Literarischer Rettungsschirm für Europa

Der Fall Europas?

Von Drago Jančar
29.09.2012. Interpretation bedeutet in der modernen Welt, in der verschiedene Werte und Sichtweisen des Lebens koexistieren, zwangsläufig auch Konfrontation. Davon jedoch, fürchtet der slowenische Autor Drago Jan?ar, wollen die Pragmatiker des freien Handels nichts wissen. Und darum stehen wir heute vor einer apokalyptischen Vision: Fällt der Euro, fällt Europa.
Nun gut, wenn Nicolas Sarkozy meint, Europa explodiert, wenn der Euro explodiert, und hinzufügt, den Euro zu verteidigen bedeute, Europa zu verteidigen, können wir diese Aussagen cum grano salis nehmen; die Rhetorik des bekannten französischen Politikers verträgt so manches und so manches vertragen auch unsere an so mancherlei gewöhnten europäischen Ohren auf unseren in letzter Zeit immer ratloseren europäischen Köpfen. Wenn aber die pragmatische und rationale Angela Merkel etwas noch Dramatischeres äußert, nämlich: Zerbricht der Euro, dann zerbricht Europa, müssen sich auch jene von uns Gedanken machen, die sich nicht dem Mysterium der Finanzströme und Bankorakel widmen. Bisher dachten wir nämlich, das heutige Europa habe in seinen Grundfesten ein stärkeres Bindemittel als das liebe Geld eingebaut, das uns allen so sehr am Herzen liegt. Allein schon aus dem Grund, weil wir am Flughafen schon lange nicht mehr zur Wechselstube rennen müssen, keine Wechselkurse mehr berechnen müssen, in unseren Brieftaschen keine Geldscheine mit Abbildungen verschiedener berühmter historischer Persönlichkeiten wohl begründeter europäischer Nationen und Staaten mehr herumtragen und mit verschiedensten Münzen in den Hosentaschen klimpern müssen. Nun aber erfahren wir plötzlich, dass der Euro mehr als nur Geld ist, dass wir in unseren Taschen sozusagen etwas Schicksalhaftes tragen: To be or not to be.

Unlängst wähnten wir noch, nach all den ideologischen und nationalistischen Irrungen und Wirrungen des 20. Jahrhunderts in Europa, endlich den sicheren Hafen der Zusammenarbeit, des Wissens, des Wohlstands und der Toleranz erreicht zu haben; zwar nicht gerade das Gelobte Land, aber zumindest die große alte und zugleich neue Heimat, in der sich die Menschen nicht gegenseitig an die Gurgel gehen, nur weil sie verschiedene Sprachen sprechen, sich auf ihre großen Kulturen berufen oder weil sie anders über soziale Fragen und Gesellschaftsordnungen denken. Die letzte Debatte über die Fundamente Europas, nämlich die Diskussion über Gott in der Europäischen Verfassung, war verhältnismäßig unschuldig im Verhältnis zu den apokalyptischen Zeitungsüberschriften und Fotos, die wir heute zu sehen kriegen. So zum Beispiel unlängst auf dem Titelblatt des Spiegel, auf dem eine wohl mehrere Tonnen schwere Euromünze vom Himmel auf die Akropolis fällt, als ob diese von Zeus selbst geschickt worden wäre: Es besteht kein Zweifel, dass nur Ruinen übrig bleiben werden, wenn die Münze zu Boden kracht; dann fällt Griechenland, dann wird der Parthenon zerstört, dann fällt das Sinnbild der europäischen Zivilisation, dann fällt Europa. Die Ahnung einer Explosion, die dem Fall des Euro auf die Akropolis folgen sollte, ist viel schlimmer als die, die es dort tatsächlich schon einmal gegeben hat. Bekannt ist, dass die Türken, die sich, nachdem sie Griechenland besetzt hatten, der Kultur und Tradition gegenüber respektlos verhielten, in dieser heiligen Stätte Schießpulver aufbewahrten. Die noch respektloseren christlichen Venezianer, die wussten, dass sich dort ein Pulvermagazin befand, und die sich ebenso wenig wie die Türken darum scherten, dass hier das symbolische Fundament Europas stand, richteten ihre Kanonen auf die Akropolis, man schrieb das Jahr 1687, die Kanonen spien Feuer, das europäische Heiligtum explodierte und brannte zwei Tage lang lichterloh. Als es abgebrannt war, plünderten es die Venezianer auch noch schamlos. Anfang des 19. Jahrhunderts machte sich schließlich der britische Botschafter im Osmanischen Reich, Thomas Bruce, 7. Earl of Elgin, über das her, was übrig geblieben war, indem er mit Erlaubnis des osmanischen Sultans einen Großteil der Marmorskulpturen nach England brachte und sie im Britischen Museum in London ausstellen ließ. Dann kam das europäische 20. Jahrhundert, das Jahrhundert des großen wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritts, zugleich aber auch das Jahrhundert, in dem es fast keine Stadt und kein Dorf in Europa gab ohne geschwärzte Mauern und Türme, die aus zahlreichen Ruinen ragten, in dem nicht nur Pulvermagazine, sondern auch Schulen und Krankenhäuser in die Luft gejagt wurden.

