Efeu - Die Kulturrundschau

Wesen mit Besenfrisur

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19.10.2023. Die abgesagte Preisverleihung an Adania Shibli sorgt weiter für Wirbel. In der taz greift Julia Hubernagel die Verteidiger der Autorin an: Möglich, dass Shibli nicht mehr gar so krasse Anti-Israel-Positionen vertritt wie früher; aber warum schweigt sie jetzt? Martin Scorseses "Killers of the Flower Moon" begeistert die Kritiker durch Opulenz, Bildgewalt und Rassismuskritik. Nur der Tagesspiegel findet, der Film hätte etwas mehr Critical Race Theory vertragen. Außerdem trauert das Feuilleton um die Jazzmusikerin Carla Bley und den Architekturkritiker Wolfgang Pehnt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.10.2023 finden Sie hier

Literatur

Die Verteidiger von Adania Shibli machen es sich zu einfach, wenn sie die Vorwürfe gegen deren Roman "Eine Nebensache" mehr oder weniger wegwischen, wie dies in FAZ und Freitag geschehen ist (hier unser Überblick zur Debatte), findet Julia Hubernagel in der taz. Der Roman sei keineswegs so eindeutig frei von antisemitischen Motiven. Auch das BDS-Engagement der Autorin sei dann doch nicht so marginal, wie oft dargestellt - und ein von ihr auf Arabisch verfasster Zeitungsartikel sei in seinem zornigen Raunen zumindest erklärungsbedürftig. "Einige dieser die BDS-Nähe der Autorin belegenden Schriftstücke sind mehrere Jahre alt. Shibli, die schon ihren Journalismus-Abschluss mit der Arbeit 'Discourse, power, and media coverage of the killing of Palestinian children by the Israeli Army' erlangte, könnte ihre Meinung geändert haben, heute gemäßigtere Positionen vertreten. Doch warum äußert sie sich dann nicht? Wie der Berenberg Verlag verlauten lässt, habe Shibli die Preisverleihung nutzen wollen, 'um über Literatur in diesen entsetzlichen und schmerzhaften Zeiten zu sprechen.' Ob das Worte des Mitgefühls gegenüber den jüngst von der Hamas getöteten Israelis einschließen würde, ist nicht bekannt."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Olexander Mykhed hegt in der NZZ Zweifel an der russischen Vereinnahmung des ukrainischen Schriftstellers Nikolai Gogol. Aron Boks schreibt taz-Tagebuch von der Frankfurter Buchmesse. Besprochen werden unter anderem Viktor Jerofejews "Der Große Gopnik" (Welt), Jan Peter Bremers "Nachhausekommen" (FR), Benjamín Labatut "Maniac" (ZeitOnline), Saba Sams' "Send Nudes" (Welt), die von Julian Voloj herausgegebene Comicanthologie "Clayton. Der Pate der Lower East Side" (Jungle World), Daniel Kehlmanns "Lichtspiel" (NZZ) und eine Neuauflage von Maria Kuncewiczowas polnischem Roman "Zwei Monde" aus dem Jahr 1933 (FAZ). Außerdem sammelt Dlf Kultur hier die PDFs und Audios seiner Buchrezensionen des laufenden Monats.
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Musik

Die Musikkritiker trauern um die Jazzpianistin und -komponistin Carla Bley. Thomas Steinfeld verabschiedet sich in der SZ von "einer Komponistin, in deren Werken sich ein außerordentlicher Sinn für das Schöne mit einer großen Freude am Absurden verbanden, einer souveränen Pianistin mit einem Faible für den schrägen, aber dann doch souverän passenden Akkord, und einer beeindruckenden Frau, der man mit Vergnügen zusah, wenn sie, ein schmales, schwarz gekleidetes Wesen mit einer Besenfrisur, sich über die Tastatur eines Flügels beugte, um aus einem leicht verzögerten Spinnengriff ein kleines Wunderwerk hervorzuzaubern." Und mit den Lost Chords nahm sie 2007 gemeinsam mit dem Trompeter Paolo Fresu gar "eines der schönsten Jazz-Alben der vergangenen Jahrzehnte". Wir hören rein:



