Efeu - Die Kulturrundschau

Mörderischer Nadeltanz um einen Zahnarztstuhl

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01.12.2023. Späte Reue und eine Geldzahlung sind das Resultat des eingestellten Verfahrens gegen den Choreografen Marco Goecke, melden SZ und Zeit. Für die taz ist Christiane Mudras neues Stück "Hotel Utopia" mit den Erfahrungen Geflüchteter harter Tobak. Ridley Scotts "Napoleon" sorgt in der NZZ weiterhin für Diskussionsstoff. Die FAZ spürt den Einflüssen Kafkas auf die Kunst nach. Reichlich irritiert ist der Tagesspiegel von Eva Menasses PEN-Stellungnahme zu Fragen der Trennung von Autor und Werk. Und alle trauern um Shane MacGowan.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.12.2023 finden Sie hier

Bühne

Das Verfahren gegen den Choreografen Marco Goecke, der die Kritikerin Wiebke Hüster mit Hundekot attackiert und damit "für das Theaterereignis des Jahres gesorgt" hatte, wie Egbert Tholl in der SZ bekundet (unser Resümee), wird gegen eine Geldzahlung eingestellt. "Mittelfristig dürfte sein Ausraster seiner Karriere kaum geschadet haben", vermutet Tholl, hätte er damit doch wichtige Diskussionen über die Stellung der Kritik im Kulturbetrieb angestoßen. Hüster eigne in der Schärfe ihrer Besprechungen "durchaus eine Art Alleinstellungsmerkmal." Die Zeit zitiert aus einem Interview, das der Choreograf der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung gegeben hat: "Goecke bereut seine Hundekot-Attacke inzwischen. 'Es ist tragisch, was passiert ist, und auch zu bereuen' (…). Er habe immer versucht, gerade bei der Arbeit ein guter Mensch zu sein. 'Ich bin entsetzt und traurig, dass ich mit einer solchen Tat nun auch Teil des Schlechten bin', sagte er." Eine "mittlere vierstellige Summe" komme nun einem gemeinnützigen Verein für Konfliktschlichtung zu, melden beide Zeitungen übereinstimmend.

Hotel Utopia. Foto: Verena Kathrein.

Zu gleichen Teilen beeindruckt, mitgenommen und überfordert ist taz-Kritikerin Amelie Sittenauer von Christiane Mudras interaktivem Theaterstück "Hotel Utopia", das passenderweise, wie sie findet, im THF Tower des alten Flughafens Tempelhof gespielt wird. Die Erfahrungen Geflüchteter, die hier im Zentrum stehen, können aus nächster Nähe nachvollzogen werden: "Beim 'Check-In' wird jede*r Teilnehmer*in mit einem Pass und einer Nationalität ausgestattet, so auch die Autorin dieses Textes, mit jenem von Zahra Naseri. Plötzlich befindet sie sich wie etwa 30 andere Menschen in den Transitzonen des internationalen Grenzsystems, mitten im Dickicht des Behördendschungels zwischen Jobcenter, Bamf, Erstaufnahmeeinrichtung, Botschaft, Integrationskurs und Ausländerbehörde. Anhand ihres afghanischen Passes (Pass-Index Nummer 93) wird sie dort vermessen, befragt und bewertet." Mudra habe hier immens viele Informationen und Erfahrungen verarbeitet, allerdings "wirkt die Inszenierung dadurch teils überfrachtet. Da vermitteln die eigens gemachten Erfahrungen des Publikums mit der bürokratischen Gewalt des Grenzregimes die Thematik viel deutlicher und direkter", wie der Kritikerin ein anderer Besucher zeigt:  Er "ist überwältigt von der Akkuratheit der Darstellung. Vor zwölf Jahren floh er selbst aus Afghanistan nach Deutschland: 'Es war genauso. Wir haben tage- und monatelang gewartet.'"

Nachtkritiker Janis El-Bira hält fest: "Eine erschlagende Materialfülle, die zur Banalität des Behördenrundgangs etwas streberhaft draufgesetzt wirkt, vor allem aber den Eindruck einer Ebenenverwechslung erzeugt. Denn die vielen eingeschobenen Exkurse und Frontalunterrichte lassen das Spielelement leicht vertrocknen. Dann vollzieht man im erschöpften Schlangestehen und Stempelsammeln bloß noch symbolisch die Unmenschlichkeit eines Systems nach, das einem hier Mal ums Mal eh unmissverständlich ausexpliziert wird."

