Post aus Istanbul

Flirt mit dem chinesischen Modell

Von Constanze Letsch
06.02.2014. In der Türkei hat das Parlament gestern Nacht ein Gesetz verabschiedet, das das Abschalten unliebsamer Webseiten erleichtert. Befürworter loben es als Schutz der Bevölkerung, Gegner sprechen von Zensur. Präsident Erdogan findet: Twitter ist der größte Unruhestifter in heutigen Gesellschaften.
Internetnutzer in der Türkei können nie sicher sein, angeforderte Webseiten auch aufrufen zu können. Statt der erhofften Seite erscheint oft eine Nachricht der türkischen Telekommunikationsbehörde - blau auf rosa Grund - die bürokratisch schroff auf einen gerichtlichen Beschluss zur Schließung der Seite hinweist. Eine nähere Begründung bleibt meist aus.

Jetzt hat es das unabhängige Onlinenachrichtenportal Vagus TV getroffen - seit Ende Januar ist die Seite von der Türkei aus nur noch über Proxy Server zu erreichen. Der Journalist Serdar Akinan gründete Vagus, nachdem seine Zeitung ihn gefeuert hatte - er ist nur einer von vielen Journalisten in der Türkei, die sich quer stellten und dafür abgestraft wurden.

Nachdem seine Seite gesperrt war, tweetete Akinan: "Sind wir überrascht? Nein? Vagus TV wurde gesperrt. Warum? Denken Sie mal drüber nach." Laut der türkischen Zeitung Cumhuriyet liegt kein richterlicher Beschluss zur Blockade der Seite vor. Das könnte jetzt in der Türkei zur Norm werden.

Gestern Nacht wurde vom türkischen Parlament ein Gesetzesvorschlag des Familien-und Sozialministeriums angenommen, der auch einfachen Behörden das einfache Abschalten unliebsamer Webseiten erlaubt. Laut der türkischen Zeitung Hürriyet ist es Ziel des Gesetzes, "Familie, Kinder und Jugendliche vor Menschen im Internet zu schützen, die Drogenmissbrauch, sexuellen Missbrauch und Selbstmord begünstigen." Doch der Fall Vagus TV ist für viele der Beweis, dass diese Begriffe extrem dehnbar sind und der Regierung nicht der Schutz türkischer Bürger, sondern der eigenen Interessen am Herzen liegt.

Bislang war der Beschluss eines Richters notwendig, um Webseiten abzumahnen oder gar ganz vom Netz zu nehmen, doch das neue Gesetz macht Schluss mit dem Richtervorbehalt. Es zwingt Provider außerdem, Nutzerdaten bis zu zwei Jahre zu speichern und den Behörden zur Verfügung zu stellen. Bei Zuwiderhandlung drohen hohe Geldstrafen. Vor allem für kleinere Anbieter bedeutet diese Regelung Investitionen in Speicherplatz und neue Logistik, die sie sich oft nicht leisten können.

Vagus TV berichtete ausführlich immer wieder über die Korruptionsaffäre, die das Land seit Wochen in Atem hält und in die auch die Söhne mehrerer Minister und andere hohe Staatsbeamte verwickelt sind. Mitte Januar blockierte die Türkei Zugang zum Videoportal Vimeo, da über die Seite oft Clips zu Antiregierungsprotesten verbreitet wurden. Die Blockade des internationalen Portals wurde am Folgetag aufgehoben, aber Vagus TV bleibt geschlossen - Kritiker warnen vor "Zensur auf leisen Sohlen" und sagen ein zunehmend lautes Verbotsgetrappel voraus.

Internationale Gruppen wie Reporter ohne Grenzen mahnten die türkische Regierung, die ohnehin stark angeschlagene Meinungsfreiheit im Land nicht noch weiter einzugrenzen. Anwälte sprechen von einem Verstoß gegen die türkische Verfassung.

Wirtschaftsgruppen wie der größte türkische Unternehmerverband TÜSIAD warnten, dass eine so strenge staatliche Internetkontrolle unvorhersehbare Investitionseinbrüche mit sich bringen würde. In einer offiziellen Erklärung erklärte der Verband: "Bestimmungen, die fundamentale Rechte und Freiheiten einschränken und die stetig wachsende Internetökonomie beeinträchtigen, sollten aus dem Gesetzesvorschlag entfernt werden. Es widerspricht dem erklärten Ziel der Türkei, eine Informationsgesellschaft zu entwickeln, wenn Informationen und ihre Verbreitung ständig im Kontext von Verboten diskutiert werden. Wir erwarten, dass der jetzige Gesetzesvorschlag durch Hinweise von Nichtregierungsorganisationen, Akademikern und Akteuren im Internetsektor verbessert wird."

