraten. Mit Fortschrittlichkeit verbinden Türken heute den Bummel in einer der großen Shopping Malls, die überall gebaut werden, oder entlang den Einkaufsstraßen von Sisli, Kadiköy, Beyoglu oder der luxuriösen Bagdat-Straße auf der asiatischen Seite. Auch das Leben auf Kredit und Kreditkarten hat in den letzten Jahren an Attraktivität gewonnen: fast alles ist in der Türkei auf Raten zu haben, Bücher, Kleidung, Waschmaschinen. Sogar Supermärkte bieten ihren Kunden an, Schulden Stück für Stück zu begleichen. Damit können die kleinen Händler in Mahmutpasa nicht konkurrieren. Jetzt stellt auch die Stadtverwaltung den Händlern ein Ultimatum - bis zum 30. Juni 2007 sollen Werkstätten, Großhändler und deren Lager endgültig die historische Halbinsel verlassen.

Das Viertel ist trotz eines merklichen Rückgangs an Kunden und Popularität ab den frühen Nachmittagsstunden voller Menschen. Es sind vor allem Einwohner aus umliegenden Stadtvierteln, zu großen Teilen Zuwanderer aus dem ländlichen Anatolien, die sich den Einkauf in den, ohnehin praktisch nur mit dem Auto zu erreichenden, großen Einkaufszentren, nicht leisten können. Mahmutpasa ist ein Labyrinth kleiner Straßen und verschachtelter Häuser. Hier wird nicht nur geschaut, sondern berührt, gefühlt, gerochen, gekostet und ausprobiert, bevor man sich für eine Ware entscheidet. Neben Gewürz- und Kaffeehändlern ist Mahmutpasa ein Zentrum für Textil- und Schmuckhandel. Viele Großhändler arbeiten hier, Werkstätten unterhalten hier ihre Lager. Oft muss man in einen offenen Laden flüchten, um nicht einem der Lieferwagen zum Opfer zu fallen, die noch durch die engsten Gassen navigiert werden. Wo die großen LKWs beim besten Willen nicht mehr hinkommen, warten Träger auf Arbeit. Sie sitzen an Ecken und in Höfen, ihre gepolsterten und mit Leder und alten Stücken Teppich beschlagenen Lastenrucksäcke lehnen an der Wand. Gibt es einen Kunden, der ihre Dienste in Anspruch nimmt, schleppen sie riesige Ballen von Stoff oder immense Pakete mit Textilien die Hänge hinauf.

Überall sieht man die cayciler, auf ihren Tabletts leere und volle Teegläser balancierend, eilig über die Straßen, von Laden zu Laden, laufen. Den leeren Tulpengläsern, von Kunden wahllos überall abgestellt und von den caycilern sorgfältig wieder eingesammelt, begegnet man an Straßenecken, vor Ladentüren, auf alten Kisten oder den Dächern geparkter Autos. Teeküchen können überall sein: in einem kleinen Seitenhof, in Einfahrten oder eingeklemmt zwischen den Läden. Oder wie die Teeküche in einer winzigen Passage in der Nähe des Gewürzmarktes: In einer winzigen Laube aus Aluminiumbauteilen, in der gerade genug Platz ist für eine kleine Spüle, einen Großküchensamowar, auf dem mehrere silberne Kannen mit Teekonzentrat stehen, und Regale, auf denen sich die Tulpenteegläser bis unter die niedrige Decke stapeln. An einem Ast des Baumes im Hof hängen Teetabletts zum Trocknen. Ein niedriger, mit Linoleum beschlagener Tisch und kleine gepolsterte Metallhocker bieten Raum für einen kleinen Freisitz, für diejenigen gedacht, die auf eine Zigarettenlänge dem Dunkel einer Werkstatt oder der Hektik eines Ladens entkommen wollen. Wer sich solche Pausen nicht gönnen kann oder möchte, kann den Tee auch bestellen: sogar ein Abonnement zu diesem Zweck existiert, wird mir erklärt - man erwirbt eine bestimmte Anzahl an kleinen Plastikchips, die man im Voraus bezahlt und, Glas für Glas, gegen den bestellten Tee eintauscht.