Weiteres: Judith von Sternburg (FR) interviewt die Regisseurin Lydia Steier zu ihrer "Aida"-Inszenierung an der Oper Frankfurt.
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Film

Warme und verträumte Bilder: "Mein Falke" von Dominik Graf

Von den Feuilletons nach unserem Überblick bislang eher unbemerkt, hat ein neuer Film von Dominik Graf über die Arte-Mediathek seinen Weg in die Öffentlichkeit gefunden. "Mein Falke" erzählt von der Biologin Inga (Anne Ratte-Polle), die in einem komplexen Verhältnis zu Ehemann und Vater steht und darüber hinaus mit diversen Herausforderungen konfrontiert ist. "Ähnlich wie schon in 'Hanne' (2018) erzählt Graf von einer Frau, die sich selbst als Zumutung empfindet", schreibt Luca Schepers auf critic.de. "'Mein Falke' hätte eine metaphorisch überfrachtete Geschichte werden können, verwandelt sich bei Graf aber vor allem in warme und verträumte Bilder." Zugleich "ist 'Mein Falke' mit Wolfsburg an einem sehr spezifisch deutschen Ort angesiedelt", der 1938 von den Nazis gegründet wurde. "Ein Ort unscheinbarer Langeweile, unter dessen Boden sich die Geschichte eines nie endenden Grauens finden lässt, wenn Inga die Gebeine von 13 Zwangsarbeiter*innen ausbuddelt und anschließend die Überreste einer Person an dessen niederländischen Verwandte übergibt. Inga erkennt in diesem Moment, wie sehr sie sich vor dem Vergessenwerden fürchtet, während der Film parallel von einer im Boden versunkenen, aber nie verschwundenen deutschen Brutalität erzählt."

Außerdem: Thomas Ribi wirft für die NZZ einen Blick auf die Turbulenzen, die Ridley Scotts "Napoleon" (unsere Kritik) in Frankreich aufgewirbelt hat: Der Kritiker Romain Marsily etwa schrieb von einer "Schändung", während die Historiker die Hände über dem Kopf zusammenschlagen angesichts dessen, wie freimütig Scott mit der Historie umgeht, und das normale Publikum sich darüber ärgert, als was für ein "weinerliches, verklemmtes Muttersöhnchen" der große Feldherr dargestellt wird. Dunja Bialas verzweifelt auf Artechock über die Spaltungen, Vorwürfe und Zerwürfnisse, die sich im Zuge des Hamas-Angriffs auf Israel auch in der Filmszene beobachten lassen. Jenny Hoch spricht für die Welt mit Brigitte Hobmeier über die ARD-Mysteryserie "Schnee", in der die Schauspielerin die Hauptrolle spielt. Die Welt plaudert mit den Belton-Zwillingen, denen mit Anfang Zwanzig mit der Impro-Serie "Die Discounter" auf Anhieb ein Hit geglückt ist. Im Tagesspiegel empfiehlt Andreas Busche das Berliner Festival "Around the World in 14 Films", das einen Querschnitt aus den Programmen der großen Festivals dieses Jahres bietet. Fabian Tietke sitzt derweil für den Tagesspiegel in den Vorführungen der Filmreihe "Wir sind unsere Erinnerung" mit armenischem Kino, zu sehen im Berliner Sinema Transtopia.

Besprochen werden Denis Imberts "Auf dem Weg" (FAZ), Rubén Abruñas Dokumentarfilm "Holy Shit", der sich an einer Ehrenrettung der Scheiße versucht (ZeitOnline), Constantin Hatz' Dokumentarfilm "Störung" (taz) und eine Austellung im Musée Lumière in Lyon über die Anfänge des Kinos (FAZ). Und ein Mediatheken-Tipp: Arte hat derzeit Thomas von Steinaeckers Porträtfilm "Werner Herzog - Radikaler Träumer" im Online-Angebot.
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Kunst