Faruk Eczacıbaşı, Mitglied im Vorstand von Eczacıbaşı Holding und einer der führenden Köpfe im türkischen e-commerce, stimmte TÜSIAD im Gespräch mit einer türkischen Zeitung zu: "Das Internet muss hundertprozentig frei sein. Natürlich müssen bestimmte Straftatbestände festgelegt werden, aber hier wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen." Er warnte davor, dass Investoren unter diesen Umständen die Türkei zukünftig meiden würden.

Zensur und eine strenge Internetkontrolle sind nichts Neues in der Türkei. So wurde das populäre Internetportal Youtube im Jahr 2007 für 18 Monate gesperrt, nachdem es Kritik an Videos gegeben hatte, die die türkische Regierung als Beleidigung von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk einschätzte. Vor einem Jahr urteilte der Europäische Menschenrechtshof, dass das bestehende Internetgesetz in der Türkei die Europäische Menschenrechtskonvention und die Meinungsfreiheit verletze.

Hüseyin Çelik, Regierungssprecher und stellvertretender Vorsitzender der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) weist alle Vorwürfe von Zensur zurück: "Die Türkei ist nicht China und wird in dieser Hinsicht niemals wie China werden. Sind wir uns nicht alle einig, dass manche Gesetze für soziale Medien und Internet-Medien nötig sind? Überall auf der Welt gibt es Regulierungen auf Basis weltweiter Standards."

Auch Kommunikations-und Transportminister Lütfi Elvan vertritt die Meinung, dass mehr Kontrolle mehr Recht auf Privatheit bedeutet. In einer Parlamentsdebatte bestritt auch er die Gefahr verstärkter Zensur: "Diese neuen gesetzlichen Regelungen zielen darauf ab, individuelle Recht zu schützen. Wenn einer unserer Bürger Opfer [einer Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte] wird, muss er nicht länger auf eine Antwort des Providers warten. Er kann direkt vor Gericht gehen. Diese rechtlichen Änderungen werden keinesfalls Zensur mit sich bringen. Sie werden [der Türkei] helfen, die Standards entwickelter Staaten zu erreichen und das bestehende Gesetz funktionaler machen."

Kritiker sind jedoch der Meinung, dass diese Versprechungen nur ein willkommener Vorwand sind, kritische Stimmen im Netz künftig einfach abzuschalten, und dass es vor allem die zunehmend unter Beschuss geratene Regierung sein wird, die sich in ihren "Privatrechten" angegriffen sieht: vor allem oppositionelle Nachrichtenportale haben in den letzten zwei Monaten aktiv über die Korruptionsaffäre und die scheiternde türkische Syrienpolitik berichtet.

Die Istanbuler Anwaltskammer bezeichnete die Behauptung, Privatrechte schützen zu wollen, wütend als "Augenwischerei".

Die Netzaktivisten des Vereins für Alternative Informatik betonen außerdem, dass sich Persönlichkeitsrechte und das Recht auf Meinungsfreiheit nicht gegenseitig aussschließen. In einer Pressemitteilung schreiben sie: "Es ist traurig, dass die Gesetzesänderung die 'Diskriminierungskarte' benutzt, um die neuen Restriktionen zu rechtfertigen. Zensur sollte nie als eine Lösung für Rassismus, Hetze und Sexismus angesehen werden. Da wir an zahlreichen Beispielen sehen können, auf welche Weise die Regierung solche Gesetze anwendet, sind wir besorgt, dass auch diese Rechtfertigung eine sehr gefährliche Anwendung finden wird."

Laut der unabhängigen Webseite Engelliweb sind Ende Januar 2014 an die 40.500 Webseiten gesperrt - das sind über 10.000 Webseiten mehr als im April des vorigen Jahres. Als "teilweise frei" schätzte der "Freedom on the Net"-Bericht 2013 des amerikanischen Think Tanks Freedom House die Freiheit im Netz in der Türkei ein.