"Jeder Klang, den sie in einer Partitur oder auf einem Blatt Papier festhielt, jede Soundskulptur, die sie auslöste, und jedes Head-Arrangement, das sie in andere Köpfe eindringen ließ, war mit einem unmissverständlichen Hinweis versehen: Hier gilt nicht der klingende Ton", schreibt Wolfgang Sandner in der FAZ. "Was bei Carla Bley zählte, waren die Untertöne und Zwischentöne, vielleicht auch die gar nicht gespielten, aber eigentlich gemeinten Töne. Die Essenz ihrer Kunst lag im Gestus, was - Bertolt Brecht hat uns das beigebracht - nichts mit Gestikulieren, vielmehr mit einer Haltung zu tun hat. ... Groß war sie als Anregerin, als Muse, Katalysator, Ideengeber, als Resonanzboden und Verstärker, auch im Verweigern - von Virtuosität, fetischisierter Technik, perfektem Handwerk, Konvention und falschem Pathos."

Weitere Artikel: Eleonore Büning spricht für die NZZ mit Lydia Rilling und deren Programm als neue Leiterin der Donaueschinger Musiktage. Außerdem verabschiedet sich Büning in VAN von Franz Xaver Ohnesorg, der sich als künstlerischer Leiter des Klavier-Festival Ruhrs zurückzieht. Robert Mießner resümiert in der taz das Berliner Festival "Tehran Contemporary Sound". Irene Suchy porträtiert für VAN den Bratischisten Hatto Beyerle. Nadine Schildhauer schreibt auf ZeitOnline zum Ende des Labels PC Music, das den Pop der letzten zehn Jahre maßgeblich geprägt hat. Arno Lücker vergleicht für VAN unterschiedliche Interpretationen des Violinkonzerts von Jean Sibelius.

Besprochen werden eine Ausstellung im Minsk in Potsdam über Louis Armstrongs DDR-Tour im Jahr 1965 (FAZ), ein Konzert des Rappers Disarstar (taz) und das neue Album der Rolling Stones (Zeit, NZZ).
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Kunst

Ingar Krauss, Ohne Titel. Aus der Serie "Holz", Schwarzwald 2018. © Ingar Krauss


Angeregt flaniert Gunda Bartels für den Tagesspiegel durch die Ausstellung "Grünzeug - Pflanzen in der Fotografie der Gegenwart" in der Berlinischen Galerie, die sechs Künstlern gewidmet ist, die im Bereich Naturfotografie arbeiten. Die Bilder ziehen einen in den Bann, freut sich Bartels, und lustig sind sie oft obendrein. Über Falk Haberkorns Foto 'Schonung #2' schreibt sie zum Beispiel: "Es stammt von 2003 und zeigt eine Kiefernmonokultur in silbrigem Schwarzweiß. Baumplantagen wie diese sind geheimnislos, in ihrer Monotonie ein Symbol der vom Menschen nach Profitkriterien gestalteten Natur. Der dunkle Tann der deutschen Romantik, die den Wald zu einem Topos der Märchen und Mythen adelte, scheint in solchen Schonungen ebenso weit entfernt wie Rotkäppchen und der böse Wolf. Nicht so bei Haberkorn, wo zwischen staksigen Stämmen mit rauer Borke Myriaden aufeinandergetürmter Nadeln auf dem Waldboden ruhen, und sich zwischen den Bäumen ein Pfad auftut, der ins Schwarz des Bildhintergrunds führt. Dieser fotorealistische und trotzdem verrätselte Wald ist eine Lockung und eine Warnung zugleich."

Non-Fungible Tokens, kurz NFTs waren noch vor zwei Jahren der große Hype der Kunstbranche, erinnert uns Caroline Schluge im Standard, manche Digitalkünstler setzten zweistellige Millionensummen mit einzelnen Werken um und auch viele große Kunstinstitutionen sprangen auf den Zug auf. Momentan freilich herrscht Flaute auf dem Markt: "Ende September ging ein Raunen durch die Kunst- und Kryptowelt - eine Studie von Dapp Gambl, einer Gemeinschaft von Blockchain-Experten, sah knapp 95 Prozent der NFT-Sammlungen als wertlos an. In Zahlen bedeutete das: Exakt 69.795 der insgesamt 73.257 Sammlungen, die der Verband analysierte, haben mittlerweile eine Marktkapitalisierung von null Ether beziehungsweise null Euro erreicht. Rund 23 Millionen Menschen bleiben der Studie zufolge auf nunmehr wertlosen Investments sitzen." Die digitalen Klimt-Schnipsel, die das Wiener Belvedere nach wie vor für 1850 Euro (pro Schnipsel) anbietet, sind auf Webbörsen keine 40 Cent mehr wert.