Der Namensgeber des Viertels war ein Wesir des Eroberers von Istanbul Sultan Mehmet Fatih. Mahmud Pascha ließ den religiös-sozialen Komplex, die külliye, errichten, zu der eine Moschee, ein Hospital, ein Hamam, eine Schule und, in attraktiver Nähe zum Hafen, 265 Läden, Werkstätten, Manufakturen gehörten. Zahlreiche große und kleinere hans, Gebäude ähnlich den Karawansereien, entstanden. "Geschichte in jedem Laden, Spuren vergangener Zeiten in allen Straßen" wirbt die englische Webseite des Bürgermeisteramtes Eminönü zu dem auch Mahmutpasa gehört.

Aber die Nostalgie hat hier schon lange einen bitteren Beigeschmack. In einer Straße, die unmittelbar an den Großen Bazar grenzt, liegt das Geschäft von Kevork Cubukciyan. Eine Holztür, die, weil das Wetter so schön ist, weit offen steht und den Blick freigibt auf einen kleinen, aber verhältnismässig hohen Raum, der so schmal ist, dass eine Person gerade darin Platz findet. In Regalen, in Kisten, Körben und Schubladen stapeln sich Garne, Stricke, Litzen, Rollen von Fäden und Kordeln verschiedenster Machart und Farbe. Die Händler und Handwerker waren zu Zeiten des Osmanischen Reiches in Gilden organisiert, die gemeinsam in einem Teil des Viertels angesiedelt waren. Das ist heute noch sichtbar: in Mahmutpasa gibt es Garnhändler-Straßen, Spielzeug-Straßen, Tischler-Straßen, Schmuck-Straßen, Straßen für Elektrowaren. Dieses System setzt eine gewisse Solidarität der Händler untereinander voraus, aber auch und vor allem ein Gefühl für Marktlücken. Kevork Cubukciyan zeigt auf einen Korb mit verschiedenfarbigen dicken Garnen. "Diese Sorte gab und gibt es nur bei mir."

Er holt mit dem Arm aus und weist die Straße hinunter. "In dieser Straße waren früher nur Garnhändler", sagt er. Jetzt verkaufen die meisten rosa und hellblaue Sommerhüte und Baseballcaps. Sein eigener Laden, "Gülbas Ipcilik ", ist einer der ältesten am Platz, und immer noch kommen viele Kunden zu ihm, wenn sie den Rat eines Spezialisten benötigen. Er ist Armenier, sein Vater hat das Geschäft aufgebaut. Der Handel mit Garnen, sagt er, sei früher fest in armenischer Hand gewesen. Seine eigene Tochter hat Medizin studiert und arbeitet jetzt als Gynäkologin in einem Istanbuler Krankenhaus. Darauf ist er besonders stolz. "Es ist schwer geworden, in unserer Branche Geld zu verdienen. Wir versuchen, das Beste daraus zu machen, aber die Zukunft liegt nicht in Mahmutpasa." Seit man von mittelgroßen Werkstätten auf industrielle Fertigung umgestiegen ist, kaufen große Textilbetriebe ihre Garne direkt aus der Fabrik, und die Straße der Garnhändler in Eminönü wird mehr und mehr zu einer Anlaufstelle für Kunden, die ein ganz privates Interesse am Nähen haben.

Hüseyin Berabi, ein Textilhändler, schimpft über die Ignoranz der Türken gegenüber ihrem historischen Erbe. Da, der Lüfter der Klimaanlange, der etwas schief an der verwitterten Wand einer alten Karawanserei gegenüber hängt, das sei eigentlich verboten. "Aber alle machen es. Und wir melden diese Dinge ja auch nicht." Tatsächlich entsteht hier das meiste ohne Baugenehmigung, viele erweitern unter dem Vorwand einer Reparatur oder von Ausbesserungsarbeiten gleich die gesamte Ladenfläche. Die ineinandergestapelten Werkstätten und übereinandergestapelten Läden, die alten Gemäuer und die alugerahmten Schaufenster der vielen kleinen Produktions-und Verkaufsnischen wirken wie miteinander verwachsen. Was statisch irgendwie möglich ist oder für möglich gehalten wird, wird auch verwirklicht. Diesem investorischen Drang fällt ab und an eine historische Wand zum Opfer, hier und da eine Fassade und wenn es sein muss, auch ein ganzes Gebäude. Und die Objekte, die der Bauleidenschaft noch nicht weichen mussten, sind oft halb verfallen, Pflanzen und Regenwasser bahnen sich ihren Weg durch den Mörtel.

