Efeu - Die Kulturrundschau

Superhelden als Erfolgsgaranten

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15.04.2024. Die FAZ bewegt sich mit Eike Weinreichs Inszenierung von Viktor Jerofejews Roman "Der große Gopnik" in Freiburg in den "erogenen Zonen von Kultur und Macht". Die FAZ begegnet im Frankfurter Städel-Museum Käthe Kollwitz' "Schwarzer Anna" und ihrer Sense. Berlinale-Moderatorin Hadnet Tesfai und das ZDF wehren sich dagegen, als Sündenböcke für den Berlinale-Eklat herzuhalten: Die "Aufarbeitung" dieses Falls ist wirklich ein unwürdiges Schauspiel, seufzt der Tagesspiegel. In Backstageclassical warnt der New Yorker Intendant Peter Gelb: Die amerikanische Opernkrise wird auch nach Europa kommen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.04.2024 finden Sie hier

Bühne

"Der große Gopnik" am Theater Freiburg. Foto: Laura Nickel.

Begeistert schildert Kerstin Holm in der FAZ Eike Weinreichs Inszenierung von Viktor Jerofejews "Der große Gopnik" am Theater Freiburg. Jerofejew selbst hat seinen russlandkritischen Roman in ein Bühnenstück umgewandelt, weiß Holm. Weinreich erzählt die Geschichte vom Aufstieg eines Hinterhof-Schlägers zum Chef der Republik hier als eine "Revue der Grenzüberschreitungen in den erogenen Zonen von Kultur und Macht", so die Kritikerin. Ein Glücksgriff ist Martin Hohner als großer Gopnik, schwärmt sie, der ihr denkwürdige Szenen beschert: "Während auf mit Theatertoten übersäten und durch blutrote Videos erleuchtete Treppenstufen eine Ärztin ihm von Schwangeren berichtet, die durch den Beschuss verstümmelt wurden oder ihr Kind verloren, wehrt sich Hohner, indem er ihr entgegnet, die ukrainischen Nazis hätten sich selber beschossen, und die Feindpropaganda würde Russland neuerdings mit toten Kindern bekriegen, wobei er in putinesker Kleinganovenmanier den Hals reckt und die Lippen vorschiebt. Das leblos daliegende Ensemble, das der Gopnik später aufschichtet und umformt, das durch Gesichtsstrümpfe zur anonymen Masse verschmilzt oder hinter ihm herkriecht, ist der Refrain des Krieges."

Björn Hayer ist in der taz ebenfalls rundum überzeugt: "Fulminant und bildstark erfüllt diese stringente Komposition, was Kunst seit jeher antreibt: falschen Autoritäten, in diesem Fall einer der schlimmsten, mit Widerstand zu begegnen." Nachtkritikerin Valeria Heintges kann die Begeisterung nicht teilen: dieser "komplizierte Umtopfungsversuch" ist leider zu statisch geraten, findet sie, und auf die Frage, warum der Diktator Gopnik immer noch vom Volk geliebt wird, erhält sie nicht die Spur einer Antwort.

Axel Brüggemann bringt das neue Magazin backstage classical heraus: Im Interview mit Brüggemann schildert Peter Gelb, Intendant der Metropolitan Opera, die Krise der Opern- und Konzerthäuser in den USA, die auch bald nach Europa kommen könnte und erklärt, wie man wieder mehr Verbindung zum Publikum schaffen kann: "Die Leute, die heute leben, müssen die Bedeutung der Oper für ihr Leben wieder entdecken.  Sie müssen merken, dass die Oper sich einmischt. Wir haben gesehen, dass ein Stück wie "Dead Man Walking" durchaus viele Leute angesprochen hat. Die Oper handelt von der Todesstrafe - das bewegt die Leute in den USA. Die Wirkung auf das Publikum war mit Händen zu greifen. Und wir haben bewusst den Bogen in die Wirklichkeit geschlagen, indem das gesamte Ensemble zwei Tage nach der Aufführung in ein Hochsicherheitsgefängnis bei New York gegangen ist."

Weiteres: Im Tagesspiegel fordert Nikolaus Bernau ein Theatermuseum für Berlin und erinnert an die Theaterhistorikerin Ruth Freydank.

