Efeu - Die Kulturrundschau

Kunst zur krisengeschüttelten Welt

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12.04.2024. Zeit, der deutsch-jüdischen Kunstvermittlerin Galka Scheyer endlich den Platz in der Kunstgeschichte freizuräumen, der ihr zusteht, finden taz und monopol. Das Filmprogramm in Cannes wird von SZ und Tagesspiegel als ausgewogene Mischung zwischen Klassikern und Debütanten gelobt, die Welt hingegen hätte sich auch deutsche Beiträge gewünscht. Die taz denkt mit dem Architekten Steffen Adam über die Möglichkeiten des sozialen Wohnungsbaus nach. In VAN befürchtet der estnische Komponist Jüri Reinvere, dass Estland zum Freiwild für russische Aggressionen wird.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.04.2024 finden Sie hier

Kunst

Galka Scheyer: Porträt, ca. 1930. Bildrechte: The Blue Four Galka Scheyer Collection, Norton Simon Museum.

"Frau, deutsche Jüdin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Provinz: diese drei Kriterien scheinen verlässliche Garanten für das vollständige Vergessen einer Persönlichkeit zu sein", überlegt Bettina Brosowsky in der taz, und ist froh, dass diesem Vergessen im Städtischen Museum Braunschweig mit der Ausstellung "Galka Scheyer und die Blaue Vier" nun endlich etwas entgegen gesetzt wird. Zunächst selbst Malerin, wird sie später als Kunstvermittlerin in den USA bekannt und vertritt Alexej Jawlenski, Paul Klee, Wassily Kandinsky und Lyonel Feininger, die "blauen Vier": Sie "erhoffte sich eine kunstaffine und finanziell liquide Klientel aus der Filmbranche. Ein manischer Sammler wie der Regisseur Josef von Sternberg kaufte dann zwar bei ihr, aber das reichte nicht. Scheyer musste erst einmal den Einfluss der Frauen in den USA auf den Kunstmarkt entdecken. Denn sie waren es, die auch bei bescheidenen Mitteln selber sammelten oder über familiäre wie institutionelle Kunstkäufe entschieden." Zusätzlich zur Braunschweiger Ausstellung gibt es nun auch eine Biografie, die Gilbert Holzgang verfasst hat, weiß Jens Hinrichsen im monopol und resümiert: "Wer ihn noch nicht gehört hat, sollte sich den Namen merken. Ihre Künstlerinnenkarriere verfolgte sie nicht so intensiv, dass sie dort Herausragendes leistete. Aber als Unterstützerin großer Persönlichkeiten der klassischen Moderne hat sie Kunstgeschichte geschrieben. Man könnte Galka Scheyer einen 'stillen Star' der Moderne nennen - wenn ihr Rufname 'Galka' (russisch: Dohle) nicht auf ihre Stimme, die durchdringend gewesen sein soll, gemünzt wäre."

Im großen FR-Gespräch laviert der neue hessische Kulturminister Timon Gremmels um die Zukunft der Documenta herum. Verhindern, dass es wieder zum Eklat kommt (unsere Resümees), möchte er "durch eine deutlich sensiblere Documenta GmbH und eine deutlich sensiblere künstlerische Leitung. Wobei man natürlich darauf aufpassen muss, dass die künstlerische Freiheit gewahrt bleibt. Die Sorgen, dass diese eingeschränkt werden könnte, nehme ich ernst. Wichtig ist, dass alle Beteiligten eine klare Haltung haben und wir wissen, wie eine künstlerische Leitung sich zu diesen Themen positioniert." Wie genau diese klare Haltung aussehen soll, wird aber auch in seiner Antwort auf die Frage, wieso der israelbezogene Antisemitismus gerade in der Kulturszene erstarkt, nicht so ganz klar: "Dieser Konflikt wird im Bereich der Kunst und auch der Wissenschaft stellvertretend für die ganze Gesellschaft ausgetragen. Sie werden auch mit den besten Regelungen nicht verhindern können, dass etwas passiert."