Alex Rühle ist in der SZ froh, dass dem Werk Lotte Lasersteins die Ausstellung "A Divided Life" im Moderna Museet Stockholm gewidmet wird, wurde die Künstlerin als Jüdin doch doppelt vertrieben, aus Deutschland und aus der Kunstgeschichte. "Lasersteins Bilder aus den Weimarer Jahren sind durchpulst von einer enormen Kraft des Neuen, des weltstädtischen Aufbruchs. Insbesondere ihre Frauenbilder zeigen ein radikal gewandeltes Rollenverständnis, sei es in den großformatigen, androgynen Akten, die damals viel Aufsehen erregten, oder in Alltagsszenen wie der 'Tennisspielerin' oder 'Im Gasthaus', in denen Frauen so selbstbewusst wie selbstverständlich eigenes Terrain besetzen. Man würde sich nicht wundern, inmitten dieser Frauen Charlotte Ritter aus 'Babylon Berlin' zu entdecken." Die Emigration frisst eine Schneise in das Werk Lasersteins: Ihre "Mutter starb im KZ Ravensbrück, die Schwester überlebte in einem Versteck, aber hat sich nie mehr davon erholt. Laserstein selbst konnte sich mit Fleiß und Pragmatismus ein neues Leben aufbauen - allerdings zu einem hohen Preis: Um finanziell zu überleben, wurde sie zur Porträtmalerin der besseren Stände. Industrielle ließen den Nachwuchs porträtieren, das Resultat sind Bilder, die dem elterlichen Narzissmus schmeicheln, Stupsnäschen, Rehauge, niedlicher Fratz." Nicht nur deshalb eine so wichtige und lohnenswerte Ausstellung, weil sie den einschneidenden Schrecken der NS-Zeit für ein künstlerisches Leben so deutlich macht, so Rühle.

Von Franz Kafka inspirierte Kunst kann die ob der beklemmenden und wortwörtlich kafkaesken Exponate begeisterte FAZ-Kritikerin Brita Sachs in der Ausstellung "Kafka: 1924" in der Münchner Villa Stuck kennenlernen: "Sozusagen gnadenlos führt die Schau mit Tötungsapparaten in medias res, mit der grausigen Hinrichtungsmaschine aus der Erzählung 'In der Strafkolonie', die dem Verurteilten das übertretene Gebot mit einer Unzahl spitzer Nadeln immer tiefer bis zum Exitus in den nackten Körper schreibt. Der monströse Apparat, den die Kuratorenlegende Harald Szeemann nach Kafkas penibler Beschreibung 1975 für seine Ausstellung 'Junggesellenmaschinen' nachbauen ließ, steht jetzt in der Stuck-Villa und gleich nebenan die 'Killing Machine' von Janet Cardiff & George Bures Miller. Auf Knopfdruck beginnen Roboterarme zu schriller Musik und Discokugelblitzen ihren mörderischen Nadeltanz um einen Zahnarztstuhl mit Armfesseln." Sie fragt sich: "Ob er sich in allen Beiträgen dieser Schau wiedererkannt hätte? In Andreas Gurskys Fotografie 'Passkontrolle' jedenfalls, sie zeigt zwei bis auf die Gesichter der Beamten deckungsgleiche, abweisend wirkende Schalter, könnte er ein perfektes Label für bürokratische Absurditäten und Zwänge finden, die ihm, dem Versicherungsangestellten, bestens vertraut waren."

Weiteres: Der Fotograf Elliott Erwitt ist im Alter von 95 Jahren gestorben, meldet ZeitOnline. Endlich gibt es ein Werkverzeichnis des jüdischen Malers Ludwig Meidner, besorgt vom Jüdischen Museum, das seinen Nachlass verwaltet, freut sich die FAZ.

Besprochen werden: Ima-Abasi Okons Ausstellung "S.t.a.n.d.a.r.d. P.r.a.c.t.i.c.e" im Hamburger Kunstverein (taz) und der neue Sammlungsflügel des Düsseldorfer Kunstpalastes (mnp).
Archiv: Kunst

Literatur

Der Historiker und ehemalige Verleger Ernst Piper verlässt den erst vor kurzem gegründeten PEN Berlin wegen Eva Menasses und Susan Neimans Positionen zu Israel, meldet FAZ-Redakteur Andreas Platthaus: "Die selbstherrliche Verachtung, mit der beide über Israel sprechen, fand ich schon immer schwer zu ertragen", so Piper in einer Stellungnahme.

Derweil hat Eva Menasse sich in einer Stellungnahme des PEN Berlin schützend vor Sharon Dodua Otoo gestellt, der wegen einer früheren Unterschrift für eine BDS-Kampagne der Peter-Weiss-Preis doch nicht zugeteilt wurde - was die Autorin in einer bemerkenswert souveränen und diplomatischen Geste unterdessen ganz gut alleine gelöst hat (unser Resümee). Menasses PEN-Stellungnahme hingegen, die dafür plädiert, bei Preisvergaben zwischen der politischen Einstellung von Schriftstellern und deren Werk zu unterscheiden und hier insbesondere den Nobelpreis für Peter Handke als leuchtendes Beispiel anführt, kommt Gerrit Bartels vom Tagesspiegel an manchen Stellen "fast wie ein Witz" vor. "Viele Autoren und Autorinnen, erst recht Künstler und Künstlerinnen, verstehen sich als politisch, und damit auch ihre Bücher, ihre Kunst. Diese sind durchdrungen von ihrem Leben, ihren Überzeugungen. Viele Preise, die im Literaturbetrieb vergeben werden, sind nicht zuletzt gesellschaftspolitisch begründet, gemessen an der ästhetischen Konkurrenz. Man denke an die der Leipziger Buchmesse an Tomer Gardis Roman 'Eine runde Sache' oder Dinçer Güçyeters 'Unser Deutschlandmärchen', an den Deutschen Buchpreis für Kim de l'Horizons 'Blutbuch'. Alles gute Bücher, auch Autofiktion muss man können, nur halt nicht mehr so trennscharf, wie Menasse sich das vorstellt."