Besprochen werden Lisbeth Colthofs Inszenierung von Akın Emanuel Şipals Stück "Das Pommes-Paradies" am Düsseldorfer Schauspielhaus (nachtkritik), Johanna Schalls Adaption von Ágota Kristofs Buch "Das große Heft" am Theater der Altmark Stendal (nachtkritik), Christoph Roos Inszenierung von "Eine Volksfeindin" nach Henrik Ibsen am Theater Mönchengladbach (nachtkritik), Hendrik Müllers Inszenierung der Puccini-Oper "Madama Butterfly" am Staatstheater Meiningen (nmz), Adel Abdessemeds Inszenierung und Gestaltung von Messiaens "Saint François d'Assise" im Grand-Théatre de Genève (nmz), die Choreografie "Bird Dances" von Kareth Schaffer in den Sophiensælen in Berlin (taz), Francesco Lanzillottas Inszenierung von Bellinis "La somnambula" an der Oper Rom (SZ) und Choreografien von Saburo Teshigawara am Theater Basel (NZZ).
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Film

Entlarvt amerikanische Überheblichkeit: "The Sympathizer" (HBO)

Die HBO-Serie "The Sympathizer", basierend auf dem gleichnamigen Roman von Viet Thanh Nguyen und umgesetzt von dem koreanischen Autorenfilmer Park Chan-wook, kommt bei den Kritikern gut an. Im Mittelpunkt steht ein Doppelagent namens The Captain, der für die CIA und für den Vietkong arbeitet. Tazler Florian Schmid dankt dieser "wilden Mischung aus Agentengeschichte, Kriegsfilm, Sozialdrama und rassismuskritischer Satire" für "eine vietnamesische Perspektive auf diesen für die US-Popkultur so wichtigen Krieg, die im US-Kulturbetrieb völlig fehlt". Die Serie "erzählt als bitterböse Komödie ungeschminkt vom Rassismus gegen vietnamesische Geflüchtete und der Hybris der Amerikaner gegenüber Vietnamesen. ... Nguyens brillanten, ziegelsteingroßen Roman zu verfilmen, ist eine Herausforderung. Park Chan-wook wird ihr gerecht." Auch Nina Rehfeld von der FAZ sah "eine beißende Satire auf amerikanische Überheblichkeit und ungebrochene Arroganz, wenn auch aus dem sicheren Abstand von fünf Jahrzehnten. Aber bei allem perspektivischen Witz ist sie nie zynisch. Auf Entlarvung folgt Tragik, die ihre Wurzeln wiederum in einem größeren Überbau zu finden scheint: dem Hang von Menschen zur Grausamkeit gegen sogenannte 'Andere'."

Berlinale-Moderatorin Hadnet Tesfai und das ZDF wehren sich in Statements dagegen, nun den Schwarzen Peter bei der Aufarbeitung des Debakels der Berlinale-Abschlussgala zugeschoben zu bekommen, wie dies Claudia Roth und Mariette Rissenbeek bei einer Sondersitzung des Kulturausschusses des Bundes vergangenen Woche versuchten (unser Resümee): "Zu überprüfen ist weder die Aussage Rissenbeeks noch Tesfais Antwort", kommentiert Andreas Busche im Tagesspiegel resigniert angesichts dieser Sündenbock-Suche. "Man kann nur hoffen, dass diese 'Aufarbeitung' künftig nicht als Modellfall für die Diskussion über strukturellen Antisemitismus und Rassismus in der deutschen Gesellschaft (und, ja, vielleicht auch in der Kulturszene) herangezogen wird. ... Wer sich allerdings noch an das Lavieren von Kulturstaatsministerin Claudia Roth, dem Documenta-Aufsichtsrat und dem Kuratoren-Kollektiv beim Antisemitismus-Skandal der Kasseler Kunstschau vor zwei Jahren, erkennt ein Muster: ein mangelndes Bewusstsein für die Polarisierung der Gesellschaft bei gleichzeitig einem Höchstmaß an moralischer Selbstgewissheit."

Popstars lösen derzeit Superhelden als Erfolsgaranten an den Kinokassen ab, beobachtet Jakob Thaller vom Standard. Zumindest laufen Biopics über Popstars (aber nicht nur über diese ) gerade verdammt gut. "Biopics sind in den Augen der Produktionsstudios ein perfektes Genre: Man braucht keine innovativen Ideen und kein großes Budget. Aus Nostalgie strömen sowieso genügend bereits vorhandene Fans in die Kinosäle." Doch "wie Superheldenfilme sind Popstar-Biopics erfolgreich, weil sie uns Charaktere und einen Mythos präsentieren, die wir bereits kennen. Echte, schmerzhafte Lebensmomente verkommen zum Klischee. Wo die Wahrheit liegt, interessiert Hollywood nicht."