Der Hamburger Bahnhof hat die Dauerausstellung mit Werken von Joseph Beuys in der Kleihueshalle dank einer Schenkung der Familie des Sammlers Erich Marx deutlich erweitern können, freut sich Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung. Die Frage "Was würde er für eine Kunst zur krisengeschüttelten Welt von heute machen?" beantwortet eine korrespondierende Ausstellung der Klangkünstlerin Naama Tsabar: "An den Hallenwänden hat Tsabar ausladende, in den Raum gebogene, klangschluckende, teils mit Kohlefasern behandelte Filzmatten befestigt, eine Art monumentales Tonstudio - oder ein Konzertsaal. Sie und ihre Kuratorin Ingrid Buschmann bringen uns die Rauminstallation als 'Soziale Skulptur' im Sinne von Beuys nahe. Als Einbeziehung des Publikums in den Resonanzraum und als musische Performance."

Weiteres: Fatima Hellberg wird neue Direktorin des Wiener Mumok, melden Standard und monopol. Polen fährt aus politischen Gründen mit zwei Ausstellungen zur Biennale, lässt sich der SZ entnehmen.

Besprochen werden: Der Fund eines neuen Wandgemäldes in Pompeji (FAZ) und die anstehende "Affordable Art Fair" in Berlin (Berliner Zeitung).
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Architektur

Undatierte Postkarte mit der Carl-Legien-Siedlung. Bild: Welterbe Siedlungen Berlin.
Vor hundert Jahren wurde die Gehag (Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft) gegründet, die in Berlin etliche bezahlbare Wohnungen in Wohnsiedlungen geschaffen hat, zu diesem Anlass interviewt Jannis Hartmann in der taz den Architekten und Bauhistoriker Steffen Adam in der Siedlung Carl Legien, die mittlerweile zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Der Architekt hat Ideen, wie sich ein solches soziales Bauen auch heute wieder ankurbeln ließe: "Es bräuchte einen Zusammenschluss aller gesellschaftlichen Kräfte guten Willens: Ich denke da an Baugenossenschaften, genossenschaftliche Banken und Versicherungen, die Gewerkschaften. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass, anders als in der klassischen Moderne, die Kirchen und große Parteien wie die Grünen oder SPD dabei sind. Sie könnten ihr Parteivermögen vernünftig anlegen. (…) Vielleicht war die Basis damals zu klein. Ist sie größer, könnte man sich besser gegen die private Bauwirtschaft behaupten. Auch Bedenken einer zögerlichen Verwaltung könnten gemindert werden - also all das, was wir heute fordern. Es wäre mal wieder Zeit, das in die Diskussion zu werfen."
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Film

Cannes hat sein Programm verkündet - und mal wieder ist der Wettbewerb ein erlesenes Stelldichein der großen Namen: Von Francis Ford Coppola, der sein wohl ambitioniertestes (und komplett aus eigener Tasche finanziertes) Werk "Megalopolis" vorstellen wird, über Paul Schrader und David Cronenberg bis zu Yorgos Lanthimos und vielen "Regie-Debütantinnen in der Nebenreihe Un Certain Regard" gelingt es Festivalleiter Thierry Frémaux mal wieder, "die Klassiker und die kommende Generation zu vereinen", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Ebenfalls im Wettbewerb vertreten sind einige andere der größten Autorenfilmernamen der Welt", schreibt David Steinitz in der SZ: "Die Britin Andrea Arnold kommt mit ihrem neuen Film ebenso wie ... die Cannes-Dauergäste Paolo Sorrentino, Kirill Serebrennikow und Ali Abbasi. Letzterer geht mit 'The Apprentice' ins Rennen, einem Film über die New Yorker Anfangsjahre des Geschäftsmanns Donald Trump. Der perfekte Film zum Wahlkampfendspurt in den USA also." Und "es gibt auch Chinesen (Jia Zhang-Ke), Inder, Portugiesen, Brasilianer, Iraner in der Auswahl", schreibt Jan Küveler in der Welt. "Deutsche sucht man vergebens."

Weitere Artikel: Thomas Abeltshauser spricht für epdFilm mit der Filmemacherin Alice Rohrwacher über deren neuen, auf Artechock besprochenen Film "La Chimera" (unsere Kritik hier). Wolfgang Lasinger resümiert für Artechock den Schwerpunkt zum experimentellen Kino der diesjährigen Diagonale. Für den Standard spricht Katharina Rustler mit der Filmemacherin Anja Salomonowitz über die Künstlerin Maria Lassnig, die sie im Biopic "Mit einem Tiger schlafen" porträtiert.