Sein eigener holzverkleideter Laden ist schon über 75 Jahre alt, der Vater, ein Immigrant aus Aserbaidschan, hat ihn in der Gründungszeit der Republik aufgemacht, als Mahmutpasa noch das Herz des Textilhandels der Türkei war. "Istanbul hat großartige Sehenswürdigkeiten zu bieten, aber solange die alten Karawansereien als Herberge für illegal gebaute Läden und Werkstätten dienen, werden die Touristen nicht nach Mahmutpasa kommen." Weil sein Laden der Konkurrenz nicht mehr gewachsen ist, sieht er seine Chance in einer vollständigen Umorientierung: Restaurierung der historischen Gebäude und Fokussierung auf Luxustourismus statt biederem Handel und herkömmlichem Handwerk. Er ist überzeugt, dass Istanbul eine Pilgerstätte für Geschichts-und Kulturbegeisterte werden könnte, und versteht nicht, warum man in Mahmutpasa nicht vollständig auf Tourismus setzt, bevor es zu spät ist.

Mit dieser Meinung ist er nicht allein: bei der offiziellen zweijährlichen Sitzung der Unesco, die 2006 in Litauen stattfand, sahen sich die Istanbuler mit der Drohung konfrontiert, dass ihre historische Altstadt wieder von der Liste der Weltkulturerben gestrichen würde, in die sie 1985 aufgenommen worden war, wenn man sich nicht bereit erkläre, sich besser um die Gebäude zu kümmern. Man versprach alarmiert Besserung. Bis zur Unesco-Sitzung 2008 sollen die Probleme im Viertel Mahmutpasa behoben sein.

Dabei geht es nicht nur um illegalen Aus-und Umbau von Gebäuden: Während das Be-und Entladen von LKWs, die zum großen Teil für die Textilhändler liefern, für erhebliche Verkehrsstaus und Abgasschäden verantwortlich ist, sind es vor allem die Goldschmieden, die Stadtplanern Kopfschmerzen bereiten. Mustafa Ercan Özgür, Vorstandsvorsitzender der Kuyumcukent-Kooperative der Juweliere, erklärte nach einer Untersuchung im letzten Jahr, dass die Schmuckwerkstätten täglich an die 300 Tonnen Giftmüll produzierten. Anfallende Chemikalien wie Zyanid, Schwefel-und Salpetersäure würden nicht fachgerecht entsorgt und stellten damit eine große Gefahr für die Umwelt dar.

Der Oberbürgermeister von Istanbul, Kadir Topbas, umreißt die Pläne für die historische Halbinsel so: "Manche Fertigungsstätten, besonders die Goldschmieden, sind der Grund für ernsthafte Verschmutzung. Diese Werkstätten müssen in geeignetere, modernere und besser organisierte Plätze umziehen und für die Halbinsel muss der Schwerpunkt auf Dienstleistung und Tourismus gelegt werden. In diesem Zusammenhang sind erste Maßnahmen ergriffen worden. Zeiträume sind festgelegt worden. Wir müssen uns für die eigene Geschichte einsetzen." Er fährt fort: "Wer nicht bereit ist, in die an den Ansprüchen modernen Handelns orientierten Zentren umzuziehen, gegen den werden entsprechende Schritte unternommen werden."

Das Projekt der Stadtverwaltung sieht vor, bis zum 30. Juni diesen Jahres alle Werkstätten, Großhändler und Lager aus Mahmutpasa auszulagern, die Straßen im Viertel zum großen Teil für den Autoverkehr zu sperren und alle illegal gebauten Läden und Häuser abzureißen. Die heimatlos werdenden Gilden sollen in die industriellen Außenbezirke der Stadt verlagert werden, wo längst alle großen Fabriken und Markenkonzerne ihren Sitz haben. Riesige, architektonisch einfallslose Zentren sind dort, in logistisch günstiger Nähe zum Flughafen und angebunden an die großen Verkehrsadern, entstanden. Sie haben monströs anmutende Namen wie "Kuyumcukent" (Juwelierstadt) oder "Giyimkent" (Kleidungsstadt). In diesen Industriekomplexen sollen Fabriken, Werkstätten, Lager und Verkaufsräume der einzelnen Branchen unter einem Dach vereint werden. Auch die staatliche Kontrolle soll so einfacher werden: der größte Teil der Textil - und Schmuckfirmen in Eminönü arbeitet illegal.
Auch aus der EU sollen Gelder für die Sanierung der alten Gebäude in Mahmutpasa kommen. Die Häuser in Fener-Balat, einem Viertel am Ufer des Goldenen Horns, werden bereits mit europäischen Geldern saniert. Und es ist sicher auch die von der Erdogan-Regierung angestrebte Mitgliedschaft in der Europäischen Union, die den Premierminister kompromisslose Töne anschlagen lässt, was den Zustand der historischen Halbinsel angeht. Hinzu kommt, dass Istanbul, neben der deutschen Stadt Essen und der ungarischen Stadt Pecs, 2010 eine der europäischen Kulturhauptstädte sein wird. Um die Stadt den ästhetischen Ansprüchen anzupassen müssen, daran lassen Regierung und Stadtverwaltung keinen Zweifel, eben Abstriche gemacht werden.