Ehe Sarkozy behauptete, Europa würde explodieren, wenn der Euro explodiert, und ehe uns Angela Merkel mit ihrer Aussage erschreckte, Europa würde zerbrechen, wenn der Euro zerbricht, waren wir überzeugt, dass der letzte Fall, den wir gesehen und erlebt hatten, der Fall der kommunistischen Diktaturen, der Fall der Berliner Mauer gewesen sei, und damals dachten wir schon, nun könne nichts mehr fallen.

In seliger Ruhe widmeten wir uns der Suche nach der Zauberformel einer europäischen Identität, wir sprachen vom Alten und Neuen Europa, davon, in Vielfalt geeint zu sein. Besonders die Osteuropäer freuten sich darüber, die im Geiste der Erwartung eines kommunistischen Eldorados erzogen waren, für die sich diese Fata Morgana jedoch bald in Luft auflöste - Paradise Lost. So blickten sie hoffnungsvoll ins, ach, Europa, das neue himmlische Land, wo all ihre Probleme gelöst würden. Auch suchten wir die "Seele Europas", nach der Jacques Delors, einer ihrer Begründer und geistigen Väter, trachtete.

All diese Diskussionen waren nicht sonderlich fruchtbar, denn der wirtschaftliche und liberale Pragmatismus, der der gemeinsame Nenner Europas ist, verhält sich diesbezüglich eher zurückhaltend, er geht jeglicher Interpretation aus dem Weg, was Europa sei beziehungsweise zu sein wünsche. Interpretation muss in der modernen Welt, in der verschiedene Werte und Sichtweisen des Lebens koexistieren, zwangsläufig auch Konfrontation bedeuten, die in einer Welt des freien Handels und der Börsenmentalität niemand brauchen kann, nicht einmal auf gedanklicher Ebene. Ein ideeller Konflikt kann schnell in einen politischen Konflikt übergehen, und das ist das Letzte, was sich die Wirtschaftspragmatiker wünschen. Kein Pathos also, keine "Seele", kein tieferer Sinn. So blieb das höchste Ziel des vereinten Europas etwas ziemlich Einfaches: Seine wirtschaftliche Macht sollte in kürzester Zeit eine Konkurrenz für die amerikanische und chinesische werden, sie sollte in allen globalen Prozessen stark und unabhängig sein. Es verstehe sich von selbst, meinen die Pragmatiker, dass der wirtschaftliche Aufschwung neben materiellem Wohlstand auch ein besseres Gesundheitswesen und bessere Schulen mit sich bringe, mehr Geld für Kultur, mehr Freizeit, und dass materieller Wohlstand automatisch auch eine höhere Toleranzstufe der europäischen Staatsbürger mit sich bringen werde. Angesichts einer solch optimistischen Perspektive klingt der Aufruf von Jacques Delors, dem ehemaligen Präsidenten der EU-Kommission, der Anfang der neunziger Jahre appellierte, "Europa eine Seele zu geben", nur noch wie ein fernes Echo einer Idee, vom Winde des wohltuenden Pragmatismus verweht. Die "Seele Europas" könnte auch bedeuten, dass ihre Staatsbürger ihre Geschichte, Kultur, Geistigkeit, die Polarisierungen der Werte und der Ethik, die Erfahrungen mit Diktatur und Totalitarismus, die Ursprünge und Prinzipien der Demokratie, den Individualismus mit den persönlichen Freiheiten und zugleich das Streben nach gemeinsamem Wohl verstehen. Das sind für die neuzeitlichen Pragmatiker allerdings Abstraktionen, ihrer Meinung nach werden zwischenmenschliche Beziehungen in einer Gemeinschaft am besten von den gleichen Verhältnissen geregelt, wie sie am Kapitalmarkt herrschen: mit einer so großen Permissivität und einer so geringen Konfliktträchtigkeit wie möglich. Der gegenwärtige wirtschaftliche und politische Pragmatismus unterschätzt die Macht der Ideen. Er betrachtet die Abstraktion der Kultur und Philosophie von oben herab, vor allem aber die Fragen der menschlichen Geistigkeit. Er erkennt die Konflikte der wirtschaftlichen und sogenannten nationalen Interessen an und versucht, auf kürzestem Wege jeden zumindest gedanklichen Konflikt und damit auch jeden latenten gesellschaftlichen Konflikt auf diesem Gebiet mit politischen Mitteln zu beseitigen.

