Efeu - Die Kulturrundschau

Eine neue Nouvelle Vague

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08.04.2024. Migrantische Stimmen werden von der französischen Gesellschaft nicht gehört, sagt die Filmemacherin Alice Diop in der NZZ. Der Tagesspiegel fällt bei Hakan Savaş Micans Adaption von "Unser Deutschlandmärchen" fast vom Sitz des Gorki Theaters. Außerdem denkt er über gigantomanische Bauten nach. Die Welt hält den Beschwerden über Klaus Mäkeläs junges Alter entgegen: Dirigenten müssen nicht mehr reifen wie guter Wein.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.04.2024 finden Sie hier

Film

Urs Bühler spricht für die NZZ mit der aus dem Senegal stammenden, französischen Filmemacherin Alice Diop, die den migrantischen Positionen in Frankreich eine Stimme verleiht. "'Ich komme aus einer gesellschaftlichen Klasse, die sehr wenig gesehen wird. Diese Leute werden kaum je gefilmt, gelten als uninteressant. Ihre Geschichten sind solche des täglichen Überlebens, aber nicht heroisch. Um diese zu erzählen, bin ich Filmemacherin geworden.' ...  Der französische Staat sei blind für diese Schichtung und Vielfalt der Erinnerungen, klagt Diop. Denn der republikanische Mythos der Brüderschaft des Volks, einer universellen Gesellschaft, die für alle gut sei, basiere auf dem Ideal einer kulturellen Homogenität. Und dieses bremse eine Weiterentwicklung aus. Also brauche es frische Wege der Narration, das Kino sei einer davon, und in Frankreich wachse so etwas wie eine neue Nouvelle Vague heran: 'Vor allem im Dokumentarfilm halten neue Perspektiven Einzug, mit Blick auch in die Peripherie.'"

Weitere Artikel: Marie Serah Ebcinoglu verneigt sich in der FAS (online nachgereicht) vor Larry David und dessen Serie "Curb Your Enthusiasm", die nun nach 24 Jahren, bzw zwölf Staffeln zu Ende geht. Valerie Eiseler plaudert für die FR mit dem Schauspieler Dev Patel, der aktuell in "Monkey Man" im Kino zu sehen ist. In der Berliner Zeitung empfiehlt Claus Löser eine der Schauspielerin Ruth Leuwerik gewidmete Retrospektive im Zeughauskino. Nachrufe auf den Schauspieler Peter Sodann schreiben Gregor Dotzauer (Tsp), Michael Bartsch (taz), Stefan Locke (FAZ) und Torsten Wahl (BLZ).

Besprochen werden eine restaurierte Fassung von Satoshi Kons Anime-Klassiker "Paprika" von 2006 (FD) und Matteo Garrones "Io Capitano" (Standard).
Archiv: Film

Bühne

"Unser Deutschlandmärchen" am Gorki Theater Berlin. © Ute Langkafel MAIFOTO.

Regelrecht vom "Theatersitz" gehauen wird Tagesspiegel-Kritikerin Christine Wahl von Hakan Savaş Micans Adaption von "Unser Deutschlandmärchen" am Maxim Gorki Theater Berlin. Mit viel Gefühl inszeniert Mican den biografisch geprägten Debütroman von Dinçer Güçyeter, freut sich Wahl. Der gleichnamige Protagonist verhandelt hier das Verhältnis zu seiner Mutter, die als Gastarbeiterin nach Deutschland kam und ihr Leben lang zwischen Fabrikarbeit und Familie hin-und her hetzte, in einem humorigen wie hochemotionalen Dialog, so die Kritikerin: "In bester Pathosvermeidungsmanier transportieren Mutter und Sohn - eine hervorragende Regieidee - das Wesentliche ihrer Gefühlshaushalte musikalisch über die Rampe: Fatma intoniert wunderbar elegische türkische Lieder, Dinçer performt sich durchs westliche Rock- und Pop-Repertoire seiner Generation. Dazu spielt live eine fünfköpfige Band, die den Mutter- und den Sohnes-Kosmos stilistisch wie instrumental erstklassig zu verbinden weiß." Auch Nachtkritikerin Elena Philipp ist angetan: "Der Regisseur holt den Witz von Güçyeters Mutter-Sohn-Geschichte unter dem Schleier der Melancholie hervor. Darüber hinaus behandelt Mican die Vorlage behutsam und montiert geschickt."

