Magazinrundschau - Archiv

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286 Presseschau-Absätze - Seite 4 von 29

Magazinrundschau vom 01.08.2023 - HVG

Literarische Werke, die Homosexualität zeigen, müssen in ungarischen Buchhandlungen künftig in blickdichter Folie eingeschweißt sein. In einem Radius von 200 Metern um Kirchen oder Schulen dürfen diese Bücher gar nicht verkauft werden - so eine neue Regierungsverordnung. "Das Ganze dient dazu, dass sich in den Bücherläden die verdächtigen Brillenträger ärgern, worüber sich die Regierungsunterstützer wiederum freuen, obgleich sie ja gar nicht in Buchhandlungen gehen. Aber auch ihnen muss irgendwie Freude bereitet werden", spottet der Publizist Árpád W. Tóta. "Das bekommen sie (und wir alle) anstatt eines funktionierenden Bildungs- und Gesundheitswesens: Das Wissen, dass es auch anderen schlecht geht. Dies ist die einzige öffentliche Dienstleistung des ungarischen Staates auf höchstem Niveau. Lehrer und Ärzte kann er nicht gewährleisten, jedoch einen Feind."
Stichwörter: Ungarn, Homosexualität

Magazinrundschau vom 18.07.2023 - HVG

Der Schriftsteller und Dichter, Kritiker und Übersetzer Mátyás Dunajcsik verließ 2014 Ungarn, zog zunächst nach Island, lebt heute in Berlin und ist Mitarbeiter des Programmbüros der Akademie der Künste. Im Herbst erscheint sein neues Buch, in dem es um den Bruch mit der Muttersprache geht. Die Rechte der Veröffentlichung zog er vor zwei Wochen zurück, als der von ihm mitbegründete Libri Verlag von einer regierungsnahen Stiftung aufgekauft wurde. Im Interview mit Zsuzsa Mátraházi spricht Dunajcsik über seine Auswanderung: "In Wirklichkeit sieht das Auswandern nicht so aus, dass ich nach einem großen Trauma meinen Koffer packe. Damals flohen wir mit meinem Partner nicht vor etwas, sondern wir gingen mit dem Umzug nach Island auf etwas zu. Seitdem gibt es aber jede Woche Nachrichten aus und über Ungarn, bei denen ich immer denke: hätte ich es nicht früher getan, dann würde ich jetzt meine Siebensachen packen. (…) Wenn morgen das Orbán-System zusammenbräche, würde es ungefähr zwanzig Jahre dauern, bis Ungarn wieder ein Ort wäre, wo man leben könnte. Die Regierung hat Strukturen vernichtet, die man nicht von heute auf nachher neu aufbauen kann. Zusätzlich ist es ihr gelungen mit Xenophobie und Frauenfeindlichkeit, mit der negativen Haltung gegenüber Transmenschen und Homosexuellen die schlechtesten Instinkte der ungarischen Gesellschaft zu wecken."

Magazinrundschau vom 11.07.2023 - HVG

Der Dichter und Übersetzer Ádám Nádasdy spricht über die Veröffentlichung seiner gesammelten Schriften und die Gestaltung der Sprache in der sozialistischen Zeit: "Der Stil und die Texte vieler Lieder in der realsozialistischen Zeit vermittelten das Depressive, Hoffnungslose, Sinnlose. Die sozialistische Propaganda verbreitete einen unerschrockenen Optimismus. Dagegen setzten meine Freunde ich das Attribut 'müde'. Wir sind als zum Beispiel 'in ein müdes Restaurant' gegangen. Das bedeutete oft nur, dass der Ort normal war und dass in ihm nicht die erzwungene gute Laune herrschte, die man in den sozialistischen Jugendcamps zeigen musste. Und in diesem Sinne waren die Lieder dann spannend müde und entnervt, also anziehend für uns."
Stichwörter: Nadasdy, Adam