"Alles muss raus" lautet das im Handel nicht unbekannte Motto der Obrigkeit - wer die vorgeschriebene Frist bis zum 30. Juni 2007 nicht einhält, muss damit rechnen, dass ihm von der Stadt Strom, Gas und Wasser einfach abgestellt werden.

Während Händler wie Hüseyin Berabi sich von den Sanierungsmaßnahmen eine Chance versprechen, sehen viele andere dem Projekt mit großer Skepsis entgegen. Der Besitzer einer kleinen Reisküche ist von der Idee, den Textilhandel in die Vororte zu verlegen, nicht begeistert. Er, der pilavci, hat seine gesamten Ersparnisse in sein kleines Lokal investiert. Zu seinen Kunden gehören zum größten Teil Textilarbeiter aus den anliegenden Werkstätten und Läden. Reis, pilav, mit oder ohne Huhn ist eine beliebte und vor allem billige Mahlzeit: ein Schälchen ist schon für eine Lira zu haben. Einen Umzug in die großen Industriezentren kann er sich nicht leisten. Und wie sollte er dort zu Kunden kommen ? Er überlegt weiter: " Viele derer, die hier arbeiten, wohnen in den umliegenden Stadtteilen. Wenn sie in die Vororte, nach Yenibosna oder Esenler, fahren müssen, werden sie einerseits viel Zeit unterwegs verbringen, andererseits wird ein großer Teil ihres ohnehin geringen Gehalts für Fahrgeld draufgehen." Das ambitionierte Projekt der Stadt, davon sei nicht nur er überzeugt, würde viele kleine Geschäfte in den Ruin treiben. Viele Läden seien in ihrer Existenz bedroht.

Viele der kleineren Goldschmieden zögern, ihren Standort nach Kuyumcukent zu verlegen, da sie fürchten, dort, Tür an Tür mit den großen Marken der Branche, nicht mehr konkurrenzfähig zu sein. Ein Großteil der Juwelierläden im und um den Großen Bazar herum leben von Laufpublikum und Touristen. Nach Yenibosna, wo die Kuyumcukent-Kooperative residiert, werden sich diese zufälligen Kunden nicht verlaufen. Auch die Textilbranche ist dem Ruf von Handelskammer und Regierung nur sehr zögernd gefolgt. Giyimkent, Kuyumcukent, Tekstilkent - die ambitionierten Großprojekte sind bereits jetzt zu Geisterstädten geworden. Die riesigen Gebäudekomplexe verfallen, bevor sie genutzt wurden. In der Tageszeitung Radikal wird Bilanz gezogen: Im Januar 2007 standen 75 Prozent von Tekstilkent leer, 70 Prozent der Fläche von Giyimkent war ungenutzt und auch für die Juwelierstadt Kuyumcukent sieht es nicht besser aus: Nur 30 Prozent konnten bis zum Anfang dieses Jahres vermietet werden. Deswegen verlegt man sich jetzt vom Bitten aufs Drohen. Bei der Eröffnung des Kuyumcukent-Autobahnkreuzes am 23. Dezember 2006 war die Wut des Premierministers Recep Tayyip Erdogan zu spüren: "Dass nur 30 Prozent der Händler hier sind, ist Landesverrat." Er hatte, als er noch Oberbürgermeister von Istanbul war, den Grundstein für das Kuyumcukent-Projekt gelegt.

Der Reisverkäufer in Mahmutpasa macht sich keine Illusionen: "Immer wenn eine neue Partei den Stadtbezirk übernimmt, werden neue Pläne gemacht. Denen geht es doch nur um Wählerstimmen und den eigenen Verdienst." Zur Zeit stellt die islamische Regierungspartei AKP den Stadtteilbürgermeister von Eminönü. Was aus den Händlern, Werkstätten und Gebäuden tatsächlich wird, wird vielleicht die nächste Wahl entscheiden.