Magazinrundschau
Das obszöne Glück
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
04.01.2011. Die LRB liest George W. Bushs Memoiren und stellt fest: Reine Postmoderne. Spiked fragt mit Gabriel Josipovici die Nachkriegsautoren: Wo ist der Urschmerz der Modernität? In Elet es Irodalom erklärt der Autor György Spiro seinen Lesern: Der "Herr Schriftsteller" weiß auch keinen Rat. Eurozine fühlt der westlichen Presse den Puls. In NZZ-Folio schreibt Wilhelm Genazino über Melancholie. In der NYT denken fünf Kritiker über die Rolle der Kritik heute nach.
London Review of Books (UK), 06.01.2011

Weitere Artikel: Andrew O'Hagan schreibt über die nun gesammelten Briefe Saul Bellows. Über die Persistenz der Bettwanze denkt Hugh Pennington nach. In einer Londoner Wiederaufführung hat Michael Wood den Lubitsch-Film "Rendezvous nach Ladenschluss" gesehen. Christopher Prendergast kommentiert die Pläne der britischen Regierung zur Rückzahlungsprogression von Studierendendarlehen.
Express (Frankreich), 01.01.2011
Es kommt einem bekannt vor. So wie die deutschen Journalisten Marcus Hellwig und Jens Koch im Iran sind die französischen Journalisten Herve Ghesquiere und Stephane Taponier von den Taliban gekidnappt worden. Die neueste Meldung lautet, dass sie von den Taliban der Spionage beschuldigt werden. "Frankreich hat die Vorwürfe 'kategorisch zurückgewiesen', berichtet der Express am 1. Januar und zitiert weiter: "Die Beschuldigung sei absurd. 'Seit einem Jahr dauern die Verhandlungen an, damit unsere Landsleute ihre Familien gesund wiedersehen können', schreibt der Quai d'Orsay in einer Pressemitteilung." Für die beiden Journalisten haben Kollegen und Freunde ein Blog gegründet.

Dort steht zu lesen: "Wie viele Kollegen haben wir anfangs die Anonymität der Journalisten gewahrt, aber dann haben wir uns entschlossen, ihre Namen bekannt zu machen. Es ist uns menschlich unmöglich nicht zu reagieren. Eine Petition zirkuliert. Unterschriften sind willkommen."

Dort steht zu lesen: "Wie viele Kollegen haben wir anfangs die Anonymität der Journalisten gewahrt, aber dann haben wir uns entschlossen, ihre Namen bekannt zu machen. Es ist uns menschlich unmöglich nicht zu reagieren. Eine Petition zirkuliert. Unterschriften sind willkommen."
spiked (UK), 23.12.2010
Gabriel Josipovicis Buch "Whatever Happened to Modernism?" hat viel von sich reden machen, weil Josipovici darin die bekanntesten englischsprachigen Autoren von Rushdie über McEwan bis zu Philip Roth wegen ihrer Konsumierbarkeit in die Tonne tritt. Aber das ist nur eine Folge aus einer höchst differenzierten (und übrigens kulturkonservativen) Reflexion über die Moderne, meint Tim Black, der Josipovici nochmal einer gelehrten Lektüre unterzieht. Josipovici schreibt demnach aus einer Nostalgie einer Nostalgie. Was ihn an den beschimpften Autoren stört, so Black, ist ihre mangelnde Traumatisierung. Ihre problemlos dahinschnurrende Prosa ist ein Verrat am Urschmerz der Modernität, der metaphysischen Unbehaustheit: "Vormoderne Genres von der Epik bis zur Pastorale verloren in einer entzauberten Welt ihren Sinn. Der Künstler musste nicht mehr nur etwas machen, sondern er musste ein Schöpfer sein." Und dabei immer den Schmerz des Verlusts verarbeiten: "Kafkas Romane, die durch nichts als die Fantasie des Autors getrieben sind, sind schreckensstarr im Bewusstsein ihrer Willkürlichkeit. Daher kommt ihre Alptraumqualität."
Außerdem in Spiked: Frank Furedis Kritik an Tariq Ramadans neuem Buch "The Quest for Meaning" und ein Nachruf auf den Literaturwisschaftler und Erfinder von Arts & Letters Daily (und Freund des Perlentauchers) Denis Dutton.
Außerdem in Spiked: Frank Furedis Kritik an Tariq Ramadans neuem Buch "The Quest for Meaning" und ein Nachruf auf den Literaturwisschaftler und Erfinder von Arts & Letters Daily (und Freund des Perlentauchers) Denis Dutton.
Elet es Irodalom (Ungarn), 24.12.2010

