Efeu - Die Kulturrundschau

Außertextuelle Fiktionalitätssignale

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26.08.2023. Die Berliner Zeitung stellt die Künstlerin Olga Mezenceva und ihre farbstarke "Outsider-Kunst" vor. Monopol fragt sich, wie die Medien schon wieder so auf Trump hereinfallen konnten. Nicola Bardola sichtet für die FAZ den Briefwechsel Ingeborg Bachmanns mit Hermann Kesten. Die SZ hört den Tod in Kaija Saariahos letztes Komposition, "Hush". Außerdem fragen sich die Musikkritiker, ob die Karriere Sir John Eliot Gardiners mit einer Ohrfeige endet.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.08.2023 finden Sie hier

Kunst

Olga Mezenceva, O.T., 2021, Ölkreide, Fineliner, Buntstift, Filzstift auf Papier. Foto: Galerie Art Cru


In der Berliner Zeitung stellt Irmgard Berner die Künstlerin Olga Mezenceva vor. "Outsider-Kunst" nennt man, was sie macht, weil Mezenceva seit ihrer Geburt geistig behindert ist. Wie man es auch nennt, für Berner ist es vor allem Kunst, wie man derzeit in der Galerie Art Cru in Berlin sehen kann: "Ihre Schöpfungen: farbstarke Arbeiten mit sich biegenden, quetschenden und sich selbst behauptenden Formationen. In konzentrierter, ausdauernder Arbeit vollzieht sie eine Art kreisenden Gebärvorgang, einem Kreißen gleich und aus dem Unbewussten hervorgeholt. Mit Ölpastellkreiden, Edding, Filz- und manchmal Bleistift. Denn während des Zeichnens und Malens dreht Mezenceva das Blatt, nimmt es quer, hochkant, stellt es auf den Kopf. Ihr Malen ist ein Denken und Handeln in räumlich-haptischen Vorgängen, die unmittelbar eine visuelle Welt erschaffen. Der Stimulus der Farbe, die Griffigkeit der Ölkreide auf dem Papier. Kunst ist ihre Sprache."

Weiteres: In der FAZ freut sich Christoph Schmälzl, dass eine verschwundene Alexander-Büste des Winckelmann-Museums wiederaufgetaucht ist und an Griechenland restituiert wurde. Andreas Platthaus ärgert sich über eine großplakatierte Frauenbüste im Kunsthistorischen Museum Wien, die Petrarcas geliebte Laura darstellen soll, was Platthaus für Unfug hält. Besprochen wird eine Ausstellung des Künstlerpaars Etel Adnan und Simone Fattal im Kindl Zentrum für zeitgenössische Kunst in Berlin (FAZ).
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Film

Der Doppelstreik in Hollywood, dessentwegen sich nun auch beim Filmfestival Venedig keine großen Stars in den Blitzlichtern der Presse sonnen werden, hat vielleicht auch sein Gutes, verrät Berlinale-Leiter Carlo Chatrian dem Tagesspiegel: Vielleicht könnte dies "zu einer weniger polarisierten Filmlandschaft führen, in der auch Independent-Filme ohne Stars im Rampenlicht stehen können. Vielleicht wird dies Journalist*innen erleichtern, auch in andere Richtungen zu blicken und weniger bekannten Stimmen Raum zu geben."

Im taz-Gespräch freut sich die Pornoproduzentin und -darstellerin Paulita Pappel, dass sich der Umgang mit Pornografie in den vergangenen Jahren deutlich differenziert hat. Auch könnte die Mainstream-Filmbranche von der Pornobranche einiges lernen, meint sie: "Das glaubt immer keiner, aber die Filmbranche erlebe ich als viel sexistischer als die Porno-Industrie. Meine ersten Jobs als Intimitätskoordinatorin habe ich unter meinem Porno-Pseudonym Paulita Pappel gemacht und da wurde ich im Team absolut nicht ernst genommen, teilweise sogar richtig gemobbt. ... Gerade weil Sexualität in der Pornobranche im Zentrum von allem steht, wird sehr bewusst kommuniziert und auch über die Kommunikation selbst gesprochen. In der Filmbranche sind es die meisten Menschen nicht gewohnt, über Sexualität in einem professionellen Kontext zu sprechen. Außerdem sind die Machtgefälle größer." Zum Thema Pornografie hat sie mit "Pornopositiv" auch gerade ein Buch geschrieben.