Dr. Özgür Uçkan, Dozent für Kultur-und Medienwissenschaft an der Bilgi Universität Istanbul warnt, dass Internetzensur in der Türkei weit verbreitet ist und unliebsame Inhalte zunehmend kriminalisiert werden: "Die Internetzensur in der Türkei ist jetzt schon enorm. Zehntausende Webseiten sind blockiert. Es ist eine Schande, was hier passiert. Weil soziale Medien nicht im gleichen Maße zensiert werden können, versucht die Regierung, diese zu kriminalisieren. Mehrere Leute wurden während der Geziaufstände im Sommer wegen ihrer Tweets verhaftet. Die Regierung machte klar: Du darfst das nicht schreiben, Du darfst das nicht tweeten, und wenn Du das trotzdem machst, bist Du ein Terrorist."

Er fügt hinzu, dass die Türkei tatsächlich nicht China ist - noch nicht: "Es gibt noch keine stringente Strategie für die Kontrolle des Internets. [Die Regierung] flirtet mit dem chinesischen Modell, aber China ist ein Land, das ganz offen sagt: Zensur muss sein. In der Türkei arbeitet man noch immer mit dem Deckmäntelchen gutgemeinter Regelungen und des Bürgers, der vor sich selbst geschützt werden muss."

Mit zunehmender Verbreitung der Netznutzung in der Türkei - 45 Prozent aller Türken hatten laut Freedom House 2013 regelmäßigen Zugang zum Netz - versucht die Regierung auch, das Internet zu kontrollieren, zu zähmen und zu normieren. Google veröffentlichte vor kurzem Zahlen, die zeigen, dass die Türkei allein in der ersten Hälfte des letzten Jahres fast 1.700 Gesuche zur Entfernung von Internetinhalten stellte. Das sind dreimal mehr Gesuche als in jedem anderen Land und eine Erhöhung von fast 1000 Prozent im Vergleich zum vorhergehenden Jahr. Google fügte hinzu, dass der Großteil dieser Gesuche abgelehnt worden.

Schon 2011 brachte die Regierungspartei einen Gesetzesvorschlag ein, der vorsah, landesweit einen obligatorischen Internetfilter einzuführen, der Benutzer vor "schädlichen Inhalten" schützen sollte: gemeint waren damit nicht ausschließlich, aber auch Pornografie und "terroristische Propaganda". Kritiker bemängelten die Beliebigkeit des Begriffes und nach anhaltenden Protesten und starkem Widerstand von Seiten der Opposition musste die türkische Regierung schließlich klein beigeben - der Vorschlag wurde zurückgezogen und Filter werden von Providern als freiwillige Option angeboten.

Doch spätestens seit den Revolten im Sommer, bei denen soziale Medien eine entscheidende Rolle für die Verbreitung von Nachrichten und Information spielten, versucht Ankara erneut, das Netz an eine kurze Leine zu legen. Als große türkische Nachrichtensender immer noch Pinguine statt des brennenden Taksimplatzes zeigten, schlug die Stunde für Twitter und Co. Tagelang sah die Regierung händeringend zu, wie das Narrativ zum politischen Tagesgeschehen - in der Mitte der Gesellschaft bis dahin weitestgehend von Ankara und regierungstreuen Medien diktiert - zunehmend außer (Regierungs-)kontrolle geriet.

Dr. Özgür Uçkan erklärt: "Etwas ganz Neues passierte während der Geziproteste. Die sozialen Medien wurden zu einem Werkzeug, um Informationen zu sammeln und zu verwerten, zum Beispiel Beweise für Polizeigewalt, die dann an die Anwaltskammer geschickt werden konnten. Soziale Medien waren plötzlich eine echte Alternative, während die Mainstreammedien, behindert durch Selbstzensur und Zensur vonseiten der Regierung, völlig versagten."

Dr. Perrin Ögün Emre, Dozentin für Kommunikationswissenschaft an der Kadir Has Universität Istanbul betont, dass Gezi und die fehlende türkische Berichterstattung über die Aufstände den Umgang mit Medien grundlegend verändert haben: "Die Leute waren regelrecht ausgehungert nach Nachrichten. Sie fühlten sich von den Mainstreammedien allein gelassen, was zum Entstehen starker alternativer Nachrichtenkanäle führte. Und die Leute haben nicht einfach nur individuell getweetet, sondern sie haben sich zusammengeschlossen und soziale Medien in Nachrichtensender verwandelt."

Aber türkische Netzaktivisten verließen sich nicht allein auf die Großen, auf Twitter und Facebook. Vormals weitestgehend unbekannte, alternative Nachrichtenportale, wie Ötekilerin Sesi - Die Stimme der Anderen - oder eben Vagus TV erlebten einen kometenhaften Aufschwung.