Besprochen werden Adewale Teodros Adebisis Inszenierung von Amanda Wilkins Historiendrama "Die Bridgetower-Sonate" am Schauspiel Leipzig (nachtkritik), Luise Voigts Adaption von Sheridan Le Fanu Buch "Carmilla. Eine steirische Vampir-Satire" am Schauspielhaus Graz (nachtkritik), Jessica Glauses Inszenierung von "Café Schindler" nach Meriel Schindlers biografischer Recherche ihrer Familiengeschichte am Tiroler Landestheater in Innsbruck (nachtkritik), Krzysztof Minkowskis Inszenierung von Jean Paul Sartres Stück "Die schmutzigen Hände" am Volkstheater Rostock (nachtkritik), Frank Hoffmanns Inszenierung von Albert Ostermeiers Stück "Stahltier" am Renaissance-Theater in Berlin (FAZ), Chris Jägers Tanzstück "Daddy Shot My Rabbit" am Staatstheater Darmstadt (FR), Markus Trabuschs Inszenierung von Christoph Ehrenfellners Oper "Karl und Anna" am Frankentheater Würzburg (FR), Sebastian Baumgartens Inszenierung von Roman Haubenstock-Ramatis Oper "Amerika" an der Oper Zürich (nmz) und das Verdi-Pasticcio "Revoluzioni e Notalgia", inszeniert von Krystian Lada an der Brüsseler La-Monnai Oper (nmz), Helge Schmidts Inszenierung des Rechercheprojekts "Hafenstraße" zum Brand in einer Asylunterkunft am Theater Lübeck (taz), Nora Abdel-Maksouds Inszenierung von "Doping" an den Kammerspielen in München (SZ),  und Martin G. Bergers Inszenierung der Salieri-Oper "Cublai, gran kan de' Tartari" im Theater an der Wien (FAZ, tsp).
Archiv: Bühne

Literatur

Timo Feldhaus plaudert für die Berliner Zeitung mit Helene Hegemann unter anderem über deren neue, im RBB gezeigte Literatursendung "Longreads" und über Berlin (für die Schriftstellerin der "Mittelpunkt der freien Welt"). Paul Jandl wirft einen Blick auf Insa Wilkes Youtube-Literatursendung "Cafe Lit" (mehr dazu bereits hier). Die Schriftstellerin Dine Petrik philosophiert im Standard über Krieg, Frieden und den Schutzengel der Geschichte. Helene Proißl porträtiert für den Standard die Schriftstellerin Franziska Füchsl. In der SZ-Serie über Kafka erzählt Barbara Vinken von ihrer "Amerika"-Lektüre, mit der sie sich auf ihre Reise in die USA wappnete (auch wenn Kafka selbst nie in Amerika gewesen ist). Arno Widmann erinnert in der FR an die Debatte um Günter Grass' heute vor zwölf Jahren veröffentlichtes, israel-kritisches Gedicht "Was gesagt werden muss". Kenan Emini wirft für die taz einen Blick auf Roma-Figuren in Mainstream-Comics. Ronald Pohl erinnert im Standard an eine Heine-Satire von Karl Kraus. Andreas Platthaus (FAZ) und Felix Stephan (SZ) gratulieren dem Schriftsteller Christoph Hein zum 80. Geburtstag. Außerdem bringt der Standard ein Gedicht von Clemens J. Setz.