Weitere Artikel: Die um Bradley Coopers Nasenprothese im Bernstein-Biopic "Maestro" geführte Debatte um "Jewfacing" hat durchaus ihre Berechtigung, weist Valerie Dirk im Standard hin. Maria Wiesner gratuliert der Schauspielerin Tuesday Weld in der FAZ zum 80. Geburtstag. Besprochen werden Jenna Hasses Coming-of-Age-Film "Sehnsucht nach der Welt" (Tsp), Flo Lackners Thrillerkomödie ""Operation White Christmas" (Standard), die zweite Staffel von "The Bear" (Presse) und die neue "Star Wars"-Serie "Ahsoka" (Zeit).
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Bühne

Julia Hubernagel unterhält sich für die taz mit dem taiwanesischen Dramaturgen Yi-Wei Keng, der Ende August in Weimar mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet wird, über Hongkong, China, Taiwan und die Rolle des Theaters. Einer militärischen Übernahme Taiwans durch China sähe er mit Schrecken entgegen: "Wir sehen es an Hongkong. Hongkong ist Taiwans Spiegel. Komplette Gleichschaltung. Doch die Situation wäre noch ernster. In Hongkong wurde die Macht friedlich an China übergeben. Taiwan hat jedoch ein eigenes Militär. Uns würde eher eine Situation erwarten, wie wir sie gerade in der Ukraine erleben." Umso mehr liebte er seine Arbeit als Leiter des Taipei Arts Festivals, das Taiwan mit der internationalen Kunstszene verbindet: "Einmal haben die Tanzensembles der indigen Bevölkerung Taiwans und Neuseelands ein Stück zusammen entwickelt. Wussten Sie, dass die Maori entfernt mit indigenen Stämmen Taiwans verwandt sind?"

Weiteres: In der FR erinnert Arno Widmann an die Uraufführung der von Häftlingen verfassten "Moorsoldaten" im Konzentrationslagers Börgermoor bei Papenburg 1933. Besprochen werden "Good Sex", das einem Intimitätskoordinator bei der Arbeit zuschaut, von Dead Centre beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg (nachtkritik) und eine Ausstellung über die Tänzerin Anita Berber im Photoinstitut Bonartes (Standard).
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Literatur

Der Schriftsteller Nicola Bardola sichtet für "Bilder und Zeiten" der FAZ die Korrespondenz zwischen Ingeborg Bachmann und Hermann Kesten. Diese ist schmal, bei weitem nicht so literarisch wie der vor kurzem für Aufsehen sorgende Briefwechsel zwischen Max Frisch und der Schriftstellerin und wohl auch deshalb von Bachmann-Biografen bislang nicht gewürdigt, geschweige denn kaum einmal erwähnt worden: "Übersehen hat die Literaturgeschichte damit eine enge Beziehung, die viele neue Einblicke in das Leben Ingeborg Bachmanns erlauben." Bachmann gestehe gegenüber Kesten mitunter "sprachliche Unsicherheiten ein, die sie andernorts zu verbergen weiß. In der Intimität der Korrespondenz berichtet sie auch von den Schwierigkeiten bei der Titelsuche für ihr letztes, heute bekanntestes Hörspiel. Am 3. September 1957 schreibt sie von Rom aus: 'Ich war fleißig in den letzten Tagen, und das Hörspiel wird endlich fertig, von dem ich seit drei Jahren rede. Titel habe ich noch immer keinen, und am Ende wird es zu meiner Verzweiflung doch Manhattan-Ballade heißen, obwohl wir doch alle sehr dagegen waren.' Gemeinhin heißt es, 'Der gute Gott von Manhattan', diese kapitalismuskritische Schilderung einer ekstatischen Liebe, sei erst 1957 entstanden. Hier wird deutlich, dass Ingeborg Bachmann bereits 1954 mit dem Werk begonnen hatte."