Der Verabschiedung des Mediengesetzes am 20. Dezember gedachten zwei Mitarbeiter des ungarischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks am nächsten Tag mit einer Schweigeminute - und wurden mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert. Zoltan Kovscs, ES-Chefredakteur, erinnert dieser Vorfall an eine Szene aus Peter Bascos Film "Kitöres - Ausbruch" von 1970: Der Held will sein Land verlassen, weil er sich dort "wie ein 181 cm großer Mann in einer Wohnung mit 180 cm Innenhöhe" fühlt: "Das ist das Wesen des neue Pressegesetzes. Jeder solle sich ducken. Nicht sehr - ein bisschen reicht schon, es genügt, wenn man stets die Zimmerdecke spürt und niemals aufrecht gehen kann. Natürlich geht das nicht und kann auch nicht für immer und ewig so bleiben. Es ist nur schade um jene Opfer, die nichts anderes wollten, als klug, aufrichtig und gut vorbereitet zu fragen. Die Macht kann sie nicht ertragen und sie wird Leute finden, die ihre idiotischen Gesetze vollstrecken. Aber immer mit der Ruhe, es wird stets auch Menschen geben, die sich mit diesem Zustand nicht abfinden werden."
Eurozine (Österreich), 31.12.2010

Weitere Artikel: Giulio D'Eramo berichtet, wie in Italien die Presse ihre Lähmung angesichts von Berlusconi überwunden hat und einen Aufschwung des investigativen Journalismus erlebt. Irena Maryniak stellt die neuen Zeitungseigentümer in Großbritannien vor: vor allem Russen. Thomas Leif sieht in Deutschland Journalisten, Lobbyisten und Politiker in einer zu engen Allianz. Stylianos Papathanassopoulos beschreibt die Auswirkung der Wirtschaftskrise auf die griechische Presse. Michael Foley widmet sich der irischen Presse. Und Petros Iosifidis berichtet über die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Europa angesichts der Digitalisierung.
Open Democracy (UK), 03.01.2011

Noch einmal online gestellt wurde Denis Duttons Text über den Flugzeugabsturz von Polens Präsident Lech Kaczynski.
ResetDoc (Italien), 20.12.2010
Bei den ägyptischen Wahlen am 28. November 2010 hat sich Präsident Hosni Mubarak ein famoses Ergebnis gegönnt: 419 von 508 Sitze für seine NDP, die Oppositionsparteien sind damit de facto abgeschafft. Der Journalist und Blogger Issandr El Amrani kommentiert das Ergebnis im Interview so: "Wenige Menschen haben ernsthaft daran geglaubt, dass sich Ägypten demokratisiert, und das Regime Mubarak scheint entschlossen, aus- und inländische Kritik an den Wahlen zu ignorieren. Da es keine starke innere Opposition oder ausländischer Partner gibt, die bereit wären, hinsichtlich Demokratie und Menschenrechte Druck auszuüben, glaubt Ägypten, dass es sich schlechte Presse leisten kann. Aber es wird einen hohen Preis zahlen müssen; die offizielle Politik hat durch diese Wahlen an Legitimität verloren, und Oppositonsparteien haben wenig Anlass an 'schrittweise Reformen' zu glauben, eher werden sie ihre Differenzen beilegen und sich gegen den Status quo zusammenschließen."
Dass selbst die bisher größte Oppositionsbewegung, die Muslimbrüder, keinen einzigen Sitz gewonnen hat, lässt den Politikwissenschaftler Amr El Shobaki darüber rätseln, ob sie nun offiziell verboten sind oder nicht: "Sie wurden in keiner Weise in das politische System integriert. Die Regierung hat zu allen erdenklichen Mitteln gegriffen, um diese Minderheit nicht einmal die Ergebnisse von 2005 erreichen zu lassen. Allerdings hat die Bruderschaft auch nie die Regeln des Landes akzeptiert und immer wieder eine antidemokratische Rhetorik benutzt und den modernen, zivilisierten Staat abgelehnt."
Dass selbst die bisher größte Oppositionsbewegung, die Muslimbrüder, keinen einzigen Sitz gewonnen hat, lässt den Politikwissenschaftler Amr El Shobaki darüber rätseln, ob sie nun offiziell verboten sind oder nicht: "Sie wurden in keiner Weise in das politische System integriert. Die Regierung hat zu allen erdenklichen Mitteln gegriffen, um diese Minderheit nicht einmal die Ergebnisse von 2005 erreichen zu lassen. Allerdings hat die Bruderschaft auch nie die Regeln des Landes akzeptiert und immer wieder eine antidemokratische Rhetorik benutzt und den modernen, zivilisierten Staat abgelehnt."
Folio (Schweiz), 03.01.2011