Weitere Artikel: David Steinitz schreibt in der SZ einen Nachruf auf die Regisseurin Eleanor Coppola. Im dritten Teil seiner Essayreihe für den Filmdienst über Heist-Movies schreibt Leo Geisler an "The Killing" (1956) von Stanley Kubrick. Maria Wiesner erinnert in der FAZ (online nachgereicht) an den Hongkong-Actionklassiker "Police Story" mit Flummiball Jackie Chan und insbesondere an dessen Synchronsation im "Schnodderdeutsch" aus der Feder von Rainer Brandt.

Besprochen werden der Dokumentarfilm "Ein Traum von Revolution", in dem Petra Hoffmann, damals selbst als Brigadistin im Land, die letzten Endes gescheiterte Revolution in Nicaragua Ende der Siebziger aufarbeitet (taz), Alice Rohrwachers "La Chimera" (Tsp, unsere Kritik), Woody Allens "Ein Glücksfall" (Standard, unsere Kritik), Sam Taylor-Johnsons Amy-Winehouse-Biopic "Back to Black" (Jungle World), die vom ZDF online gestelle Science-Fiction-Serie "Infiniti" (FAZ) und die auf Amazon gezeigte Serienadaption des Videospiels "The Fallout" (taz).
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Musik

Tschetschenien will Komponisten verbieten, Musik zu komponieren, die langsamer als 80 Schläge pro Minute ist und schneller als 116 pro Minute und argumentiert dies mit dem tschetschenischen Volkscharakter. "Rhythmus kann schwerlich eine nationale Mentalität widerspiegeln", stöhnt Helmut Mauró in der SZ. Natürlich stecke hinter dieser Maßnahme vor allem "eine Machtdemonstration. ... Ganz grundsätzlich erscheint es als Akt gegen ein menschliches Urbedürfnis und gegen die Menschlichkeit an sich, insbesondere Tanzmusik verbieten zu wollen. Jene Musik also, die mit schnellen Rhythmen einhergeht und die Nähe zu lasziver Bewegung nicht scheut. Ist das der eigentliche Grund der Musikverbote, die sexuelle Komponente, das Ungezügelte an sich, das Ungeordnete, das den Ungehorsam nach sich zieht? Der Verdacht liegt nahe, wenn man sich die lange Tradition musikalischer Gängelung ansieht."

Besprochen werden ein Konzert der Simple Minds (FR), ein Auftritt der Dave Matthews Band in Berlin (BLZ), ein neues Album der Langsamkeits-Metaller Bell Witch (ND-Kritiker Benjamin Moldenhauer "klebt glücklich an der nächsten Wand") und die Neuauflage der Alben von Rowland S. Howard (Standard).

Archiv: Musik
Stichwörter: Tschetschenien

Kunst

Käthe Kollwitz, "Frau und Tod". Städel-Museum, Frankfurt.

Im Frankfurter Städel-Museum sind im Moment die Skulpturen und Grafiken der großen Käthe Kollwitz zu sehen: Es wird auch Zeit, ruft Kia Vahland in der SZ. Es sind besonders die Nuancen in Kollwitz' sozialkritischen Werken, die die Kritikerin hervorhebt. Oft, so Vahland, geht es hier erstmal nicht um einzelne Individuen, sondern um die kollektive Darstellung von, vor allem weiblicher, Armut und Prekarität. Nicht so bei der "Schwarzen Anna" aus Kollwitz' druckgrafischem Zyklus zu den Bauernkriegen: "Sie ist auf dem Blatt von 1905 beim Dengeln zu sehen, beim Schärfen ihrer Sense. Im Entstehungsprozess verdichtete die Grafikerin dieses Motiv immer weiter, bis Anna schließlich die Sense an ihr Gesicht drückt. Das kalte Metall streift ihre große Nase, die Augen sind fast geschlossen. Die kräftige Hand der Bäuerin presst das Schleifwerkzeug an die Sense, und sie scheint sich dabei auf einen Kampf vorzubereiten, als wäre sie David und die Sense ihre Steinschleuder. Uns beachtet sie nicht, obwohl der Bildausschnitt suggeriert, man könne ihren Atem riechen, so nah kommt sie den Betrachtenden. Die Sensenfrau Anna, so viel ist klar, möchte man nicht zur Feindin haben."