Der verteidigende Verweis auf den literarischen Charakter von Valentin Moritz' Beitrag zu der Anthologie "Oh Boy", in dem Moritz über sein übergriffiges Verhalten nachdenkt (weshalb der Verlag den Text nach Protest der betroffenen Frau mittlerweile aus dem Angebot genommen hat), verfängt nicht, findet Simon Sahner in der taz: "Der Veröffentlichungskontext gibt keinen Anlass, an der Faktualität des Beitrags zu zweifeln." Doch "selbst wenn der Kontext auf Fiktionalität hinweisen würde, wäre das hier nicht ausreichend. Es genügt nicht, einen Text mit außertextuellen Fiktionalitätssignalen zu umgeben, um jede konkrete Verbindung zur Realität abzuschalten. Fiktion, die sich auf konkrete Realität bezieht, muss damit rechnen, von dieser Realität eingeholt zu werden."

Weitere Artikel: In der FAZ würdigt Gina Arzdorf die Schriftstellerin Barbara Honigmann, die mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt ausgezeichnet wird. Elena Lynch spricht für das ZeitMagazin mit dem Schriftsteller Jostein Gaarder, der heute nicht glauben kann, dass er in seinem Bestseller "Sofies Welt" ausgerechnet den Klimawandel ausgespart hat: "Wie konnte mir die drängendste philosophische Frage unserer Zeit entgehen?" Paul Jandl erzählt in der NZZ von seiner Reise nach Weimar auf Goethes Spuren. "Bilder und Zeiten" der FAZ dokumentiert den ökologisch sehr bewegten Beitrag des Lyrikers David Harsent zur Reihe 'Open Letter to Europe' des slowenischen Literaturfestivals 'Days of Poetry and Wine'. Für die FAZ besucht Sandra Kegel die Schreibkurse von Bodo und Ulrike Kirchhoff. Andreas Kilb bereist für die FAZ mit Texten des antiken Reiseschriftstellers Pausanias Griechenland. Dlf Kultur bringt eine "Lange Nacht" von Eva Pfister über George Orwell.

Besprochen werden unter anderem Özge İnans "Natürlich kann man hier nicht leben" (taz), eine von Artur Becker übersetzte Neuauflage von Tadeusz Borowskis Erzählband "Willkommen in Auschwitz" (NZZ), Raphael Thelens "Wut" (FR), Teresa Ciabattis "Die schönen Jahre" (taz), Mark Aldanows "Der Anfang vom Ende" (FR), Natalja Kljutscharjowas "Tagebuch vom Ende der Welt" (taz), Tobias Rüthers Biografie über Wolfgang Herrndorf (SZ), Deborah Feldmans autobiografisches Buch "Judenfetisch" (SZ) und Valery Tscheplanowas "Das Pferd im Brunnen" (FAZ).
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Musik