Das gefiel der Regierung nicht. In einer öffentlichen Ansprache wetterte Premierminister Erdoğan über die Gefahr, die seiner Meinung nach vom Gezwitscher des Kurznachrichtendienstes ausginge: "Es gibt da diese neue Bedrohung namens Twitter. Man findet dort unvorstellbare Lügen. Für mich ist Twitter der größte Unruhestifter für heutige Gesellschaften." Mindestens 25 Menschen wurden wegen "Unruhestiftung" und "Aufruf zur Unruhestiftung" wegen ihrer Tweets verhaftet, jedoch bald wieder freigelassen.

Zwar wurden während der Geziaufstände über soziale Medien tatsächlich auch Falschnachrichten verbreitet - so zum Beispiel das Gerücht, die Polizei würde Agent Orange gegen Demonstranten einsetzen - allerdings wurden diese Falschmeldungen auch innerhalb dieser Nachrichtenkanäle schnell von anderen Nutzern moderiert und richtig gestellt.

Experten sehen in einer offenen Kriminalisierung die Gefahr, Internetnutzer zur Selbstzensur zu bewegen. Dr. Gülüm Şener, Dozentin für Kommunikationswissenschaft an der Arel Universität Istanbul forscht seit langem zum Thema Soziale Medien: "In der Türkei haben wir ein grundlegendes Problem mit der Meinungsfreiheit. Soziale Medien bieten normalerweise ein Umfeld, das einlädt, seine Meinung zu sagen. Aber die Leute sind vorsichtig geworden. Viele fragen sich: was passiert, wenn ich dieses oder jenes auf meiner Facebookseite oder auf Twitter teile? Bekomme ich vielleicht Ärger? Komme ich vor Gericht? Und das war in der Türkei schon immer so. Wir hatten noch nie eine wirklich freie Presse. Unter diesen Umständen können auch soziale Medien nicht wirklich frei sein."

Sie gibt allerdings zu bedenken, dass die türkische Regierung keinen Vorteil aus einem Verbot ziehen würde: "Wenn die Regierung Facebook hätte verbieten wollen, hätte sie das während den Geziprotesten im Sommer schon getan. Es ist wahrscheinlicher, dass sie soziale Medien für eigene Inhalte und Propaganda zu nutzen versucht." Perrin Ögün Emre ist ebenfalls dieser Ansicht: "Die Türkei hat eine extrem junge Bevölkerung, die sehr versiert ist in der Nutzung sozialer Medien. Es wäre unsinnig, sie daran hindern zu wollen und verrückt, dieses Potential nicht auszuschöpfen."

Türkischen Medienberichten zufolge hat die Regierungspartei inzwischen tausende Kommunikationshelfer rekrutiert, die nun zugunsten der Regierung zwitschern, teilen und verbreiten sollen - bis jetzt mit eher mäßigem Erfolg, meint Dr. Özgür Uçkan: "Regierungstreue Nutzer sind nicht sehr gut [im Umgang mit sozialen Medien]. Sie nutzen sie nicht effizient, sie sind einfach viel zu aggressiv. Wenn jemand so aggressiv ist, schafft er automatisch eine starke Gegenreaktion. Für eine Marke - und die AKP ist sowohl eine Marke als auch eine Bewegung - ist es sehr schlecht, wenn jemand in ihrem Namen auf sozialen Medienkanälen aggressiv ist. Es ist viel wichtiger, dass Inhalte stimmen, dass man mit anderen Nutzern interagiert. Aber AKP-Nutzer interagieren nicht, sie schreien und sind sehr angriffslustig. Sie machen viel Lärm, aber sie sind nicht sehr effizient."

Für Uçkan ist es jedoch ebenso wichtig, die Bedeutung sozialer Medien nicht zu überschätzen: "Natürlich kann man sich nicht allein auf die sozialen Medien verlassen. Twitter zum Beispiel ist ein Konzern und wird vom freien Markt gesteuert. Deswegen brauchen wir Open Source und alternative Portale. Das ist nicht leicht und braucht Zeit. Und es wäre sehr gefährlich, sich bei der Organisation sozialer Bewegungen allein auf die sozialen Medien zu verlassen. Echter Aktivismus braucht vor allem auch die Straße, und die Kommunikation zwischen Straße und Netz."

Wenn die umstrittene Gesetzesänderung zu Internetinhalten in den nächsten Tagen in Kraft tritt, wird die Straße wieder wichtiger sein als je zuvor.