Besprochen werden Ali Asgaris und Alireza Khatamis "Irdische Verse" (Artechock), Woody Allens "Ein Glücksfall" (Artechock, unsere Kritik), Stevan Zaillans Netflix-Serienadaption von Patricia Highsmiths "Der talentierte Mr. Ripley" (NZZ), Arkasha Stevensons Horrorfilm "The First Omen" (Standard), Soleen Yusefs "Sieger sein" (Artechock, online nachgereicht von der FAS), die Arte-Serie "Machine - Die Kämpferin" (taz) und die Amazon-Serienadaption des Games "Fallout" (Presse).
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Literatur

Die Literarische Welt hat die Liste mit den Lieblingsbüchern des Thriller-Autors Andreas Pflüger online nachgereicht. Besprochen werden unter anderem Dana Grigorceas "Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen" (FR), Szczepan Twardochs "Kälte" (NZZ), Michael Kliers "Zwischen uns der Fluss" (Tsp) und Robert Menasses Essayband "Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa - und seine Feinde" (Welt). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Design

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In der SZ schreibt Gerhard Matzig zum Tod des Auto-Designers Paolo Pininfarina, dessen "Firma einige der schönsten Autos der Welt gestaltet" hat. Dazu zählt etwa der heute sündhaft teure Ferrari 500 Mondial aus den Fünfzigern, "ein Kunstwerk. Wenn der Satz der Futuristen, wonach ein Rennwagen schöner sei als eine antike Skulptur, je gültig war: dann im Angesicht eines Autos, das kein Auto, sondern ein Gottesdienst ist." Im Gegensatz zum heutigen, allgemein gängigen Autodesign, das "zum Teil zur Groteske verkommen" ist. "Die Gestaltungsabteilungen etlicher Autofirmen standen früher mit an der Spitze der Unternehmen - heute haben sie oft etwas von untergeordneten Befehlsempfängern. Und dann wundert man sich, warum die Leute die Autos, die man nur mit einer Papiertüte über dem Kopf fahren möchte, nicht mehr lieben. Paolo Pininfarina war einer der großen Liebenden."

Besprochen wird Francesca Cartier Brickells Buch "Die Cartiers. Eine Familie und ihr Imperium" (online nachgereicht von der FAZ).
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Musik

Matthias Nöther spricht für VAN mit dem estnischen Komponisten Jüri Reinvere, der von Frankfurt am Main aus auch als politischer Journalist für Estlands größte Tageszeitung Postimees in seine Heimat wirkt, wo er vergangenes Jahr als "Meinungsführer des Jahres" ausgezeichnet wurde. Die Hochkultur steht dort sehr solidarisch zur Ukraine - doch zugleich wird die Hochkultur von Politik und Gesellschaft zusehends an den Rand gedrängt - für Reinvere ist das "politisch gefährlich. In Estland sieht man das an Tartu, der diesjährigen europäischen Kulturhauptstadt. Tartu ist eine Stadt mit einer der reichsten Geschichten in Europa." Doch "davon ist nichts zu sehen. Stattdessen sind die Highlights der Kulturhauptstadt Conchita Wurst und Bryan Adams. ... Das zeigt so markant, wie stark das Selbstbewusstsein und Selbstinteresse verschwunden ist und wie verzweifelt die estnische Kulturszene momentan versucht, das nachzumachen, was in London sozusagen fünfte oder sechste Bühne ist." Doch "sobald Estland ohne Kultur ist, ist dieses Land Freiwild für russische Propaganda und russische Aggressionen. Das Baltikum und auch gewissermaßen Skandinavien haben eine Selbstständigkeit vorwiegend in kulturellen Dingen."