Weitere Artikel: Die Kyiv-Biennale kann aufgrund des russischen Angriffskriegs nicht komplett in der Ukraine stattfinden und reist nun durch mehrere europäischen Städte. Im Standard bespricht Katharina Rustler die Wiener Station der Schau, die im Augarten Contemporary gezeigt wird. Das British Museum hat 350 gestohlene Werke der Schmuck- und Glaskunst wiedererlangt, weiß Zeit Online. Für Monopol unterhält sich Clara Westerndorff mit der Kuratorin Julia Meer über Diversity in der Museumswelt und feministische Kunst.

Besprochen werden die Ausstellung "Grete Ring. Kunsthändlerin der Moderne" in der Berliner Liebermann Villa (taz Berlin) und die der Verbindung von Mode und Kunst gewidmetete Schau "Between Sky and Heart" in den Florenzer Uffizien (Monopol)
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Film

Rassismus, kolonialistische Ausbeutung, Kapitalismus und Genozid: "Killers of the Flower Moon" greift nach großen Themen

Mit "Killers of the Flower Moon", einem im frühen 20. Jahrhundert angesiedelten Film über die historischen Osage-Morde in der indigenen Bevölkerung der USA, kehrt Martin Scorsese zurück zu "jenen düsteren Sagen über Geld, Gier, Macht und Mord in verschiedenen Epochen des zwanzigsten Jahrhundert, die Scorsese in den letzten drei Jahrzehnten immer wieder erzählt hat", schreibt ein begeisterter Nicolai Bühnemann im Perlentaucher. "Mal waren diese Epen im Milieu des organisierten Verbrechens angesiedelt, mal anderswo, etwa in der New Yorker Finanzwelt. In den gut geölten Bildermaschinen wie 'Casino' oder 'The Wolf of Wall Street' hatte der stilistische Exzess seinen Ort allerdings in erster Linie in der Montage; in 'Killers of the Flower Moon' hingegen beeindrucken vor allem die Opulenz und Bildgewalt der zumeist langen und statischen, genau komponierten Einstellungen. Was hier Ausdruck findet, ist die Gewalt der Landnahme."

Großes Schauspieler-, großes Regiekino sah FR-Kritiker Daniel Kothenschulte: Newcomerin Lily Gladstone brilliert durch ihre "feinste Darstellung" und erstmals treffen die beiden Scorsese-Standards Robert de Niro und Leonardo DiCaprio bei ihrem Hauptregisseur vor der Kamera aufeinander. Goldstone und DiCaprio geben derweil ein unwahrscheinliches Paar: "Man hat ihn noch nie so unaufdringlich spielen sehen. Mit heruntergezogenen Mundwinkeln verkörpert er das verbissene Bemühen, das Falsche richtig zu machen. Es ist eine der ungewöhnlichsten Paarbeziehungen der Filmgeschichte - doch die feine Ironie, die sie verströmt, passt nicht unbedingt zur Schwere der Ereignisse um sie herum, dem Sterben all der Unschuldigen. Scorsese inszeniert es mitunter verstörend-teilnahmslos. Wie kann es sein, dass die Menschen so viele Tote betrauern, aber nichts unternehmen, die Morde aufzuklären? Doch gerade damit entwickelt der Film erst seine ganze Perspektive, die diese lange unerzählte Tragödie in der Geschichte von Rassismus und kolonialistischer Ausbeutung verortet."

Enttäuscht zeigt sich Andreas Busche im Tagesspiegel: "Irgendwo in 'Killers of the Flower Moon' steckt ein düsterer Kommentar zum amerikanischen Kapitalismus. Scorsese verliert sich in dreieinhalb Stunden aber in vielen Nebensträngen". Auch verliere der Regisseur im Laufe seiner dreieinhalb Stunden Spielzeit "zunehmend das Interesse an der Perspektive der Osage. ... Nie scheint Scorsese zu realisieren, dass er in 'Killers of the Flower Moon' den Inbegriff von weißer Suprematie beschreibt." Denn "Würde Scorsese verstehen, worum es bei den 'Osage-Morden' tatsächlich ging, würde er sich mehr auf den Zusammenhang von Genozid und Kapitalismus konzentrieren. Dieses Versäumnis ist besonders ärgerlich, da in Amerika seit einigen Jahren ein erbitterter Streit um das Thema 'Critical Race Theory', die historische Schuld des weißen Amerikas, entbrannt ist." Weitere Kritiken in Welt und SZ.