Die Grenze zwischen einem Melancholiker und einem Depressiven ist fein und kann jederzeit überschritten werden. Wilhelm Genazino versucht, den "inneren Erfahrungskern eines melancholischen Vorbehalts einzukreisen". Und der liegt darin, dass er Glück hat: Er kann schreiben und davon leben. An schlimmen Tagen, "so will es die Psyche, flösst mir meine 'Bevorzugung' plötzlich Schuld ein. Das Schuldgefühl, das ich meine, ist ein Gesellschaftsprodukt. Es entsteht, weil sich Menschen gegenseitig beobachten, beurteilen und beneiden - und dadurch Schaden an sich selbst nehmen. Die im Gefühlsleben verharrende, das heißt nie wieder verschwindende Schuld geht irgendwann, ihrer Untilgbarkeit wegen, in Melancholie über. Deswegen ist die Melancholie das Zielgefühl glücklicher Menschen. Das obszöne Glück ist begeistert über jeden melancholischen Überfall."
Außerdem: Der Psychiater Mario Etzensberger erklärt im Interview, warum er kein Freund der Langzeitanalyse ist: "Wir passen uns im Lauf der Zeit auch in einer Therapie an das Reden, Denken und Argumentieren des Therapeuten an, ohne dass uns das bewusst wird. Und sobald ich mich gut angepasst habe, passiert nicht mehr viel." Barbara Klingbacher erzählt von Patienten auf der Akutstation einer Psychiatrischen Klinik. Thomas Schenk erzählt von vier psychisch Kranken, die im Laufe ihrer Krankheit Partner, Kinder, Freunde und Arbeit verloren haben.
New York Times (USA), 02.01.2011
Vor fünfzig Jahren schrieb Alfred Kazin den klassischen Essay "The Function of Criticism Today" (den man für 4,95 Dollar bei Commentary kaufen darf, aber es gibt ja auch noch große Auszüge bei Google Books). Am Sonntag hat die New York Times die gleiche Frage fünf heute tätigen Kritikern gestellt (Editorial): Stephen Burn (hier), Katie Roiphe (hier), Pankaj Mishra (hier), Adam Kirsch (hier), Sam Anderson (hier) und Elif Batuman (hier). Die Antworten lesen sich alles in allem erstaunlich blutarm. Fast alle meckern mehr oder weniger übers Internet. Der einzige, der einen eigenen Gedanken dazu entwickelt ist Burn: "'In den leeren Taschen der Städte und Häuser', schrieb Don DeLillo in den frühen achtzigern, 'ticken tausend Hirne.' Etwas mehr als zehn Jahre später wob das sich verbreitende Internet ein Netzwerk aus diesen Hirnen, baute ein gigantisches neurales Netz, ein zerstrittenes, lautstarkes, hektisches Überhirn. Das Internet zieht die Leute aus ihrer Einsamkeit heraus, macht ihre 'Ichs' noch nackter als das unscharfe, unsichere Ich, das durch seine täglichen Routinen und Konflikte taumelt. Ein einsamer Leser, der sich über einen obskuren aktuellen Roman beugt oder sich eine Seite aus 'Finnegan's Wake' zusammenpuzzlet, ist plötzlich nicht mehr ganz so einsam."
Sehr empfehlenswert auch die die "Sidney Awards" des NY Times-Kolumnisten David Brooks (hier und hier), der jedes Jahr seine ganz persönliche Liste mit den besten Essays des Vorjahrs bekanntgibt - und alle stehen online! Sein Sieger 2010: Michael Lewis' "Beware of Greeks Bearing Bonds", ein Stück über die Finanzkrise, aus Vanity Fair.
Sehr empfehlenswert auch die die "Sidney Awards" des NY Times-Kolumnisten David Brooks (hier und hier), der jedes Jahr seine ganz persönliche Liste mit den besten Essays des Vorjahrs bekanntgibt - und alle stehen online! Sein Sieger 2010: Michael Lewis' "Beware of Greeks Bearing Bonds", ein Stück über die Finanzkrise, aus Vanity Fair.
Kommentieren