Post aus Istanbul

Mundtot gemacht

Von Constanze Letsch
21.03.2012. Mit der Pressefreiheit ist es in der Türkei nicht gut bestellt. Journalisten werden verhaftet und auf der Grundlage schwammiger Gesetze angeklagt. Es wird immer schwieriger, kritisch über die Regierung Erdogan zu berichten.
Nachdem ein Richter die prominenten türkischen Journalisten Ahmet Sik und Nedim Sener sowie zwei weitere Journalisten der Webseite OdaTV am Abend des 12. März nach 375 Tagen Haft gegen Kaution entließ, wurden sie vor dem Eingang zum Istanbuler Gerichtshof in Caglayan von ihren Familien, Freunden und Unterstützern mit Jubel empfangen - doch über 100 Journalisten sind in der Türkei weiterhin in Haft, mehr als in China und in Iran.

Vor den Fernsehkameras sagte Ahmet Sik: "Erst wenn diejenigen unter der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Richtern, die sich so gegen uns verschworen haben, in dieses Gefängnis gehen, wird Gerechtigkeit in der Türkei Einzug halten."

Sik und Sener sind angeklagt, Mitglieder der sogenannten Ergenekon-Verschwörung zu sein - ein nationalistischer Geheimbund mit Wurzeln im türkischen Militär, der gegen die konservativ-islamische AKP-Regierung putschen wollte. Und während das Gericht die Freilassung mit der Länge der Untersuchungshaft und einer möglichen Änderung der Vorwürfe begründete, ist immer noch unklar, auf welcher Grundlage die Anklage eigentlich beruht. Die Festnahme der Journalisten im Zuge der sogenannten "Ergenekon-Operationen" am 3. März 2011 (mehr hier) hatte in der Türkei für Schock und Entrüstung gesorgt.

Sowohl Ahmet Sik als auch Nedim Sener sind in der Türkei für ihre aufklärerischen Recherchen und als Putschgegner bekannt: Zusammen mit Ertugrul Mavioglu, dem Nachrichtenchef der Tageszeitung Radikal, brachte Sik 2010 ein zweibändiges Buch über den ultranationalistischen Geheimbund Ergenekon heraus, und war während seiner Arbeit beim Nachrichtenmagazin Nokta, das 2007 die sogenannten "Putschtagebücher" veröffentlichte, maßgeblich an der Aufdeckung einer Serie von Putschversuchen beteiligt. Nedim Sener untersuchte die grobe Fahrlässigkeit von Polizei und Staatsanwaltschaft bei der Aufklärung des Mordes an dem armenisch-türkischen Verleger und Menschenrechtler Hrant Dink, der am 19. Januar 2007 in Istanbul auf offener Straße erschossen worden war, und glaubte, eine Verbindung zu Ergenekon herstellen zu können. Für seine Bücher ist Sener in der Türkei und international mehrfach ausgezeichnet worden.

Zuletzt arbeitete Ahmet Sik an einem Buch, das die islamische Fethullah-Gülen-Bewegung und deren zunehmenden Einfluss auf die türkische Polizei unter die Lupe nahm - und obwohl der gegen Ahmet Sik und Nedim Sener ermittelnde Staatsanwalt eine Verbindung abstritt, wurde das unfertige Manuskript des Buches "Die Armee des Imams" vom Computer Siks gelöscht und weitere Exemplare konfisziert.

Für die Unterstützer Siks und Seners ist die Behauptung der Staatsanwaltschaft, die Journalisten seien selbst Mitglieder der putschwilligen Terrororganisation, schlicht lächerlich. Sie argumentieren, dass das Verfahren gegen Ahmet Sik und Nedim Sener einzig auf fabrizierten Beweisen beruht und dazu dienen soll, Regierungskritiker mundtot zu machen. Ekrem Güzeldere, Politikwissenschaftler bei der Europäischen Stiftungs-Initiative in Istanbul, sagte im Interview: "Ahmet Siks Buch beruht auf zugänglichen Dokumenten der letzten Jahrzehnte, da ist nicht viel Neues. Man kann sich die Verhaftungen also nur so erklären, dass man unliebsame Themen nicht behandelt haben möchte."