Beim Helsinki Festival hat die Dirigentin Susanna Mälkki mit dem Finnischen Radio-Symphonieorchester Kaija Saariahos letzte Komposition, "Hush", uraufgeführt. Die vor wenigen Wochen ihrer Tumorerkrankung erlegene Komponistin schrieb das Werk im Wissen um ihren baldigen Tod. Das "unorganische Pochen" im dritten Satz lässt SZ-Kritiker Michael Stallknecht schaudern: "Wer einmal in einem Kernspintomografen lag, kennt das Geräusch wie das Gefühl, bei lebendigem Leib eingesargt zu werden. Danach brechen sich die Gefühle Bahn, die Saariaho, lange noch im Rollstuhl präsent, sonst vor der Öffentlichkeit verbarg: In einer freien Kadenz stößt der Solotrompeter unterdrückte Schreie in sein Instrument." Der vierte Satz "kehrt eher wieder in die Flächigkeit des Beginns zurück. ... Das persönliche Moment drängt sich also letztlich nicht in den Vordergrund: Wie alle bedeutende Musik ließe sich auch 'Hush' ohne den biografischen Kontext, sogar ohne Saariahos persönlichen Begleittext in der Partitur verstehen." Auf Facebook gibt es einen kleinen Eindruck des Werks.

Es sollte eine große Berlioz-Tour durch die größten Spielstätte Europas werden. Doch hat Sir John Eliot Gardiner beim Auftakt am Dienstagabend in La Côte-Saint-André den Sänger William Thomas nach der konzertanten Operaufführung hinter der Bühne geohrfeigt. Er habe "die Nerven verloren", hat der Dirigent mittlerweile verlauten lassen, jede Schuld eingeräumt, um Entschuldigung gebeten und alle Termine in den nächsten Wochen abgesagt. Auch weil der Anlass nichtiger als nichtig war (Thomas hatte die Bühne auf der falschen Seite verlassen) ist Manuel Brug in der Welt entsetzt und kann sich nicht vorstellen, dass Gardiners Karriere nach diesem Eklat wieder auf die Beine kommt. "'Ist halt vorbei.' So schnell kann es gehen. Ob John Eliot Gardiner, der gewiss kein Straussianer ist, die lebenskluge wie messerscharf kurze Sentenz der 'Rosenkavalier'-Marschallin geläufig ist? Jetzt wird er wohl auf seiner Ökofarm in West Dorset sitzen und sich fragen, was aus dem reputierlichen Sir geworden ist, eben 80 Jahre alt geworden, der vor kurzem vor einem Milliarden-TV-Publikum die Krönungsfeierlichkeiten seines alten Freundes Charles III. musikalisch einläuten durfte." Auch Standard-Kritiker Ljubisa Tosic lässt es "letztlich ratlos zurück", wie der "nicht unbedingt als kompromissbereit geltende, hitzige Dirigent" hier "inakzeptabel aus seiner Machtrolle fiel".

Bei aller Abscheu vor dem Übergriff kann dieser Eklat die Klassikwelt nicht überraschen, meint Egbert Tholl in der SZ: Gardiners "Ensembles, die alle mit Solistinnen und Solisten besetzt sind, zählen zu den besten der Welt, doch kursieren auch Berichte von Sängerinnen, die unter Tränen Proben mit ihm verließen." Jan Brachmann ergänzt in der FAZ: "Auch wenn man nun wieder hört, dass Gardiner seit je zu Wutausbrüchen geneigt habe, so ist doch erstens sein Verhalten (weil man von Gardiners Ideen in den Ensembles wie in multinationalen Kreisen profitierte) lange geduldet worden und zweitens seine Entschuldigung einsichtig, weil Gardiner weiß, was er Thomas angetan hat und dass die Zeit einer Akzeptanz für solch ein Verhalten abgelaufen ist. Thomas und Gardiner müssen nun gemeinsam einen Weg finden, sich wieder respektvoll begegnen zu können. Gelingt dies nicht, wird Gardiners Karriere zu Ende sein."

Weiteres: Robert Mießner freut sich in der taz auf diverse Festivals für experimentelle Musik in diesem Herbst. Vor 90 Jahren enstand im Konzentrationslager Börgermoor das Häftlingslied "Die Moorsoldaten", erinnert Arno Widmann in der FR. In der SZ gratuliert Wolfgang Schreiber dem Pianisten und Dirigenten Wolfgang Sawallisch zum 100. Geburtstag. Besprochen wird Bombinos Album "Sahel" (taz).
Archiv: Musik