Besprochen werden unter anderem Anne Webers "Bannmeilen" (NZZ), Ulrich Peltzers "Der Ernst des Lebens" (FR), Barbi Markovics "Minihorror" (Intellectures), José F. Olivers "In jeden Fluss mündet ein Meer" (online nachgereicht von der FAZ), die Korrespondenz von Peter Handke und René Char (Standard), Markus Berges' "Irre Wolken" (online nachgereicht von der FAZ) und Andrea Grills "Perfekte Menschen" (Standard). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Frieder von Ammon über Goethes "Celebrität":

"Auf großen und auf kleinen Brucken
Stehn vielgestaltete Nepomucken
Von Erz, von Holz, gemalt, von Stein ..."
Archiv: Literatur
Stichwörter: Grass, Günter, Grill, Andrea

Kunst

FAZ-Kritiker Hans-Christian Rößler wandelt durch die neue Schau des Picasso-Museums in Málaga und kann hier den Künstler in seiner "Gleichzeitigkeit" und nochmal ganz neu entdecken. Denn das Museum setzt vor allem darauf, die widersprüchlichen Seiten des Malers in Szene zu setzen, so Rößler: "In Málaga bürstet man auch bei anderen Fragen gegen den Strich. Es ist kein Zufall, dass in dem Saal, in dem es um sein Verhältnis zu Frauen geht, eine Wand starke und kreative Frauen vereint: Sie sind Kämpferin, Musikerin und Malerin und nicht seine Opfer, auf die sie zuletzt oft reduziert worden waren. Der politische Picasso hält sich in Málaga im Hintergrund. Der Spanische Bürgerkrieg und der Zweite Weltkrieg haben die Farbe Grau; die Auswahl zeigt statt expliziter Gewalt das Leiden. Die gespenstische 'Büste einer Frau' aus dem Jahr 1941 reduziert ihr Gesicht auf eine rüsselartige Nase mit Zähnen, die aus einem fleischlosen Kiefer ragen; Farbe tropft wie Blut aus ihrer Kleidung. Knapp zwei Jahrzehnte später greift er 1962 die Kriegsstimmung mit dem 'Gefesselten Hahn' (El gallo atado) wieder auf. Er liegt wehrlos neben einem Messer, bereit für seine Folterer."

Weiteres: FAZ und Tagesspiegel melden, dass Eike Schmidt, der ehemalige Direktor der Uffizien in Florenz, nun für die Stadt als Bürgermeister kandidieren will. Besprochen wird die Ausstellung "Käthe Kollwitz"im Museum of Modern Art in New York (NZZ).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Picasso, Pablo, Malaga

Architektur

Nikolas Bernau denkt im Tagesspiegel über "gigantomanische" Architekturen wie das Musée des Confluences in Lyon oder das Calatrava-Stadtviertel in Valencia nach. Faszinierend sind solche Großprojekte immer noch, aber "die Ökobilanz dieser Bauten muss grauenhaft sein. So viel hochenergetischer Beton und Stahl, der einfach nur steht, um zu stehen, die irrwitzige Verdunstungsquote der flachen, schnell aufgeheizten Spiegelwasserteiche, die trotz der vielen Touristen lachhaft niedrige Nutzung. Die wie ein Riesenhai aussehende Oper in Valencia ist ausweislich ihres Spielplans nur ansatzweise ausgelastet, in den gleich Riesengürteltieren lagernden Museen in Lyon und Valencia ist das Verhältnis Mensch-Ausstellungsplatz pro Objekt-umbauter Raum extrem luftig."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Musee des Confluences

Musik

Michael Moorstedt von der SZ hält die Warnungen von namhaften Musikern, darunter Billie Eilish, vor KI in der Musikgenerierung durchaus für gut begründet. Die KI-Macher sehen in ihren Tools zwar ein Mittel zur Demokratisierung der Musikproduktion, "aber führt die Möglichkeit, sich neue Formen der bevorzugten Musik zu imaginieren in eine mehr als nur sprichwörtliche Echokammer, in der es unerhört erscheint, etwas anderes zu hören als die eigenen, sofort befriedigten Launen? Durch den Wunsch, das Werk eines Künstlers zu erweitern, wird dieser letztlich völlig verdrängt, weil sich der vom Hörer zum Nutzer verwandelte Fan nämlich über die kreativen Entscheidungen des Vorbilds hinwegsetzt. Das ursprünglich so geschätzte Werk wird zum schnöden Input degradiert, wird mehr oder weniger willkürliches Ausgangsmaterial und Remix-Spachtelmasse für die eigenen Bedürfnisse."