Magazinrundschau vom 04.07.2023 - HVG

Der ungarische Schriftsteller Dénes Krisovszky spricht im Interview mit Dóra Matalin über die Schwierigkeit, schreiberisch eine vertretbare Perspektive einzunehmen, und über seinen neuen Roman "Ohne Blätter", indem die Einwohner einer Kleinstadt mit einer unerwarteten Naturkatastrophe konfrontiert werden: Im Frühling fallen die Blätter der Bäume ab. "Es gibt einen teils nachvollziehbaren, teils übertriebenen Kampf um die Repräsentation. Ein extremes Beispiel dafür ist, dass das Gedicht einer schwarzen Dichterin nicht von einem weißen Mann aus der Mittelschicht übersetzt werden darf oder ein Trans-Charakter nicht von einem Cis-Schauspieler gespielt werden darf. Auch in Ungarn gab es die Debatte, ob ein weißer Mann aus der Mittelschicht im Namen eines Roma-Mädchens schreiben darf. Aus Vorsicht und Gründlichkeit dachte ich, dass ich mich als Schriftsteller jenen Feldern nähere, die ich besser überblicken kann. Ich bin kein Ungarisch-Lehrer vom Lande, doch die Ansicht eines Mannes mittleren Alters ist mir nahe. Dann kam ein Punkt beim Schreiben, als ich fühlte, dass die Figur der im Altersheim lebenden Mutter stets in einer zu passiven Situation ist und ich auch zeigen möchte, wie es war, als sie noch jünger war und als aktive, autonome Figur erschien. Meine Frau arbeitet in Wien, wöchentlich zwei bis drei Tage. Da führe ich den Haushalt, bringe die Kinder in die Schule oder in die Kita. Ich sage nicht, dass ich genau weiß, wie es in den Neunziger war Mutter zu sein, doch die Dominanz der Hausfrauenrolle beim Charakter konnte ich vielleicht zeigen. Es ist eine Art Madame Bovary in einer ungarischen Hausfrauenausgabe."

Magazinrundschau vom 27.06.2023 - HVG

In einem Interview mit Boróka Parászka spricht die Schriftstellerin Andrea Tompa unter anderem über das in Ungarn dominierende Siebenbürgen-Bild, ihren Roman "Omertà" und die Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen, die weder die rumänische noch die ungarische Seite annehmen möchte: "Sichtbar und oft propagiert ist das homogene, sagenumwobene und dörfliche Siebenbürgen. Wir aber, die über Siebenbürgen schreiben, von András Visky bis Gábor Vida, zeigen ein anderes. Diese Welt ist weder homogen noch archaisch und überhaupt nicht dörflich. Ich bevorzuge es über die Geschichte der ungarischen Gesellschaft in Rumänien zu sprechen, denn es geht nicht um die Alleinstellung von Siebenbürgen oder um das Inselhafte, sondern darum, dass diese Region Teil Rumäniens ist ... Mein Eindruck ist, dass Geschichten wie in meinem Buch in den Künsten nicht sichtbar sind, nicht einmal im Film. Interessanterweise spricht der rumänische Film und insbesondere das Kino von Radu Jude immer öfter über den Holocaust, wenn auch aus seiner Perspektive Siebenbürgen keine Rolle ist. Und der Holocaust in Nord-Siebenbürgen fehlt sowohl in der ungarischen wie auch in den rumänischen Holocaust-Narrativen."

Magazinrundschau vom 20.06.2023 - HVG

Der Publizist Árpád Tóta W. rauft sich die Haare angesichts der sturen, zum Teil grotesken moskautreuen Politik der ungarischen Regierung, die aber auch von einem Großteil der Bevölkerung getragen wird: "Es ist schwer vorherzusagen, was passieren wird, wenn die Ukrainer die Russen aus ihrem Haus treiben. Ich versuche es trotzdem: es wird ein riesengroßes Weltfest geben, das wird es sein, eine über alle Grenzen gehende Party. Nicht eine einzige Veranstaltung, sondern eine die Welt durchdringende Nachricht der Freude. Großartige Feste mit glänzenden Uniformen, Helden, siegenden Soldaten. Ernste und traurige Erinnerungsveranstaltungen mit Überlebenden von Gräueltaten und Genoziden. Actionfilme und historische Dramen wird es geben mit millionenfachem Publikum. Pophymnen. Legenden. Ein Fest, das wir noch nie gesehen haben. Und wir werden nicht eingeladen … Ich muss hier ein Geheimnis verraten: Der Grund warum niemand mit uns übereinstimmt, ist nicht, weil wir so tapfer und kühn sind, sondern weil wir solche Idioten sind. Wir Ungarn lieben dies. Das ist der Grund, warum wir diese Politik bekommen. Man hat es gemessen, dass wir das wollen … Wir schwimmen in unseren Emotionen, küssen die Russen, denn sie können trinken und ihr Herz ist groß, sie verprügeln die Schwuchteln und das reicht uns als Außenpolitik ... Wir lernen nicht weiter und die Welt begreift es am Ende aufgrund unserer sturen Dummheit, warum wir erneut zum letzten Handlanger wurden. Sie werden sich anlächeln und reiten dann in die Zukunft. Auch da werden wir nicht eingeladen."