Außerdem: Martina Knoben erinnert in der SZ an den Comiczeichner Morris ("Lucky Luke"), der heute vor 100 Jahren geboren wurde. Die Agenturen melden, dass der griechischer Schriftsteller Vassilis Vassilikos gestorben ist. Sein Politthriller "Z" wurde von Costa-Gavras verfilmt. Besprochen werden unter anderem die virtuelle und interaktive Ausstellung "Library of Lost Books" des Leo-Baeck-Institute von Jerusalem und London (taz), Andreas Langers Kinderbuch "Schneekinder" (SZ) und Franziska Thun-Hohensteins Biografie über den Schriftsteller Warlam Schalamow (NZZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Musik

Shane MacGowan, Songwriter und Sänger der irischen Folkpunk-Band The Pogues, ist im Alter von 65 Jahren gestorben. Seine Songs "handeln vom Heim- und Fernweh, von Kriegen und Hungersnöten, von irischen Mythen und englischen Idioten, von der großen Sehnsucht und dem ewigen Suff", schreibt André Boße auf Zeit Online. MacGowans Band war "auf einem 'Kreuzzug', ihre heiteren Lieder waren ihm so heilig wie seine Identität als Ire", schreibt Michael Pilz in der Welt. "Die Pogues waren die Barden der Diaspora. ... Er selbst hielt seine inneren Widersprüche immer besser aus als alle, die mit ihm zu schaffen hatten. Als er Marx für sich entdeckte, machte ihm der vorgeschriebene Atheismus Angst, den er sich kurzzeitig verordnet hatte; er beschloss, wieder zu glauben, um im Tod bei seinen Angehörigen zu sein. Als junger Punk war er in London für sein Union-Jack-Sakko berühmt, das er als Ire täglich trug, um die britische Flagge zu entweihen, was er aber niemandem verriet. Und seine letzte Band, die Popes, mit der er im Talar auftrat, war Blasphemie und Religion zugleich."

MacGowans größte Balladen handeln von der irischen Diaspora in den Vereinigten Staaten, schreibt Jan Wiele in der FAZ, "darunter an erster Stelle 'Fairytale of New York', das am Weihnachtsabend in einer New Yorker Ausnüchterungszelle gesungene Schmerzenslied eines irischen 'poor boy, far from home'. Dieses dunkle Märchen hat Bezüge zu einem gleichnamigen Roman von J.P. Donleavy und wird, so antiweihnachtlich es zunächst wirken mag, doch noch von Trost und Hoffnung gerahmt - der Polizeichor singt 'Galway Bay'. Nicht zu vergessen ist allerdings auch der üble Streit darin, in dem sich das lyrische Ich und seine Freundin gegenseitig wüst beschimpfen. Die 'paddywhackery', also klischeehafte Darstellung von Iren als wüsten Trunkenbolden, hat MacGowan in seiner gesamten Erscheinung wohl wie kein zweiter irischer Sänger bis ins Letzte ausgekostet, auf die Spitze getrieben - und damit gleichzeitig auch kritisch hinterfragt." Weitere Nachrufe schreiben Samir H. Köck (Presse) und Christoph Wagner (NZZ).



Besprochen werden Kristina Schipplings Dokumentarfilm "The Sound of Cologne" über Stockhausen, Can und Co (taz) und das neue Album "i/o" von Peter Gabriel, das der Musiker bereits seit einem Jahr auf seinem Youtube-Kanal häppchenweise präsentiert und vorstellt ("die große Geste, das überschäumende Arrangement scheut Gabriel nicht", meint Tilman Spreckelsen in der FAZ). Hier das erste Stück, für dessen Video Gabriel sich mit KI-Künstlern zusammengetan hat:

Archiv: Musik
Stichwörter: Macgowan, Shane, Pogues, Irland