Den Unkenrufen, der Dirigent Klaus Mäkelä sei mit 28 Jahren doch viel zu jung, um nach leitenden Positionen beim Orchestre de Paris und dem Oslo Philharmonic nun auch noch zum Chef des Chicago Symphony Orchestra berufen zu werfen, hält Manuel Brug in der Welt entgegen, dass Dirigenten auch nicht mehr so zwingend wie einst mit zunehmendem Alter reifen wie guter Wein: "Wir haben in den letzten Jahren erlebt, wie gestrige Vorwärtsstürmer wie Daniel Harding, Philippe Jordan, Lionel Bringuier und in gewisser Weise auch Gustavo Dudamel heute plötzlich stagnieren, nichts mehr kreativ zu sagen haben, schlecht reiften. Die einen haben trotzdem attraktive Posten bekommen, andere nicht. ... Lassen wir den frischen Finnen Mäkelä mal machen. Nicht alles wird brillant werden, manches hoffentlich schon. Versuche und irre."

Ohne Alice Coltrane hätte ihr Ehemann John Coltrane niemals den Weg in jene absolute Freiheit gefunden, die er sich in den Sechzigern erspielt hatte, ist sich SZ-Kritiker Andrian Kreye sicher und verweist zum Beweis auf Alice Coltranes eben veröffentlichtes "The Carnegie Hall Concert" (hier als Youtube-Playlist mit toller Retro-Visualisierung) aus dem Jahr 1971. Zweien der insgesamt vier ausufernden Stücke liegen Kompositionen ihres 1967 verstorbenen Ehemannes zugrunde: "'Africa' war das Stück ihres Mannes, das sie, wie es heißt, am meisten bewegt hatte. In dieser Live-Fassung ist es ein gewaltiges Aufbäumen. Sie gibt über fast eine halbe Stunde sowohl der doppelten Rhythmusgruppe als auch den beiden Saxofonisten viel Raum, sich gegenseitig hochzuschaukeln, sämtliche Nischen und Räume des Stückes auszuloten. Dann kommt das Finale. 'Leo' ist eine der kraftvollsten Kompositionen John Coltranes, das er auf seinem epochalen Duo-Album 'Interstellar Space' mit dem Schlagzeuger Rashied Ali erstmals veröffentlichte. Letztlich besteht es aus einem brachialen Oktavsprung als Thema und einer Struktur, die mehr Welle als Komposition ist."



Außerdem: Beglückt kommt NZZ-Kritiker Marco Frei von seinem Besuch in Sergei Rachmaninows vor einem Jahr als Kulturzentrum eröffneten Villa in Luzern nach Hause, die sich in seinen Augen zu einer neuen Villa Massimo entwickeln könnte: "Die Schweiz ist dabei, sich mit der Villa Senar einen eigenen, weltweit einzigartigen Kunstort zu schaffen." Ziemlich skeptisch reagiert Till Wagner in der Jungle World darauf, dass die Berliner Clubkultur zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt wurde und damit musealisiert werde: "Damit wird genau jenes widerständige Potential abgeschliffen, das sie vormals interessant machte." Frank Heer spricht in der NZZ mit Mark Knopfler über dessen (in der FAZ besprochenes) Soloalbum "One Deep River". Jakob Biazza (SZ) und Dirk Peitz (Zeit Online) denken darüber nach, dass mit Die Ärzte und der Antilopen Ǵang gleich zwei deutsche Popbands aus dem linken Spektrum mit neuen Songs politische Statements abgeben: Die Ärzte mit "Demokratie" einen dann doch ein bisschen sehr sozialpädagogisch-biederen Aufruf, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen, die Antilopen mit "Oktober in Europa" hingegen mit einer zugespitzten Abrechnung mit dem israelkritischen Konsens in Gesellschaft, Kulturbetrieb und eigener Szene-Blase:



Besprochen werden Molly Lewis' Album "On the Lips" (FR), Nikolaus Matthes' Neuvertonung einer "Markus-Passion" im Bach-Stil (FAZ, mehr dazu bereits hier), die Ausstellung "Anton Bruckner. Der fromme Revolutionär" in der Österreichischen Bibliothek (FAZ), eine Aufnahme aller Brahms-Streichquartette durch das Agate Quartett (FAZ), das neue Album von Vampire Weekend (SZ) und das Comeback-Album der Libertines (Standard).

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