Magazinrundschau vom 13.06.2023 - HVG

Der Animationsfilm "27" der in Frankreich lebenden Filmemacherin Flóra Anna Buda gewann beim diesjährigen Filmfestival in Cannes in der Kategorie Kurzfilm die Goldene Palme. Unter den zahlreichen Gratulanten tat sich das Nationale Filminstitut hervor, das die Förderung des Films dreimal abgelehnt und - obgleich "27" der einzige ungarische Beitrag in Cannes war - sich nicht mal am Marketing beteiligt hatte. Im Gespräch mit Dóra Matild erzählt die Regisseurin, wie sie diesen Konflikt erlebte und warum sie weiterhin in Frankreich lebt und arbeitet. "Statt uns zu freuen, müssen wir darüber sprechen, was es nicht gab, denn eine ungarische Filmförderung gibt es gegenwärtig quasi nicht. Dabei hätten wir auch darüber sprechen können, was es gibt. Dieser Film hat eine ungarische Produktionsfirma, Boddah; er hat zwei ungarische Produzenten Gábor Osváth und Péter Benjámin Lukács: die Filme konnten nur entstehen, weil sie ihr eigenes Geld riskieren und damit wiederholt erfolgreich bei Filmfestivals waren. Obgleich es auch richtig ist, dass man manchmal Konflikte braucht, um Sachen aussprechen zu können. (...) Ich würde gerne für den Wandel kämpfen, doch gegenwärtig kann ich nur hier in Frankreich Filme machen, die die Situation in Ungarn reflektieren."

Magazinrundschau vom 23.05.2023 - HVG

Ungarn, das seit 2015 mit Dekreten regiert wird, entlässt nach einer Regierungsverordnung von Ende April an die 700 ausländische Staatsbürger, die wegen Menschenschmuggels verurteilt worden waren, aus der Haft - unter der Bedingung, dass sie innerhalb von 72 Stunden das Land verlassen. Sie sollen sich anschließend mit ihren Entlassungsdokumenten in ihren Heimatländern melden, um jeweils ihre restliche Strafe zu verbüßen. Durchgesetzt oder kontrolliert wird dies allerdings von keiner ungarischen Behörde, was nicht nur in den Nachbarländern für Irritationen sorgt. Blanka Iványi weist auf das Absurde der Verordnung hin: "Man kann sich förmlich vorstellen, wie ein Menschenschmuggler, eilig zurückgekehrt in die Heimat, sich mit auf ungarisch ausgestellten Dokumenten in seiner Hand bei den dortigen Behörden meldet, weil er seine restliche Strafe absitzen möchte. (…) Die Ausgewiesenen werden nicht mal von Beamten bis zur Grenze begleitet, sie werden auch nicht den Ordnungsbehörden ihrer Heimatländer - was auch immer dies beispielsweise im Falle von Afghanistan oder dem Irak bedeutet - übergeben. Es hängt gänzlich vom Betroffenen ab, wann und in welche Richtung er Ungarn verlässt. Freilich können sich nun Kriminelle, die bisher zur Stigmatisierung von Geflüchteten und Einwanderern als potentiellen Terroristen dienten, genauso leicht in andere europäische Länder absetzen."
Stichwörter: Ungarn, Schlepper, Irak

Magazinrundschau vom 16.05.2023 - HVG

Der Historiker und Essayist György Dalos erhielt vor kurzem den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste in Berlin. Bei dieser Gelegenheit sprach er mit Béla Weyer über Russlands Krieg gegen die Ukraine: "Putins Krieg - obgleich ich solidarisch mit der ukrainischen Bevölkerung bin - ist für mich auch eine russische Tragödie, eine historische Wunde. Solch einen Schaden hat sich Russland seit dem russisch-japanischen Krieg nicht mehr selbst beigebracht. Es kann vielleicht in manchen Phasen erfolgreich sei, doch siegen wird Russland nicht. Sie haben erneut den Gegner unterschätzt. Und meine Sorge ist groß, was mit der russischen Bevölkerung am Ende dieses nicht gewinnbaren Krieges passieren wird. (...) Das hier ist kein Krieg der Kulturen. Der Krieg wird eines Tages vorüber sein, doch der Hass wird bleiben."

Magazinrundschau vom 09.05.2023 - HVG

Der Publizist Árpád Tóta W. kommentiert den dreitägigen Besuch von Papst Franziskus in Ungarn: "Vielleicht freut sich ja der Papst ungewollt, dass er inmitten von Europa ein Land findet, das sich trotzig als christliches definiert und in dem das Portfolio der Kirche stets größer wird. Obgleich dies ja zugleich die größte Gefahr ist, und wenn er über irgendetwas offen hätte sprechen können, dann wäre es dies gewesen: Dass die Politik, die er zwischen den Zeilen kritisiert, die Mauern baut und Brücken zerstört, die stolz und hart vor anderen die Tür zuschlägt, vor Fremden, vor Armen und Kranken - diese Politik verkauft sich als christlich. Das Oberhaupt der Kirche schaute lächelnd jene an, die das Christentum besangen. (...) Obwohl er freilich wissen dürfte, dass der Frevel, der gegen den Glauben verübt wird, weit weniger Schaden anrichtet, als der, der im Namen des Glaubens begangen wird."