Jeffrey Arlo Brown spricht für VAN mit Stas Nevmerzhytskyi, dem Chefredakteur des ukrainischen Klassik-Onlinemagazins The Claquers, der in den nächsten Tagen als Soldat an die Front gehen wird. Seit der russischen Invasion hat man sich verstärkt mit dem Aspekt des russischen Kolonialismus befasst, erzählt er. "Russische Kultur, insbesondere russische Musik, fungierte schon immer als Deckmantel für den aggressiven russischen Kolonialismus und Imperialismus. Aber darüber wird im Westen nicht gesprochen; im Westen wird sie als eine Kultur wahrgenommen, die auf denselben Werten aufbaut wie die europäische Kultur. ... Wegen dieser 'Überlegenheit' der russischen Musik wurde ukrainische Musik immer kleingehalten und ignoriert - russische Musik wurde immer als großartig und ukrainische Musik als zweitklassig angesehen. Deshalb kennt der Westen Schostakowitsch und all die Geschichten darüber, dass er angeblich gegen die Sowjetregierung war, aber nicht Borys Ljatoschynski, einen ukrainischen Komponisten, der zur gleichen Zeit gelebt hat und der auch ein großer Komponist war. ... Es ist sehr frustrierend und demütigend zu sehen, wie ukrainische Musik in Europa in den Kontext russischer Musik gestellt wird."

Weitere Artikel: Benjamin Moldenhauer liest für die taz eine Studie über Antisemitismus in Deutschrap und Jugendkultur. Benjamin Poore erkundigt sich für VAN nach der Rolle von Orchester-Assistenten. Für die FAZ porträtiert Hannes Hintermeier den österreichischen Musiker Voodoo Jürgens, der zuletzt als Schauspieler und nun auch als Maler von sich reden macht. Luca Glenzer plaudert für die taz mit der Indiemusikerin Katharina Kollmann alias nichtseattle über deren neues Album. In ihrem aktuellen Video tastet die Kamera das Gesicht von Dirk von Lowtzow ab:



Besprochen wird ein Strauss-Konzert der Wiener Symphoniker unter Petr Popelka (Standard).
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Bühne

"Last Night a DJ Took My Life" im Schauspielhaus Zürich. Foto: Zoé Aubry.

Ueli Bernays war für die NZZ im Schauspielhaus Zürich und ist mit dem Musical "Last Night A DJ Took My Life" in die Tiefen des Eurodance abgetaucht - und in Leben und Karriere von Lori Glori, die hier nicht nur eigene Erfahrungen aufarbeitet, sondern auch gleich die Hauptrolle übernimmt: Das Musical wird "als Lehrstück dafür gezeigt, wie sich mittelmäßige europäische Musiker und Produzenten an afroamerikanischer Kunst vergreifen und dabei nicht nur Urheberrechte verletzten, sondern auch die Würde der Künstlerinnen und Künstler. In einer fiktiven, etwas langatmigen TV-Sendung wird über das Thema diskutiert. Irgendwann wird auch ein Dreigestirn des Bösen bemüht - Patriarchat, Rassismus, Sexismus -, um das Unrecht begrifflich zu fixieren. Eindrücklicher aber als die Moral von der Geschichte sind in 'Last Night a DJ Took My Life' gleichwohl die bunten Klamotten, die Persiflage von Ravern und Produzenten. Und last, but not least die beherzte Stimme von Lori Glori." Nachtkritiker Luca Koch weiß darüber hinaus: "Lori Glori erklimmt in verschiedenen Projekten die Charts, doch die hinterlistige Musikindustrie wird ihr zum Verhängnis. Für den Schweizer Produzenten DJ Bobo singt sie die Melodien zu seinen größten Hits im Studio ein (...). Trotz des Millionenerfolgs der Songs wird Lori Glori nie daran beteiligt, selbst ihre namentliche Nennung muss sie sich erkämpfen." Er resümiert: "Eine Produktion, die lachend und nachdenklich stimmt und eine bemerkenswerte Musikerin porträtiert."

Weiteres: Die Berliner Zeitung berichtet über ein gigantisches Haushaltsloch am Deutschen Theater, für das sich keiner verantwortlich fühlen möchte. Die FR spürt der Uraufführung von Goethes "Götz von Berlichingen" vor nun 250 Jahren nach.

Besprochen wird: Puccinis "La Rondine" an der Volksoper Wien (Standard).
Archiv: Bühne