Besprochen werden Margarethe von Trottas "Ingeborg Bachmann - Die Reise in die Wüste" (FR), Richard Hubers "Ein Fest fürs Leben" (SZ) und Wim Wenders' 3D-Porträtfilm "Anselm - Das Rauschen der Zeit" über Anselm Kiefer (NZZ, mehr dazu bereits hier). Außerdem bietet der Filmdienst einen Überblick mit seinen Kritiken zur aktuellen Kinowoche.
Archiv: Film

Architektur

Wolfgang Pehnt. Foto: Maltheheesen, Lizenz: CC BY-SA 4.0 Deed, Quelle: Wikipedia


Die Feuilletons würdigen den im Alter von 92 Jahren verstorbenen Architekturkritiker Wolfgang Pehnt. Peter Richter erinnert in der SZ an einen wachen Geist, der mit Labeln wie Modernismus oder Konservativismus nie hinreichend zu fassen war. Schon das von Wolfgang Meisenheimer erbaute Kölner Haus, in dem er lange Jahre lang lebte, sagt viel aus über den Mann: "Von außen wirkte es abstrakt und fast verschlossen, dieses Haus, ein Gefüge schwarzer und weißer Wandflächen unterschiedlicher geometrischer Formen. Innen dann Öffnung zu behaglich dimensionierter Weite, darin der Gelehrte mit seiner beträchtlichen Bibliothek. Es war schwer, nicht an 'Hieronymus im Gehäus' zu denken, und bestimmt hatte Pehnt auch über diesen sehr architektonischen Bildtopos irgendwann und irgendwo einmal etwas geschrieben."

In der FAZ schwärmt Falk Jaeger: "Die sinnlichen Qualitäten und die Eindrucksfülle realer Architektur, die Sicherheit und Geborgenheit, die sie zu geben vermag, die Potentiale der Gehäuse für die Organisation eines selbstbestimmten Lebens waren ihm in seiner Architekturkritik Richtschnur und Motivation. Dabei leitete ihn ein feines Sensorium für die wahren Werte und Motive." Postmodernen und historizistischen Modetrends hingegen fanden selten die Zustimmung des Kritikers, der sich zeitlebens "nach jener Moderne, die humane Lebenswelten zur Verfügung stellt", sehnte. Im Tagesspiegel verfasst Nicola Kuhn einen Nachruf.

Weitere Artikel: Ein kostenmäßig aus dem Ruder laufender Gefängnisbau in Zwickau sorgt für Ärger, weiß Gerhard Matzig in der SZ. Im Tagesspiegel bespricht Helga Meister die Postmoderne-Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle (unser Resümee).
Archiv: Architektur

Bühne

Michael Wolf denkt im Tagesspiegel anlässlich eines Essays des Schweizer Theatermachers Milo Rau über dessen Konzept politischer Kunstpraxis nach. Rau gehe es in seinen Arbeiten um Schnittpunkte von Realität und Inszenierung, wobei er gelegentlich, etwa in "Das Kongo-Tribunal" oder dem Film "Das Neue Evangelium", die Nähe zu zweifelhaften Kollaborateuren sucht. "Arbeiten wie diese riefen regelmäßig Kritik hervor. Ist das nicht nur ein neuer Kolonialismus, der ferne Tragödien ästhetisch ausschlachtet? Werden die Opfer hier nicht vorgeführt? Was weiß dieser wohlbehütete Schweizer überhaupt von all den Orten, an denen er mit seinem Team aufschlägt, von den Landlosen in Brasilien, den Kriegsopfern in Mossul, von den russischen Dissidenten? Oder grundsätzlich gefragt: Darf er das? Nein, natürlich nicht. Und das weiß er auch selbst, genau deshalb tut er es. Er versucht die Widersprüche der Gegenwart sichtbar zu machen, in dem er sich in sie verstrickt, auch indem er Schuld auf sich lädt."

Weitere Artikel: In der Zeit parliert Christine Lemke-Matwey mit der Opernsängerin Waltraud Meier. In der FAZ bespricht Irene Bazinger zwei Aufführungen am Schauspielhaus Hamburg: Karin Beiers "Anthropolis"-Inszenierung und Christoph Marthalers Emily-Dickinson-Abend "Im Namen der Brise".
Archiv: Bühne