Der israelische Filmemacher Amos Gitai ist auch Künstler, erfahren wir von Marcus Woeller in der Welt. In der Villa Kast in Salzburg sind nun einige seiner Werke zu sehen, zum Beispiel vom Herbst 1973, unter dem "unmittelbaren Eindruck des Jom-Kippur-Kriegs", berichtet Woeller: "Abstrakte Zeichnungen hängen da an den Wänden, kraftvolle Striche mit dem Grafitstift, bunte Knäuel aus Pastellkreide auf angegilbtem Papier oder ausgerissenen Zeitungsseiten. Erst langsam, nach und nach, scheinen Gesichter aus dem Gekritzel auf. Erschreckte, leidende, traumatisierte Gesichter ..."

Weiteres: Die FAZ trauert um die afroamerikansiche Künstlerin Faith Ringold. Im Tagesspiegel denken Nicola Kuhn, Krist Gruijthuijsen und Birgit Rieger darüber nach, ob es dieses Jahr in Venedig zu einer "Boycott-Biennale" kommen wird. Peter Kropmanns freut sich in der FAZ über die Wiedereröffnung der Kunstsammlung Bemberg in Toulouse.

Besprochen werden die Ausstellung "Rewilding" im Kunsthaus Baselland (NZZ) und die Ausstellung "Auguste Herbin" im Musée Montmartre in Paris (FAZ), die Ausstellung "Günter Haese zum 100. Geburtstag" im Sprengel Museum in Hannover (taz) und die Ausstellung "Michael Wesely. Berlin 1860 - 2023" im Museum für Fotografie in Berlin (tsp).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Kollwitz, Käthe, Gitai, Amos

Design

Carmen Böker (Zeit Magazin) und Jürg Zbinden (NZZ) schreiben zum Tod des Modedesigners Roberto Cavalli (weitere Nachrufe bereits hier).
Archiv: Design

Literatur

In der SZ fasst Alexander Menden die Redebeiträge der Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zusammen, die unter dem Titel "Wie weiter - Europäische Ansichten zu Antisemitismus und Rassismus nach dem 7. Oktober 2023" stattfand. Unter anderem László Földényi, Terézia Mora, Aris Fioretos und Cécile Wajsbrot gaben Impulsreferate mit teils bedrückenden Eindrücken. "Neutralität gibt es nicht bei diesem Thema. Lukas Bärfuss, der 2019 den Büchner-Preis erhielt, wirft daher seiner Schweizer Heimat vor allem vor, keine Erinnerung an die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs zuzulassen, da sich 'Erinnerung nicht kapitalisieren lasse', sie sei 'nicht asset, sondern liability'. Er begegne immer öfter dem 'feinen Schweigen' (Fritz Stern), mit dem die Shoah begann. Dabei seien es in diesem Zusammenhang doch 'die Toten, die Gemeinschaft bei den Lebenden stiften'. Antworten auf die Frage 'Wie weiter?' sind rar an diesem Abend. Zu aufgewühlt, zu aufwühlend ist die Lage. Dass es aber weitergehen müsse, darauf beharrt Bärfuss: 'Mit frischem Mut, und unverzagt.'"

Weitere Artikel: Im Bücher-Podcast der FAZ spricht Andreas Platthaus mit Judith Schalansky über deren "Naturkunden"-Buchreihe. Richard Schuberth erinnert in einem Standard-Essay an Lord Byron, der vor 200 Jahren gestorben ist.

Besprochen werden unter anderem Percival Everetts "James" (taz), Robert Menasses Essayband "Die Welt von morgen" (Standard), Didier Eribons "Eine Arbeiterin" (TA), Constance Debrés "Love Me Tender" (NZZ), Daisy Hildyards "Notstand" (NZZ), Paul Murrays "Der Stich der Biene" (FR), Şehnaz Dosts "Ruh" (online nachgereicht von der FAZ), Oscar Wildes Briefesammlung "Aus der Tiefe" (Jungle World) und neue Hörbücher, darunter Udo Samels Lesung von Julien Greens Roman "Adrienne Mesurat" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Julia Trompeter über Marie T. Martins "Lösen":

"Trauer, die aus Büscheln spricht,
verwachsene Krustgewächse ..."
Archiv: Literatur
Stichwörter: Antisemitismus, 7. Oktober