Doch die Liste unliebsamer Themen ist lang, und seit 2011 - laut der türkischen Menschenrechtswebseite Bianet ein "Jahr des Kampfes für Journalisten" - sitzen in der Türkei mehr Journalisten im Gefängnis als in sonst einem Land. Die genaue Zahl derer, die aufgrund ihrer journalistischen Tätigkeit inhaftiert sind, ist nicht klar, da die türkischen Anti-Terror-Gesetze der Staatsanwaltschaft erlauben, die Anklageschrift geheim zu halten. Die Türkische Journalistengewerkschaft schätzt, dass 94 Journalisten in Haft sitzen, die Gruppe Freunde von Ahmet Sik und Nedim Sener gibt 104 Personen an - die Hälfte von ihnen arbeitet für kurdische Medien.

Laut dem Jahresbericht der Organisation Reporter ohne Grenzen von 2011 hat sich die Türkei seit 2010 um ganze zehn Plätze verschlechtert und belegt jetzt unter insgesamt 178 Ländern nur noch Platz 148 auf der Rangliste der Pressefreiheit - und liegt damit hinter Kolumbien, Kongo und Algerien und nur zwei Plätze über Afghanistan. Der Bericht zieht eine beunruhigende Bilanz: "Die beispiellos große Anzahl von Verhaftungen, sehr viele Telefonabhörungen und die Missachtung der Geheimhaltung journalistischer Quellen haben in den [türkischen] Medien ein Klima der Einschüchterung und Selbstzensur geschaffen."

Regierungschef Recep Tayyip Erdogan reagierte ungehalten auf den Vorwurf, die Türkei würde die Pressefreiheit im Land beschneiden und nannte den Bericht von Reporter ohne Grenzen eine "Schmierenkampagne gegen die Türkei": "Die, die sie 'Journalisten' nennen, sind Polizistenmörder, Sexualstraftäter und Putschisten", sagte er auf der 25-Jahr-Feier der regierungsnahen Tageszeitung Zaman.

Während Ekrem Güzeldere darauf hinweist, dass viele bis dato tabuisierte Aspekte der jüngeren Geschichte - das Massaker an Kurden in Dersim 1938, der Militärputsch von 1980, die Rolle der türkischen Armee bei Menschenrechtsverletzungen und Kritik am Kemalismus jetzt viel offener diskutiert werden können als noch vor zehn Jahren, fügt er hinzu, dass es die türkischen Gesetze Staatsanwälten leicht machen, Journalisten hinter Gitter zu schicken: "Problematisch sind zwei Sachen: zum einen die sehr schwammige Definition von 'Terrorismus' im Artikel 220 des türkischen Strafgesetzes, und zum anderen der Artikel 7 des 2006 verabschiedeten Anti-Terror-Gesetzes, das den Begriff 'Terror' so weit fasst, dass Leute, die Propaganda für eine illegale Organisation machen, als Mitglied dieser Organisation behandelt werden." Und er erläutert: "Dabei ist es sehr willkürlich, was unter Propaganda gezählt wird, aber das können schon Interviews mit Mitgliedern einer illegalen Organisation sein." So können Interviews mit Mitgliedern der illegalen Kurdischen Arbeiterpartei PKK, wie sie zahlreiche Journalisten in der Türkei geführt haben, als "Terrorismus" ausgelegt werden.

Vergessen scheint der versöhnliche Ton, den Premierminister Erdogan noch nach seinem überwältigenden dritten Wahlsieg am 12. Juni 2011 anschlug, als er versprach, offen für Einwürfe und Kompromisse zu sein. Der Regierungschef reagiert oft besonders dünnhäutig auf Kritik in der Presse: Er soll seit 2005 auf persönliche Klagen hin 500.000 Lira von Gerichten zugesprochen bekommen haben. Zuletzt beschuldigte er die linksliberale Taraf, ihn in seiner Würde verletzt zu haben, nachdem die Tageszeitung in einem Leitartikel geschrieben hatte, Erdogan sei zunehmend "arrogant, unwissend und uninteressiert" an Reformen. In einem Interview mit dem türkischen Medienportal Bianet sagte Prof. Dr. Mehmet Altan, Dozent an der Wirtschaftsfakultät der Istanbul Universität: "Die AKP erträgt keine Berichterstattung, die sie in irgendeiner Weise in negativem Licht dastehen lässt. Solche Berichte finden in den Medien einfach keinen Platz mehr."