Gerade deswegen befinden wir uns nun vor einer apokalyptischen Vision: Wenn der Euro fällt.

Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass wir uns in wohltuender Ruhe einer weiteren aufregenden Debatte widmeten, nämlich der Frage, ob das Wort "Gott" in die Europäische Verfassung eingetragen werden soll oder ob in der Verfassungspräambel zusätzlich auch das Christentum erwähnt werden soll. Eine solche Diskussion ist nur in ruhigen Zeiten und im Wohlstand möglich, wenn wir eigentlich keine anderen ernsten Probleme mehr haben, wie die Frage nach Europa und der Ewigkeit. Und alle, die wir in Europa leben, haben Erfahrungen mit der Gegenwart Gottes. Es gibt wahrscheinlich kein europäisches Volk, das es irgendwann in der Geschichte nicht für notwendig erachtet hätte, Gott in die engste Verbindung mit der eigenen Existenz zu bringen. Einige Völker schrieben Gott sogar in ihre Hymne ein, so zum Beispiel die Engländer: God Save the Queen, oder die Serben: Gott der Gerechtigkeit; oder gleich alle Völker der Habsburger Monarchie: Gott erhalte, Gott beschütze / Unsern Kaiser, unser Land! ... Deutsche Bataillone hielten Gott auf ihren Kriegsbannern fest, in der Überzeugung, Gott sei mit ihnen: Gott mit uns. Einige dachten, Gott habe ganz besonders mit ihnen zu tun: Gott und die Kroaten. Oder die Slowenen: Mutter - Heimat - Gott. Nun, wir Slowenen haben Gott auch in einem Sprichwort, das ganz gut eine gewisse Charaktereigenschaft beschreibt: Leise steh, abseits geh, zu Boden schau flott und hüt dich vor Gott.

Die Amerikaner vertrauen auf Gott noch mehr als die Europäer, sie übergaben sogar ihr Geld in Gottes wohlmeinende Obhut: In God We Trust, wie es auf den Dollarscheinen steht. Und das half ihnen auch nicht, den Fall der Lehman Brothers Holdings Inc. zu verhindern. Und es dräute und es dräut noch immer, dass der Euro und mit ihm Europa fallen soll. Mit Gott auf den Geldscheinen und in der Verfassung oder auch ohne.

Und nun blicken wir ein wenig schizophrenen Blickes gen Himmel, von wo der Euro auf die Akropolis fällt, und fragen uns, was denn hier eigentlich vor sich geht. Denn wir gewöhnliche Sterbliche, die nicht in die Orakel der Börsen und Banken eingeweiht sind, verstehen überhaupt nichts mehr. Finanztransaktionen, Finanzmärkte, Börsenabschwung und -aufschwung, Ratingagenturen, ein ganzes Konglomerat an für die Augen unsichtbaren Geldsummen und -flüssen sind in den Augen von uns Unwissenden, die von einer europäischen Kultur gesprochen haben, eine Abstraktion geworden, die uns heute auch Karl Marx oder Slavoj Žižek schwerlich erklären könnten. Früher wussten wir, dass es Kapitaleigentümer gab, das heißt Kapitalisten, mit der Familie Krupp konnte man ja noch etwas aushandeln, doch wie soll man mit abstrakten Finanzflüssen verhandeln, wo kein Eigentümer mehr zu sehen ist? Früher erfuhren wir von der Enteignung der Enteigner, die Unwissendsten von uns lasen Ödon von Horváth, der in seinem Roman "Der ewige Spießer" seinem Helden, Kaufmann Schmitz, folgende Worte in den Mund legt: "Ich, Rudolf Schmitz, bin überzeugt, dass es zwischen den europäischen bürgerlichen Großmächten zu keinem Krieg mehr kommen wird, weil man heutzutage eine Nation auf kaufmännisch-friedliche Art bedeutend billiger ausbeuten kann." Das haben wir irgendwie verstanden, während wir heute mit angsterfüllter Brust ins Menetekel blicken: Zerbricht der Euro, dann zerbricht Europa.

Und so bleibt uns nichts anderes übrig, als auf die alte Legende zu vertrauen: Europa reitet auf einem weißen Stier, der im Meer in Richtung Kreta schwimmt. Wir hoffen, dass sie nicht fällt, wir wissen, dass sie es nicht tut, zumindest nicht ins Meer. Was allerdings dort auf Kreta geschieht, ist für Europa eine zwar ein wenig traurige, aber dennoch recht optimistische Fortsetzung.

Übersetzt aus dem Slowenischen von Daniela Kocmut


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Drago Jan?ars Text erschien in der Reihe "Europe now: Ein literarischer Rettungsschirm für Europa", die das Internationale Literaturfestival Berlin organisiert hatte. Wir bringen in Kooperation mit dem Festival 19 Texte von 19 Autoren, jeden Tag einen.