Was Meinungsfreiheit angeht, misst die türkische Regierung gern mit zweierlei Maß: Nachdem das französische Verfassungsgerichts am 28. Februar 2012 entschied, das von Parlament und Senat verabschiedete Völkermordgesetz zu kippen, das die Verleugnung des Genozids an den Armeniern unter Strafe gestellt hätte, jubilierte die türkische Regierung. Wochenlang hatte man sich in Ankara gegen das gesetzlich vorgeschriebene "Einmischen in die Geschichte" und das "Schandgesetz" echauffiert, und argumentiert, das Völkermordgesetz würde die Meinungsfreiheit verletzen. Zu Recht, entschieden Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International und Reporter ohne Grenzen, doch die Aufforderung an die türkische Regierung, jetzt ihrerseits Rückgrat zu beweisen und Gesetze wie den umstrittenen Artikel 301 des Strafgesetzes, der die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt, sowie Gesetz 5816, das verbietet, das Andenken Atatürks zu beleidigen, endlich abzuschaffen, blieben ungehört.

Am 1. Februar brachte die Regierung schließlich doch ein Reformpaket, das sogenannte "3. Gesetzespaket", ins Parlament ein, am 13. Februar wurde es verabschiedet. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) kritisierte jedoch, dass die vorgesehenen Änderungen nicht ausreichten, und in ihrer jetzigen Form "nicht mehr als bloße Augenwischerei" seien: "Wenn es der türkischen Regierung mit Reformen wirklich ernst wäre, müsste sie mehr Mut beweisen und Gesetze abschaffen, die die Meinungsfreiheit eingrenzen und nur noch direkte Aufrufe zu Gewalt unter Strafe stellen", sagte die für die Türkei zuständige Emma Sinclair-Webb in einer Pressemitteilung.

Laut Ekrem Güzeldere fehlt zu grundlegenden Reformen der politische Wille: "Legal wäre es sehr einfach möglich, die Gesetze zu ändern - [die AKP-Regierung] bräuchte keine Verfassungsänderung und keine Zwei-Drittel-Mehrheit, sondern nur eine einfache Mehrheit, die sie ja sowieso hat. Man könnte das noch diese Woche machen." Seiner Meinung nach hat sich nicht das repressive System geändert, das bis vor zehn Jahren noch der kemalistischen Elite und dem Militär half, die Opposition zu unterdrücken, sondern lediglich die Akteure, die die damals etablierte Doktrin jetzt für sich nutzen: "Das autoritäre System, das früher von der alten Elite - den Kemalisten und dem Militär - genutzt wurde, um bestimmte Berichterstattungen zu unterbinden, ist ähnlich geblieben, nur die Elite hat sich geändert, und Kritik an der Regierung und an bestimmten Organisationen ist auf jeden Fall schwieriger geworden."

Kommentatoren reagierten mit verhaltenem Optimismus auf die Freilassung der vier Journalisten am 12. März 2012. Oral Calislar, ein Kolumnist in der Tageszeitung Radikal sah sie als einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung: "Ich möchte die Freilassung Ahmet Siks und Nedim Seners als einen Hoffnungsschimmer verstehen, mit dem die Mentalität, die Türkei durch Verhaftungen zu regulieren, aufgebrochen wird." Und: "Das Menschenrechtszeugnis der Türkei muss jetzt schnell aufgebessert werden."Koray Caliskan schrieb: "Bevor nicht alle die, die aufgrund ihrer Ideen eingesperrt werden, frei sind, so wie Büsra Ersanli oder Ayse Berktay, kann sich niemand wirklich freuen."

Nedim Sener machte deutlich, dass er nicht aufgeben will: "Als ich ins Gefängnis ging, sagte ich, dass ich mich für Hrant, und für Gerechtigkeit einsetzen will, und dasselbe sage ich jetzt bei meiner Freilassung. […] Die Wahrheit lässt sich nicht einsperren."